Voyeurismus – in der Antike und heute
Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland
„Ein Voyeur
hat es heutzutage nicht schwer
sich unbekleidete Frauen anzusehen
dazu muss er nur – ganz einfach – ins Internet gehen!“
Das war in der Antike natürlich ganz anders.
Dass ein zunächst zögernder Untergebener, sein Lanzenträger, der sich vom stolzen Ehemann dazu überreden lässt, heimlich einen voyeuristischen Blick auf die sich ausziehende und dann nackte Gattin zu werfen, davon letztendlich profitiert, ganz im Gegensatz zum Ehemann, davon handelt die Novelle, die der griechische Dichter Herodot vor mehr als 2400 Jahren aufgeschrieben hat.
Herodot von Halikarnassos in Karien (Südwest-Kleinasien) lebte etwa von 484 bis 425 v.u.Z. und wurde von Cicero als der „Vater der Geschichtsschreibung“
(lat. pater historiae) bezeichnet und ist Autor zahlloser Geschichten.
Es ist die Geschichte von Kandaules, dem Ehemann und Herren von Sardes, und Gyges, des Daktylos Sohn. Die Namen sind keine Erfindung Herodots.
Gyges war ein historisch belegter, sagenumwobener König des kleinasiatischen Lydien und regierte vermutlich von 680 bis 644 v.u.Z.
Die Geschichte seiner Machtergreifung ist mythenhaft und hat mehrere Varianten. Etwa die von Platon, bei der Gyges mit Hilfe eines magischen Rings, der ihn unsichtbar werden lassen kann, vom einfachen Hirten zum lydischen König aufsteigen lässt.
Die Erzählung von Herodot ist eine weitere von 3 klassischen Darstellungen. Bei ihm und bei Xanthos, einem lydischen Geschichtsschreiber aus dem 5. Jahrhundert v.u.Z., geht es vor allem um eine Frau und um Mord, wenn auch die Erzählungen sehr unterschiedlich beginnen, am Ende wird Gyges König.
Beide Geschichten handeln von jeweils einem anderen König, der von Gyges im Verlauf getötet wird, bei Xanthos um Adyattes, bei dem er als Leibwächter diente; bei Herodot um Kandaules. Xanthos nennt den Namen der Frau, die später Gyges’ Gattin wird, es ist Tudo, Tochter des Königs Arnossos. Bei Herodot wird der Name der Frau nicht genannt. Adyattes wirbt noch um die Prinzessin, Kandaules ist bereits verheiratet.
Voyeurismus findet sich nur in Herodots Erzählung. Der Anblick einer unbekleideten Frau (im Gegensatz zu Männern der Antike) ist nichts Alltägliches, deshalb wehrt sich Gyges zunächst vehement gegen das Ansinnen des Königs, er soll die Königin von ihr unbemerkt beim Ablegen ihrer Kleider beobachten, mit den Worten:
„Herr, was sprichst du da für ein unvernünftiges Wort! Ich soll meine Herrin nackt sehen? Mit dem Kleid legt die Frau auch die Scham ab. Schon längst haben die Menschen herausgefunden, was sich ziemt; daraus soll man lernen. Darunter ist auch dies ein Gebot: dass ein jeder nur schaue, was sein ist. Ich glaube ja, dass sie die schönste aller Frauen ist, und bitte dich, nichts Unrechtes von mir zu verlangen.“
Der König aber lässt nicht ab von seiner Idee und bedrängt ihn so lange, bis Gyges zustimmt, die Königin versteckt hinter einer Tür dabei zu beschauen,
„wenn sie sich auszieht, Stück für Stück ihre Kleider auf einen Stuhl legt.“
Damit nimmt die Tragödie ihren Lauf, denn die Königin sieht, wie Gyges sich anschliessend entfernt. Zunächst verhält sie sich ruhig, wird ihr doch sofort klar, dass ihr Mann das eingefädelt hatte. Aber sie sinnt auf Rache.
Denn sie hat als Königin Macht über ihre Untertanen. Sie lässt Gyges kommen und stellt ihn vor die Wahl:
„Entweder tötest du Kandaules und dann sollst du mich und das Königreich der Lyder besitzen, oder du musst auf der Stelle selbst den Tod erleiden, damit du künftig nicht Kandaules in allem gefällig bist und siehst, was du nicht sehen sollst. Entweder er muss sterben, der sich das ausgedacht hat, oder du, der mich nackt gesehen und getan hat, was sich nicht ziemt.“
Es ist klar, welche Alternative Gyges gewählt hat: Im Schlafzimmer, als Kandaules schläft, ersticht er ihn und erhält so die Frau und das Königreich.
So weit die Geschichte. Im modernen Internet finden sich (unter anderen pornographischen) zahllose Fotos und Videos sich auskleidender oder bereits nackter Frauen im Bett liegend oder unter der Dusche, die angeblich von ihr unbemerkt vom Ehemann oder Freund gefilmt oder fotografiert worden sind. Das Einstellen des Bildmaterials ins Internet ist ein schwerer Verstoss gegen die Würde der Frau, sollte sie damit nicht einverstanden sein. Schliesslich wird dadurch das Schamgefühl der Frau verletzt, wenn ihr Körper von Menschen in aller Welt betrachtet werden kann.
Die Möglichkeiten der Frau sind begrenzt, sie kann das Entfernen des Bildmaterials verlangen, was vermutlich nur schwer durchzusetzen ist.
Sie kann sich vom Ehemann oder Freund trennen. Die Möglichkeit, die sich der Königin in Herodots Novelle bot, ist zwar auch eine Option, aber sie würde nicht zu Ruhm und Ansehen führen, sondern eher in den Gerichtssaal und ins Gefängnis.
Und was sollte das bringen: Es ist ja nicht nur ein einzelner Mann, der sie entblösst gesehen hat!
Auch wenn Voyeurismus als solches kein Strafbestand ist, sollte doch beachtet werden:
„Allerdings können voyeuristische Handlungen, insbesondere Bildaufnahmen in manchen Fällen strafbar sein. § 201a StGB regelt, dass unbefugte Aufnahmen von einer Person, ‚die sich in einer Wohnung oder einem gegen Einblick besonders geschützten Raum befindet’, nicht erlaubt sind, solange diese nicht die Einwilligung dazu gibt. Es besteht das Recht am eigenen Bild. Der Täter wird mit maximal einem Jahr Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bestraft. Wer eine solche Aufnahme benutzt oder einem Dritten zugänglich macht, wird ebenfalls mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bestraft.“
Quellen:
Herodot, Kandaules und Gyges, Erzählungen der Antike, ausgewählt und grossenteils übertragen von Horst Gasse, Sammlung Dieterich Bd. 304, Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig, 1966, S. 3ff.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gyges
https://de.wikipedia.org/wiki/Herodot
https://de.wikipedia.org/wiki/Voyeurismus
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