Peter von Matt und Emil Staiger – unterschiedlich umstritten
Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH
„Emil Staiger versteht die Welt nicht mehr“, titelte am 28. Dezember 1966 die Zürcher Woche, damals die provozierendste „nonkonformistische“ Wochenzeitung der Schweiz. Was folgte, war die hämische Demontage des bekanntesten Literaturprofessors des Landes als Ideologe. Des Professors Vorwurf an eine neue Generation von Schreibenden: „In welchen Kreisen verkehren Sie?“ Er, Steiger, verkehrte nicht in der „Kloake“ wie zum Beispiel der damals im Gefängnis sitzende homosexuelle Jungautor Alexander Ziegler. Eher schon in der Zürcher „Freitagsrunde“. Einem elitären Kreis, in dem Literaten wie Erwin Jaeckle, Max Rychner und Werner Weber sich die Meinung darüber bildeten, was aus der Sicht eines damaligen Bildungsbürgertums qualitativ hochstehendes Kulturschaffen war. Neu wird gegen Peter von Matt, Staigers Nachfolger, Ideologieverdacht erhoben und aufgezeigt, welche Kreise aus dem Literaturteig mit ihm verfilzt sein sollen.
Zwischen Emil Staiger (1908 – 1987) selig und Peter von Matt (*1937) besteht in Sachen Angriffsflächen ein nicht kleiner Unterschied. Staigers Demagogie betreffend „Kloakenliteratur“ war ein unqualifiziertes Werturteil im Kerngeschäft eines Literaturkenners. Dagegen machen von Matts nur per Interview gegebene Einschätzungen des Bankiers Hildebrand den Eindruck einer Privatmeinung. So wie Theologen die Aussagen Jesu ungern beim Wort nehmen, will von Matt den Staatsbankier offenbar nicht mit einer Figur bei Dürrenmatt verwechselt haben. Ähnliches gilt für die politisch wirksamste Intrige in der neueren Schweizer Geschichte. Hier bleibt von Matt hinter seinem eigenen Meisterwerk über die Intrige in der Literatur zurück. Er beschwichtigt, bei der Abwahl Christoph Blochers sei alles legal zugegangen. Als ob dies bei perfekten Intrigen und nach Kriterien, wie wir sie bei Dürrenmatt („Die Panne“/“Besuch der alten Dame“) kennen, nicht dazugehören würde. Das weiss der Professor selber am besten. In ihm einen Chefideologen zu erkennen, liegt aber daneben, weil die literarische Topologie bei von Matt vielfach politisch, psychologisch und rein menschlich unerhört lehrreich ist. Seit dem Verstummen Hugo Loetschers („Lesen statt Klettern“) ist von Matts Stimme die eines der letzten Globalhumanisten der Schweiz.
Unter den Germanisten im Fach Literatur gilt er, wie er es am Beispiel Gottfried Kellers dargetan hat, als ein „Meister“. Im Vergleich zu früheren Trägern des Schweizer Buchpreises spielt Peter von Matt wohl in einer eigenen Liga. Gegen einen Klasseschreiber wie von Matt konnte man weder mit Debütantenförderung noch mit Migranten- oder Frauenbonus etwas ausrichten. Soll ein Preis, wie Urs Paul Engeler hervorhebt, nicht nur fördern, sondern zum Ansehen der Preisstifter beitragen, tat man gut daran, wie einst der Kanton Aargau mit seinem Literaturpreis, die Liste der Gekrönten mit einem Namen wie etwa Jean-Rodolphe von Salis zu schmücken. Was in Sachen von Salis recht war, scheint heute für von Matt billig.
Als Staiger seine umstrittene Rede hielt, war der Nidwaldner in keiner Weise als heimlifeisser Schweiger involviert. Er unterrichtete als Kantonsschullehrer in Luzern, arbeitete am Dokumentarband „Vestigia temporum“ über die Geistesgeschichte der Innerschweiz. In den Jahren nach 68, als Rektor Max Wehrli an einer Vollversammlung an der Uni Zürich als „Schwein“ bezeichnet wurde, korrigierte von Matt als Assistent Staigers Seminararbeiten. Im Vordergrund stand nicht philologische Buchhaltung. Der Weg zu gutem Schreiben war das Ziel. In einem Seminar über die Literatur zwischen 1925 und 1935 verglich er den „Brand des Tempels“ von Stefan George mit dem Lehrstück „Die Massnahme“ von Bertolt Brecht. Ein Stück politischer Aufklärung über Totalitarismus, wie man es damals nur noch bei Hermann Lübbe zu hören bekam. Noch 2011 hat von Matt eine nicht auf Gegenliebe angelegte Würdigung der DDR- Kultautorin Christa Wolf geleistet.
„Das Kalb vor der Gotthardpost“ enthält politische Substanz. Am wenigsten durch beiläufige Bemerkungen, welche in mündlicher Rede Lacher für den Augenblick produzierten. Als Hauptfiguren erhalten Jacob Burckhardt, Gottfried Keller und Max Frisch Profil. In Sachen Demokratie wurde Keller zum Skeptiker. Zu einem skeptischen Weltbild tragen auch von Matts Deutungen von Jeremias Gotthelf bei. Der Glaube an die menschliche Vollkommenheit erfährt bei der Lektüre dieser Interpretationen eine bleibende Einbusse.
Vergleichsweise schwach ist von Matt die Bildauslegung des Tiermalers und Metzgersohnes Koller geraten. Das Kalb, im Gegensatz zu den scheuklappenbewehrten Rossen frei und fröhlich unterwegs, scheint auf andere Weise gefährdet als der Professor schreibt. Weniger das Überfahrenwerden droht ihm, sondern, wie der ganzen Viehherde, von der die Kühe etwas routinemässig in die Landschaft gestellt sind, die Schlachtung, der das Kalb gleichsam entgegenfliegt. Besser als das Gotthardkalb scheint von Matt die Hommage auf die Kuh „Blösch“ von Beat Sterchi gelungen. Ein bewegendes Kuhdrama, wie es seit von Matts Hebelpreisträgerkollegen Alfred Huggenberger wohl kein Schweizer Autor mehr geschafft hat. Urs Paul Engeler sei geraten, seine Kritik an von Matts Rede zur Tragödie von Nidwalden (1798) anhand der auf dieser Atelierseite einige Tage nach Neujahr besprochenen Zschokke-Biographie von Werner Ort zu überprüfen.
Literaturhinweis
Peter von Matt: „Das Kalb vor der Gotthardpost“, Zur Literatur und Politik der Schweiz, Hanser Verlag, München 2012.
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