Memoiren eines Kriegskindes, geboren im Winter 1939
Autorin: Susan Casadei
Geburt
Oh mai, a Rothaarige! Hat die Pflegemutter meiner Mutter laut ausgerufen, als sie mich zum ersten Mal im Arm halten durfte. Geboren am 12. Oktober 1939 in München Schwabing in einer schönen Klinik an der Königin-Strasse. Aber ein Kind aus einfacher Familie, Vater zuerst Jockey in München Dagelfing und nachher Polizeibeamter bei der Münchner Polizei bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1962. Mutter Arzthelferin in ihrer frühen Jugend, nachher Geschäftsfrau und Mutter von 3 Kindern.
Ich fühle mich ein bisschen als Zeitzeugin, denn Leute, die vor dem 2. Weltkrieg geboren worden sind, verabschieden sich so nach und nach von dieser Welt. Ich kann jetzt schon, mit 76 Jahren, den Gedanken an den Tod nicht mehr ganz aus meinem Gedächtnis verbannen. In zahlreichen Talk-Shows finden sich immer noch alte Damen über 90, die über die Gräuel dieses Krieges und über die Schandtaten Hitlers und seiner Helfershelfer berichten. Ich habe mein erstes Berufsjahr beim Judenentschädigungsamt München verbracht und das, was ich dort hören und notieren musste, hat mich viele Jahre lang so traumatisiert, dass ich weder etwas lesen noch etwas ansehen konnte, das mit dieser Zeit zu tun hat. Erst seit einigen Jahren ist es mir nun wieder möglich, mich an die traurigen bis grauenhaften Geschichten der Überlebenden zu erinnern. Darüber schreiben möchte ich nicht, denn damit sind andere, wesentlich grössere Geister schon seit vielen Jahren beschäftigt. Ich möchte lieber meine eigene kleine Lebensgeschichte erzählen.
Eltern
Meine Mutter war ein Waisenkind. In Oesterreich geboren, starb ihre Mutter dort bei ihrer Geburt und ihr wahrscheinlich überforderter Vater, er hiess mit Nachnamen Dietrich, den Vornamen haben wir nie erfahren, gab seine Tochter kurz nachher in München bei einer Pflegefamilie, Familie Lindenmeier, ab und ward nie mehr gesehen. Meine Mutter hat zwar den Namen ihres Vaters erhalten, ihn selbst aber nie kennengelernt und auch nie erfahren, wo und wie er gelebt hat. Soweit ich es beurteilen kann, hat sie dies auch nicht sehr interessiert, sie war vollkommen glücklich in ihrer Pflegefamilie, von der sie nur Gutes zu berichten wusste.
Schon in jungen Jahren hat sie unseren Vater, Peter Gutjahr, geheiratet und wenn ich es richtig verstanden habe, dann war es eher eine Muss- als eine Liebesheirat, denn ein kleines Mädchen war unterwegs und sie wollte es sicher nicht ohne Vater aufwachsen lassen. Dieses Mädchen, Charlotte hiess es, ist leider kurz nach der Geburt verstorben, aber das hat meine Eltern nicht dran gehindert, noch zwei weitere Mädchen, Helga und Hermine, auf diese traurige Welt zu bringen. Trotz schlechter Voraussetzungen war die Ehe meiner Eltern ziemlich gut. Es gab zwar übliche kleine Auseinandersetzungen, wie sie sicher in allen Ehen vorkommen, aber unsere Eltern sind immer sehr respektvoll miteinander umgegangen. Sie waren liebevolle Eltern, soweit die Umstände es zuliessen, und unser Vater war geradezu ein Kindernarr. Er tat nichts lieber, als sich mit uns zu beschäftigen. Meine Mutter hat in den Kriegsjahren einen kleinen Laden in der Nähe unserer Wohnung geführt, der uns in diesen schlechten Zeiten überleben liess. Man kann ihr also bestimmt nicht vorwerfen, dass sie ihre Kinder vernachlässigte. Sie musste nur sehr viel Zeit ausser Haus verbringen, so dass man uns sicher als Schlüsselkinder bezeichnen könnte.
Mein Vater ist der mittlere Sohn einer angesehenen Familie Gutjahr-Kotzbauer (schrecklicher Name, den ich nicht hätte haben wollen). Sein Vater hatte ein Fuhrunternehmen in München. Sie hatten ein riesiges Grundstück und ein für diese Zeit recht grosses Haus in Ottobrunn bei München. Woher dieses Anwesen kam, habe ich leider nie hinterfragt, jedenfalls waren meine Grosseltern Mitbegründer des Ortes Ottobrunn und besassen dort Wälder und Felder, die später zum grossen Teil zu Niedrigstpreisen verkauft wurden, da der Krieg ja alle Menschen ziemlich mittellos, wenn nicht mausarm zurückliess. Mein Grossvater war auch noch Hauswart einer Überbauung an meinem langjährigen Wohnort an der Kuglerstrasse in Haidhausen, einem Wohnviertel in München. Heute ein In-Viertel, damals ein Grenzbereich zwischen Bogenhausen und Haidhausen, der vom unteren Mittelstand bevölkert war. Es waren keineswegs luxuriöse 3-Zimmer-Wohnungen: Das einzige Bad, für alle Hausbewohner, war im Keller. Das 3. Zimmer unserer Wohnung war die Wohnküche, so dass für eine 5-köpfige Familie nur 2 Schlafzimmer und eine winzige Kammer zur Verfügung standen. Dafür gab es einen wahrhaft riesigen Hof hinter den aneinander gereihten Mehrfamilienhäusern, an den ich mich vor allem erinnere. Sämtliche Kinder aus diesen 10 Häusern trafen sich dort Tag für Tag und Sommer wie Winter zum Spielen. In der Mitte des Hofes hatte auch noch ein Kindergarten seinen Aussenbereich, so dass wir in diesen Kindergarten-Jahren eigentlich immer "zuhause" waren. Wir haben uns dort sehr wohl gefühlt und meine Mutter konnte uns beruhigt bei der liebevollen Kindergärtnerin lassen.
Obwohl eine ärmliche Gegend, so war dieser Wohnort für uns Kinder in diesen Kriegsjahren ein wahrer Segen. Ich kann mich eigentlich nur an glückliche, fröhliche und behütete Kindheitstage erinnern. Natürlich hätten wir gerne unsere Mutti öfters daheim gehabt, aber wirklich vermisst haben wir nichts. Ich war wohl ein recht ungebärdiges Kind, so dass der viele "Auslauf" im Hinterhof mich einigermassen in Schach halten konnte. Da unser Vati als Polizeibeamter sehr unregelmässige Arbeitszeiten hatte, war er tagsüber oft zuhause, so dass wir mit ihm viel unternehmen konnten. Im Grossen und Ganzen kann ich – trotz Kriegswirren – meine Kindheit als glücklich bezeichnen. Dass wir nicht verwöhnt werden konnten, hat uns allen nur gut getan. Ich bin froh und dankbar, dass wir so bescheiden aufwuchsen und wussten, dass das Geld nicht vom Himmel fällt, sondern hart verdient werden muss.
Geschwister
Meine Schwester Helga ist im Februar 1937 geboren und obwohl sie nur 2 1/2 Jahre älter war als ich, musste sie schon früh Mutterstelle an mir vertreten. Sie war die Ordentliche, die Brave, die Vernünftige, die es mit mir Wildfang sicher nicht leicht hatte. Wir haben vermutlich viel gestritten, aber gegen aussen haben wir immer eine uneinnehmbare Front gebildet, was bei unserem Hinterhof-Dasein nicht unwichtig war. Eine Horde Buben und viel weniger Mädchen mussten sich immer wieder zusammenraufen, aber es gab keine schlimmen Streitigkeiten und meistens waren wir doch eine verschworene Bande, die abends meist schmutzig aber müde und zufrieden heimkam. Gott sei Dank war zu dieser Zeit noch von Drogen keine Spur, das Übelste, das uns passieren konnte, war das heimliche Rauchen von wild zusammengedrehten Kräutern.
Helga war ein sehr sportliches, begabtes Mädchen. Sie hat schon in frühen Jahren im nahen Prinzregentenstadion, 5 Gehminuten von unserer Wohnung entfernt, Eiskunstlauf erlernt und beim Vater des späteren Weltmeisters, Manfred Schnelldorfer, viele Jahre lang Unterricht erhalten. Auch Peter Kraus, der spätere Rock-and-Roll-Star, war immer dort anzutreffen, denn sein Vater hatte an der Prinzregentenstrasse sein Sportgeschäft. Im Sommer war es ein wunderbares Freibad und im Winter ein schönes Eis-Stadion, wo wir viel Zeit verbrachten. Ich war keine Sportskanone und mein Eislaufen hat sich auf vorwärts und rückwärts beschränkt, denn elegantes Laufen lag mir nicht. Meine Schwester hingegen war auch noch ausserhalb der Eislaufzeit in einer Tanzschule, die die Mutter von Manfred Schnelldorfer leitete. Ich durfte nur immer als Hilfskraft bei den diversen Aufführungen mit dabei sein. Aber damit war ich auch vollauf zufrieden, mir war Gesellschaft wichtiger als Erfolg auf diesen Gebieten. Als dann die Zeit des Verliebens kam, war ich wohl andauernd in irgendeinen Partner meiner Schwester verliebt, auch wenn es vermutlich einige Homos darunter gab. Davon hatten wir zu dieser Zeit keine Ahnung, ich habe mich immer in das gute Aussehen der Jungen verliebt und bin in diesen jungen Jahren auch oft enttäuscht worden. Mein sommersprossiges Gesicht und die roten Haare haben nicht allen gefallen und das hat mich manchmal ganz schön unglücklich gemacht.
Gleich nach dem Krieg, mein Vater war noch in Kriegsgefangenschaft, bekamen wir Familien-Zuwachs, über den ich auch heute noch sehr glücklich bin. Mein Adoptivbruder Peter kam im Alter von 3 Wochen in unser Leben. Eine Freundin meiner Mutter hatte in der Zeit, als ihr Mann im Krieg war, ein Techtelmechtel mit einem ungarischen Offizier, das nicht ohne Folgen blieb. Ein kleiner goldiger Bub war unterwegs. Als ihr Mann heimkehrte, hat er ihr nur verziehen, weil sie sich bereit erklärte, ihren neugeborenen Sohn wegzugeben. Meine gutmütige Mutti hat ihn mit Freuden bei uns aufgenommen, obwohl unser Vater noch in Kriegsgefangenschaft war und nicht gefragt werden konnte. Sie war aber überzeugt, dass er dieses Kind ebenso freudig aufgenommen hätte, was sich dann auch durchaus als richtig erwies. Er war glücklich über den Familienzuwachs und dass es auch noch ein Sohn war, das war noch das Tüpfelchen auf dem I der Glückseligkeit.
Dieses Baby war eine schöne Sache, aber da 1946 alles nicht so einfach war, musste meine Mutter natürlich weiter den ganzen Tag über im Geschäft stehen und meine 9 Jahre ältere Schwester musste eigentlich bei unserem neuen Bruder wieder die Mutterstelle übernehmen. Verantwortungsbewusst, wie sie nun einmal war, hat sie das auch – sicher mit Hilfe unseres Vaters – sehr gut geschafft. Das waren Zeiten damals, da ist man mit solchen Problemen weitaus lockerer umgegangen. Heute wären solche Verhältnisse von Jugendämtern kontrolliert und bevormundet worden. Damals hat man sich einfach arrangiert und es ist in den meisten Fällen auch gut gegangen. Uns allen dreien hat es jedenfalls nicht geschadet. Wir standen und stehen alle mit beiden Beinen im Leben und haben diese etwas ungewöhnliche Jugendzeit gut gemeistert.
Krieg
Da ich ja erst zu Kriegsbeginn 1939 geboren wurde, habe ich natürlich an die ersten Kriegsjahre nur noch eine dunkle Erinnerung, die wahrscheinlich mehr auf Erzählung als auf eigenes Erinnern zurückzuführen ist. Ich sehe vor meinem geistigen Auge heute noch den im Keller unseres Hauses eingerichteten Luftschutzkeller vor mir. Da standen 2 Stockbetten, in denen meine Schwester und ich mit 40 Grad Fieber und Scharlach die Nächte verbringen mussten. Aber das wurde mir sicherlich erst später so erzählt. Für meine Mutti, die ja auch noch zwischen Ladengeschäft und Wohnung hin und her pendeln musste, war dies sicherlich eine unvorstellbar schwere Zeit. Mein Vater, als Polizeibeamter, war zwar nicht eingezogen worden, musste aber in seinem Revier selbstverständlich viel mehr als üblich Dienst tun. Er konnte also auch nicht immer da sein, wenn mal wieder die Sirenen den nächsten Bombenangriff ankündigten. Unsere kleine Hausgemeinschaft hat aber in diesen Kriegsjahren fest zusammengehalten und unsere Eltern konnten sich darauf verlassen, dass wir von irgendeiner guten Fee aus dem Haus Nummer 11 in den Keller gebracht werden würden.
In den letzten beiden Kriegsjahren, als die Bombenangriffe immer heftiger und immer öfter kamen, haben meine Eltern in der Nähe eines grossen Luftschutz-Bunkers ein Zimmer gemietet, in dem wir alle, in einem winzigen Raum, unsere Nächte verbrachten, damit wir so schnell wie möglich in diesem Bunker Schutz suchen konnten. In der Nähe des Ladens meiner Mutter gab es zwar auch noch einen unterirdischen Schutzraum, der als Dach einen mit Gras bewachsenen Erdhügel erhielt, aber bei den schweren Angriffen der letzten Kriegszeit konnte man sich dort auch nicht mehr sicher fühlen. Wir waren in dieser Zeit des Öfteren im Laufschritt unterwegs zum Bunker und rundum fielen bereits die Bomben. "Micky renn, sonst bist tot"... dieser Ausruf meiner atemlosen Mutti ist mir noch heute in bleibender Erinnerung. Die andere Strassenseite unseres Wohnbezirks wurde in einer dieser furchtbaren Nächte dem Erdboden gleich gemacht. Als wir am Morgen vom Bunker zurück in unsere Wohnung kamen, brannte die ganze gegenüberliegende Häuserzeile. In unserer Wohnung waren sämtliche Schränke umgekippt, die Fensterscheiben zerbrochen, das Geschirr lag in wüsten Scherben am Boden – aber wir hatten zumindest noch ein Dach über dem Kopf; während die armen Menschen auf der anderen Strassenseite alles verloren hatten und nicht wussten, wo sie die nächste Zeit verbringen sollten. Leider habe ich keine Erinnerung daran, was mit ihnen geschehen ist. Sicher haben wir einige Leute bei uns beherbergt so gut es ging. Für uns Kinder war es wohl vor allem wichtig, dass die ganze Familie noch am Leben war.
Hinzu kam in dieser grässlichen Zeit natürlich auch noch die Nazi-Herrschaft. Da mein Vater von Anbeginn an ein heftiger Nazi-Gegner war, musste die ganze Familie sehr vorsichtig sein. Er war nicht in der Partei, was für einen Polizeibeamten eigentlich undenkbar war. Aber er war so ein gütiger Mensch, dass sich sein damaliger Chef immer schützend vor ihn gestellt hat und ihm daraus keine echten Probleme erwuchsen. Erst am Kriegsende, als die Amerikaner in München Einzug hielten, wurde er in seiner Dienststelle als einziger angetroffen und sofort verhaftet. Niemand glaubte ihm, dass er als Polizeimann nicht in der Partei gewesen sein sollte. Er musste nach vielen Monaten der Kriegsgefangenschaft erst Beweise beibringen, um dann noch nachträglich entnazifiziert zu werden, wie das so schön geheissen hat.
Meine Mama hat in den ersten Kriegsjahren in einem Nachbarhaus ihres Ladens viele Judenfamilien durchgefüttert, indem sie ihnen auch ohne Lebensmittelmarken heimlich durch mich kleines Mädchen die nötigsten Dinge des Lebens bringen liess. Auch das war nicht ungefährlich, besonders da ihre Freundin, die mit ihr diesen Laden ins Leben gerufen hatte, mit einem SS-Mann verheiratet war. Gott sei Dank war diesem aber wichtiger, dass der Laden, der unsere beiden Familien ernährte, weiterhin existieren durfte und hat deshalb weder meinen Vater noch meine Mutter denunziert. Obwohl mein Vater ihn einmal, nachdem er immer den Hitlergruss verweigert und von dem SS-Mann deshalb übel beschimpft wurde, nach einem solchen Streit die kleine Vortreppe in unserem Haus hinuntergestossen hatte. Wir waren alle voll Furcht, aber nichts geschah, und ich kann mir heute noch nicht ganz erklären, warum wir damals so glimpflich davon gekommen sind.
Leider habe ich nach dem Krieg meine Eltern nie mehr über diese Zeit genauer befragt. Es sind für mich viele Fragen offen geblieben, was ich jetzt natürlich sehr bedauere. Aber nach den Kriegsjahren wurde so gut wie gar nicht mehr über die schreckliche Zeit gesprochen. Jeder hat nur probiert, einigermassen über die kargen Nachkriegsjahre hinweg zu kommen. Das tägliche Überleben war wichtiger als alles Hinterfragen. Später hätte ich natürlich sicher Gelegenheit gehabt, das alles nochmal aufzurühren, aber irgendwie ist es nie dazu gekommen.
Für unser tägliches Leben während der Kriegsjahre waren der Laden meiner Mutter und ein Gemüsegarten im Hinterhof unserer Häuser ganz ungeheuer wichtig. Am Rande dieses Hinterhofes konnten einige der Hausbewohner, darunter auch mein überaus geschickter Vater, ein Stück Abhang bepflanzen. Mein Vater baute nicht nur eine kleine Hütte mit Hasenställen, einen Hühnerhof mit zahlreichen Hühnern und einem ständig krähenden Hahn. Er bepflanzte auch unsere "hängenden Gärten" mit Gemüse, Tomaten, Salat, diversen Beerensorten und wunderschönen Rosen. Wir hatten dank dieses Segens eigentlich immer genügend zu Essen und konnten noch so manch andere Freunde mitversorgen. Über diese grosse Tat unseres Vaters kann man rückwirkend nur noch staunen, was hatten wir doch für ein Glück im Unglück des Krieges!
Mein Vater war ein wirklicher Allrounder, so wie nun mein lieber Freddy. Er konnte alles zusammenbasteln und reparieren und ausserdem auch noch Brettchen mit wunderschönen Motiven bemalen. Ausserdem konnte er Zitter spielen und die ganze Familie hat viel gesungen.
Schule und Ausbildung
Nach meiner Schulzeit, die einen etwas merkwürdigen Verlauf genommen hat, bin ich mit dem Abschluss der Mittleren Reife aus dem Handelsgymnasium ausgeschieden und habe 1 Jahr im Judenentschädigungsamt gearbeitet. Wie schon gesagt, habe ich das dort Gehörte lange Zeit verdrängt und nicht darüber gesprochen. Ich habe auch lange Zeit bedauert, dass ich nicht das Abitur gemacht und studiert habe, aber die Zeiten waren einfach nicht danach. Meine Eltern hatten es schwer genug, unsere 5-köpfige Familie über die Runden zu bringen, da mussten wir zusehen, dass wir möglichst bald selbst etwas Geld verdienen und auf eigenen Beinen stehen konnten. Aber im Nachhinein kann ich sagen, dass mein kaufmännischer Beruf mir ebenfalls viele Möglichkeiten bot. Ich konnte häufig die Stelle wechseln und meistens, als Assistentin der Geschäftsleitung einer Firma, immer wieder neue Branchen kennenlernen, so dass mir mein Beruf viel Abwechslung und wenig Langeweile bot.
Jugend und Freunde
Ich bin sehr gerne zur Schule gegangen und habe mich dort auch immer gut aufgehoben gefühlt. Ich war natürlich weiterhin eine aufmüpfige Schülerin, aber da ich auch eine sehr gute Schülerin war, hat mir das nicht allzu sehr geschadet. Ich habe aus diesen letzten Schuljahren auch heute noch Kontakt mit einigen dieser damaligen guten Freundinnen. Meine Freude am Schreiben ist mir bis heute erhalten geblieben und ich habe nach diesem ersten tristen Berufsjahr einige Jahre in der Süddeutschen Zeitung verbracht. Ich war dort zwar noch sehr jung, aber gemäss meiner kaufmännischen Ausbildung konnte ich doch sehr bald schon im Sekretariat des Geschäftsleiters, Herrn Dürrmeier, als seine persönliche Assistentin arbeiten. Aber daneben habe ich mich nach Arbeitsschluss ständig in den verschiedenen Redaktionen getummelt. Habe dort Freundschaften geschlossen und durfte des Öfteren bei irgendwelchen Recherchen und diversen Interviews dabei sein.
Da mir dies so gut gefallen hatte, stand mein Entschluss fest, in der zur Zeitung gehörenden Journalisten-Schule endlich meinen Traumberuf zu erlernen. Das Schicksal wollte es anders und ich kann es im Nachhinein nicht wirklich bedauern. Der Leiter dieser Schule hat sich kurz nach meiner Aufnahmeprüfung auf eine sehr viel jüngere Schülerin eingelassen. Er wurde verraten, angeklagt und von der Leitung der Schule entbunden. Das war's dann schon wieder mit meinen journalistischen Ambitionen. Da ich auch noch mit dieser jungen Schülerin sehr gut befreundet war, sollte ich beim Prozess gegen den Schulleiter aussagen, was meiner Mutter gar nicht gefiel. Als ich dann das Angebot erhielt, zum Erlernen der französischen Sprache für ein Jahr in die Französische Schweiz zu gehen, haben mir alle zugeraten und heute bin ich natürlich sehr froh, dass ich dadurch die Grundlagen dieser Sprache gelernt und offensichtlich nicht ganz vergessen habe. Dass ich später mein restliches Leben zum Grossteil in der Schweiz verbracht habe, konnte damals natürlich keiner ahnen.
Ich war sehr gerne in meiner Geburtsstadt München und hatte dort einen grossen Freundeskreis und auch so manche kleinen und grösseren Liebesgeschichten. Die vermeintlich grosse Liebe meines Lebens hatte mich gerade zutiefst enttäuscht, als ich aufgrund der Organisation einer meiner Freundinnen zum Ski-Urlaub nach St. Moritz fuhr. Auch da waren wir wieder eine kleine Clique von Mädchen und Jungen, die sich aus finanziellen Gründen natürlich an diesem berühmten Ort nur ein Studentenlager leisten konnten. Dieses war in einem sehr renovationsbedürftigen ehemaligen Grandhotel untergebracht. Die zerschlissenen Teppiche und durchgelegenen Betten in bis zu 8-Bett-Zimmern hat uns damals wenig gestört. Wir haben in diesen 2 Wochen ohnehin nur wenig geschlafen und rund herum konnten wir die traumhafte Bergwelt und die vielen fröhlichen anderen Mitbewohner geniessen.
Die Organisation des Kommens und Gehens an jedem Wochenende war Freddy und seinen Studienkollegen anvertraut, die dadurch als Studenten zwar kein Geld verdienten, aber kostenloses Essen und die Unterbringung in Einzelzimmern sowie einen kostenlosen Skipass für 8 Wochen bekamen. Anscheinend hat Freddy mich damals ziemlich rasch ins Auge gefasst und hätte mich offenbar gerne kennen gelernt. Aber ich war zu dieser Zeit, nach der traurigen Trennung von meiner "grossen Liebe" an männlichen Begleitern nicht interessiert. Ich war froh, in unserer kleinen Gruppe nur kumpelhafte Freunde zu haben, die mich auch nicht interessierten, aber als Urlaubsbegleiter sehr tauglich waren.
Das Schicksal nahm trotzdem seinen Lauf, Freddy besuchte mich zweimal in München und nach einigem Hin und Her – sein Auto musste dafür einmal in München kaputtgehen, damit er mehr als eine Woche dort bleiben konnte – bin ich dann doch noch in Basel, Freddys Geburtsstadt, gelandet. Inzwischen können wir auf 46 glückliche Ehejahre zurückblicken. Aber die Anfänge werde ich gerne noch genauer schildern.
Das war ein schwieriger Anfang für den armen Freddy, bis er mich endlich treffen konnte. Eigentlich hatte sich in St. Moritz ein anderes Mädchen in den gutaussehenden, sportlichen Freddy verliebt. Aber Freddy hatte anscheinend nur Augen für mich. Er ist zusammen mit einem Freund mit in unseren Zug eingestiegen und hat so getan, als ob sie den Ausstieg verpasst hätten. Er überreichte mir zum Abschied sogar eine Tafel Schweizer Schokolade, die ich gar nicht beachtete. An der nächsten Station mussten die beiden Herren dann doch aussteigen und breiteten ein grosses weisses Leintuch aus, um zum Abschied zu winken. Dies alles ging an mir wirklich völlig interesselos vorbei, ich fand es zwar lustig, aber hatte nicht das Gefühl, dass dies alles für mich gedacht war.
Freddy kam dann tatsächlich kurz nachher einmal nach München, hatte aber nur die Adresse meiner sehr an ihm interessierten Freundin, die ihm ungern dann doch meine Telefonnummer gab. Aber ich war für eine Woche in Paris. Freddy rief mich dann am Abend seiner Abreise doch noch an, aber da ich weiterhin kein Interesse hatte und gerade erst aus Paris zurückkam, wollte ich ihn noch an diesem Abreisetag dann doch nicht sehen. Er musste traurig und erfolglos wieder abreisen. Mit meiner Freundin hatte er anstandshalber einige Zeit in München verbracht, sich aber doch weiterhin nicht für sie erwärmen können.
Meine Freundin, die immer noch sehr interessiert an einem Wiedersehen mit Freddy war, brachte mich dazu, ihn zu einer Party im Turm von Rosenheim dann doch nochmal einzuladen. Er kam prompt und erst als er unerwartet länger in München bleiben musste weil der schöne alte MG seiner Mutter eine Autopanne hatte, hat es dann bei mir doch endlich auch gefunkt.
Wir waren dann fast 4 Jahr in einer sogenannten Fernbeziehung. Freddy studierte an der ETH in Zürich Elektrotechnik und ich arbeitete in München als Direktionssekretärin beim Oldenburg Verlag. Wir hatten uns ja in München nur eine Woche gesehen und verliebt, aber das reichte uns natürlich noch nicht für den grossen Schritt eines Umzuges. Ich war gerne in München, hatte viele gute Freundinnen und Freunde und die Schweiz war eigentlich damals keine Option für mich, auch wenn es mir in Neuchâtel damals sehr gut gefallen hat.
Wie schon erwähnt, hatte ich mich 1961 ganz rasch entschlossen, eine flüchtige Bekannte abzulösen, die bei einer Französisch-Schweizer Familie als Au-pair-Mädchen arbeitete und zurück nach München wollte. Meine Mutter war sehr gegen diesen Ortswechsel, hatte ich doch schon einen gutbezahlten Job und eine gute Schulausbildung genossen. Sie kannte mich wohl besser als ich mich selbst und prophezeite mir, dass ich mich in der Rolle einer schlecht bezahlten Haushaltshilfe nicht wirklich wohlfühlen würde. Zwei halbwüchsige, aufmüpfige Kinder warteten in Neuchâtel auf mich und "Madame" erwartete natürlich eine relativ unterwürfige Arbeitskraft, die brav im Haushalt auch niedrigste Arbeiten mit Freude verrichtet. Ich wollte hingegen nicht verstehen, dass ich in einem fast den ganzen Tag unbewohnten Haus jeden Tag sämtliche Zimmer saugen musste und täglich mehrmals die schicken Schuhe von Madame putzen sollte, die nur auf einem Gartenweg vom Haus bis zur kleinen Fabrik getragen wurden. Hinzu kam, dass im obersten Stock auch noch die Schwiegermutter sehr genau aufpasste, was das junge Ding da unten wohl anstellen würde.
Na ja, es gelang mir trotzdem, mich bei laufendem Staubsauger in irgend eine bequeme Ecke zu setzen und zu lesen. Ich wollte schon unbedingt in diesem Jahr die französische Sprache erlernen und muss hier meiner Madame ein Kränzchen winden. Sie war wirklich sehr geduldig und stand mit den Diktionär mit mir am Küchenherd. Obwohl sie sehr gut deutsch sprach, hat sie meinem dringenden Wunsch entsprochen und mit mir nur französisch geredet. Auch die Kinder taten das und haben mich rücksichtslos korrigiert, wenn ich wieder ganz rudimentäre Fehler machte. Das war wirklich die beste Schule, um sich möglichst rasch zumindest verständigen zu können.
Auch wenn ich einmal dem Mann meiner Madame zum Abendessen einen "cul au fromage" anstatt einer "croute au fromage" anbieten wollte, so lernte ich doch im Laufe der Zeit mich ganz gut zu verständigen. Abends ging ich in eine Abendschule, musste dafür mit dem Fahrrad einige Kilometer weit in die Stadt radeln oder das klapprige Tram benutzen, zu dem ich aber einen recht langen Fussweg zu absolvieren hatte.
In der Abendschule habe ich nicht sehr viel gelernt, aber sehr bald schon machte ich Bekanntschaft mit jungen Leuten, ja einer ganzen kleinen Jazz-Band, und da habe ich zusätzlich meine Französischkenntnisse vervollkommnet. Da ich zum ersten Mal von zuhause weg war, hatte ich doch recht Heimweh und eine meiner Freundinnen hat sich erbarmt und sich für dieses Jahr dann, in einer mit Madame befreundeten Familie, um eine Au-pair-Stelle beworben. Das hat mir dieses Auslandsjahr sehr erleichtert und wir zwei jungen, nicht ganz hässlichen Mädchen, haben das kleine Städtchen ganz schön aufgewirbelt. Da wir, was den Sex anbelangt, Gott sei Dank sehr zurückhaltend waren, haben wir schnell bei den jungen Franzosen "les 2 Frigidaires" (die beiden Kühlschränke) geheissen. Das hat uns aber gar nichts ausgemacht. Wir blieben trotzdem viele Abende in den verschiedenen Jazz-Kellern gut gelitten. Madame hat schnell gemerkt, dass mir der Haushalt nicht allzu viel Freude macht und mich mit in ihre Fabrik genommen, um dort ihre Lohnbuchhaltung und andere Büroarbeiten von mir erledigen zu lassen. Natürlich ohne zusätzlichen Lohn, aber das war mir egal. Es war wieder eine Gelegenheit, mit französisch sprechenden Mitarbeitern meine Sprachkenntnisse zu erweitern.
Jetzt im Nachhinein, da ich seit vielen Jahren zeitweise in Frankreich lebe, bin ich sehr froh, dieses Auslandsjahr durchgestanden zu haben. Es hat mir, obwohl ich 25 Jahre lang nicht mehr viele Gelegenheiten hatte, die französische Sprache weiter zu üben, doch sehr geholfen. Ich war selbst erstaunt, wie viel in meinem Gedächtnis plötzlich wieder auftauchte.
Das war jetzt ein kleiner Abstecher in die Vergangenheit, aber es hat eine gewisse Rolle in unserer neuen Verbindung gespielt, dass ich die Schweiz schon ein bisschen kannte. In den 4 Jahren unserer Bekanntschaft bin ich dann viel zwischen München und Zürich hin und her gefahren und Freddy war einmal 3 Monate auch in München, wo er bei Siemens einen Kurzaufenthalt, der für sein Studium wichtig war, absolvierte. Natürlich konnten wir bei dieser Gelegenheit auch unsere Freundschaft vertiefen. Diese Zeit der ständigen Trennung war zwar recht spannend, aber am Ende war ich dann doch entschlossen, mein geliebtes München zu verlassen und zu Freddy nach Basel zu ziehen.
Durch Ferienaufenthalte in St. Moritz, wo Freddy viele Jahre auch weiterhin Lagerleiter spielte, hatte ich auch Freddy's Schwester Eva kennengelernt. So hatte ich doch schon eine weitere Verbindung zu Basel, der Heimatstadt von Freddy, nur seine Mutter war nicht allzu begeistert von meiner Anwesenheit. Sie hat mich am Anfang ihren Freunden mit den Worten vorgestellt: "Das ist die Frau, die mir meinen Sohn wegnimmt". Das war nicht gerade die Begrüssung, die ich mir gewünscht hatte. Aber einige Jahre später hat meine Schwiegermutter dann wieder all ihren Freunden erzählt "ich hätte mir keine bessere Schwiegertochter wünschen können".
So ist das halt manchmal im Leben, man muss kleine Rückschläge auch verdauen können. Meine Mutter hat immer gesagt "was mich nicht umwirft, das macht mich stark" oder noch deftiger, im bayrischen Sinne, "ein guter hält es aus und um einen schlechten ist es nicht schade". Offenbar habe ich es gut überstanden und viele glückliche Jahre in Basel verbracht. Im Hause meiner Schwiegermutter, die eine sehr hübsche stadtbekannte Boutique besass, waren immer viele Freunde versammelt. So hatte ich das grosse Glück, gleich in einen Freundeskreis mit einbezogen zu werden und gar keine Zeit für Heimweh zu haben. Es hat dann aber doch noch 3 Jahre gedauert, bis wir endlich, nach 7 Jahren Bekanntschaft, geheiratet haben. Unserer langjährigen Ehe hat diese Probezeit jedenfalls nicht geschadet. Freddy hat kurz nach unserer Heirat mal zu mir gesagt "wenn ich gewusst hätte, wie schön das ist, dann hätte ich schon viel früher geheiratet".
München, meine Heimatstadt
So, jetzt muss ich doch noch einmal zurück nach München gehen. Die Nachkriegsjahre in der grösstenteils zerbombten Stadt München sind schon noch erzählenswert. Gleich nach dem Krieg ging es ans wieder aufbauen. Wir hatten das grosse Glück, noch unsere eigene Wohnung zu besitzen und der kleine Laden unserer Mutter sowie das Gartengrundstück hinter dem Haus sorgten für unser leibliches Wohl. Das ging beileibe nicht allen Menschen so, in dieser schwierigen Zeit. Ehemänner kamen mit Traumatas aus dem Krieg zurück, die Frauen mussten sich erst wieder an diesen veränderten Mann gewöhnen. Viele Menschen litten Hunger und unsere Mutti sorgte oft kostenlos mit ihren Schätzen aus dem Laden für hungernde Freunde und Nachbarn. Sie gründete ein wöchentliches Kaffee-Kränzchen, bei dem immer wechselnde eifrige Damen unsere Strümpfe stopften und dabei relativ feine Sachen aus Mutters "Konditorei" essen durften. Diese Stückchen waren nicht wirklich lecker. Trockenei und Milchpulver sowie künstlicher Zucker etc. waren die Grundlage für die cremigen Füllungen. Aber alles wurde mit Hochgenuss gelöffelt und wir hatten wieder ganze Strümpfe und Kleider.
Dann 1948 kam die Währungsreform. Am Vortag, vor dem grossen Aus für die R-Mark, gingen meine Schwester und ich von Eisdiele zu Eisdiele. Wir hatten einen 10 RM-Schein dabei, aber wenn wir zwei schöne Eisbecher kauften, mussten wir nicht bezahlen, sondern bekamen für unsere RM-Scheine noch neue dazu. Ich weiss nicht mehr, wieviel Eis wir damals geschleckt haben und ob es uns dann am Ende so richtig schlecht wurde. Ich weiss nur noch, dass ich dann mehrere Jahre keine geschlagene Sahne mehr essen mochte. Am darauffolgenden Tag erhielt dann jede Person, egal ob Erwachsene oder Kinder, DM 48.-- und damit musste dann der Lebensunterhalt zuerst einmal bestritten werden. Natürlich bekam man dann nachher Lohn und Einkünfte aus dem Ladenverkauf in DM, aber es lief recht langsam an, bis man wieder ein einigermassen vernünftiges Einkommen hatte, mit dem man weiterwursteln konnte. Mit 3 kleinen Kindern war das auch für unsere Eltern nicht so ganz einfach. Mein Vater kam aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft zurück. Er war psychisch und physisch sehr angeschlagen und sein Hass auf die Amerikaner war sicher verständlich. Dabei war diese Besatzungsmacht noch die beste, die man erwischen konnte. Die Soldaten standen unter starker Kontrolle und Vergewaltigungen und gross angelegte Plünderungen kamen Gott sei Dank nicht vor. Wir Kinder bekamen bei einigem Geschick, wie ich es an den Tag legte, bekamen Orangen und Schokolade und Bananen fast täglich geschenkt. Und es waren -zumindest so weit ich das erlebt habe, keine Hintergedanken dabei. Viele Soldaten waren einfach auch froh, dass der Krieg zu Ende war und wollten zumindest zu den Kindern nur freundlich sein.
Langsam wurde auch die Innenstadt von München wieder aufgebaut und auch rundherum bekamen die neuen und die sanierten Gebäude ein neues, nicht immer schönes Gesicht. Später fragten die Nachkommen dann, warum manche Städte so hässlich wieder aufgebaut worden sind. Aber es musste rasch gehen, da ja dringend Wohnraum gebraucht wurde, und Geld war nur wenig vorhanden. So kann man sich die "Plattenbauten" dann besser erklären, aber schön waren sie nicht und stehen doch oft bis heute noch. Aber es ging aufwärts und ich sage oft und gerne dass wir, die Kriegs- und Nachkriegskinder eine privilegierte Schicht darstellen. Es ging immer nur vorwärts, es wurde besser und besser und bis heute konnten wir uns glücklich preisen, keinen weiteren Krieg in Europa erlebt zu haben. Wenn ich da an meine Eltern denke: Geboren vor dem 1. Weltkrieg, Geldabwertung, Inflationen, schlechte Zeiten nach dem 1. Weltkrieg, 2. Weltkrieg, wieder alles verloren und wieder viel Elend und Hunger erlebt. Da kann man nur den Hut ziehen, über die Kraft und den Mut, die unsere Eltern aufbringen mussten. Kein Wunder, dass mein Vater schon mit 62 Jahren und meine Mutter mit 72 Jahren verstarben. Da war vielleicht einfach die Kraft aufgebraucht.
Ich hätte sicher gerne studieren wollen, aber da das Geld doch sehr knapp war, haben wir beiden Schwestern es dann doch vorgezogen und sind nach der Mittleren Reife und mit guter kaufmännischer Ausbildung von der Handelsschule direkt ins Berufsleben übergegangen. Ich habe es manchmal ein bisschen bereut, aber eigentlich hat mir mein Leben als Sekretärin und Assistentin doch auch Spass gemacht. Ich hatte dadurch die Möglichkeit des öfteren die Stellung zu wechseln, wenn es mir langweilig wurde. Landesentschädigungsamt, Süddeutsche Zeitung, Auslandaufenthalt, Werbegesellschaft, TOTAL Deutschland, Oldenburg Verlag - das waren meine Stationen vor der Übersiedlung in die Schweiz.
Am meisten Spass gemacht hat mir doch immer das Verlagswesen, Zeitungen und Bücher waren mir immer wichtig und das Klima in diesen grossen Häusern hat mir auch immer sehr gefallen. Ich habe mich neuen Herausforderungen gerne gestellt und gute Freundschaften aus all diesen Tätigkeiten oft bis heute noch aufrecht erhalten. Es war ein fröhliches Leben zu dieser Zeit in München. In den kleinen Schwabinger Kneipen waren Jazz-Grössen aus aller Welt anzutreffen und auch ein munteres Künstlervölkchen tummelte sich in den Restaurants. Theater und Oper waren langsam wieder im Aufwind und ich hatte viele Jahre hindurch ein Theater- und Opern-Abonnement und von diesen Aufführungen zehre ich heute noch.
Es gab Party's und Faschings-Feste in allen Schattierungen. Da ich viele Freunde hatte war ich auch an so mancher Studentenfete anzutreffen. Es gab manchmal nur eine Badewanne voll Nudelsalat und die Getränke musste man sich oft vom Mund absparen, aber das hat unserer Fröhlichkeit keinen Abbruch getan. im Hahnhof in Schwabing konnte man zu einem Viertel Weisswein dann gratis soviel Brot bekommen wie man wollte. Das haben die Studenten weidlich ausgenützt und wir sassen in feuchtfröhlicher Runde viele Nächte an langen Tischen und palaverten über Gott und die Welt. Wenn ich an den Aufwand denke, der heute meistens bei Einladungen getrieben wird, dann erinnere ich mich bei den Hahnhof-Abenden gerne daran, dass die Gespräche interessanter waren als das Essen. Heute hingegen ist es oft umgekehrt. Auf jeden Fall bin ich mir ganz sicher, dass es uns gut getan hat, nicht immer aus dem Vollen schöpfen zu können. Man weiss die guten Zeiten, die folgten, um so mehr zu schätzen und darüber bin ich glücklich.
Auch in den Firmen herrschte eine andere Kultur. Man kümmerte sich noch um die Mitarbeiter und sorgte sich um das Wohlergehen der Belegschaft. In der Süddeutschen Zeitung bekamen wir zum Beispiel jedes Wochenende einen VW-Bus mit Chauffeur zur Verfügung gestellt und es konnte somit immer ein kleines Grüppchen einen Sonntags-Ausflug machen, den man sich sonst ohne Auto nicht hätte leisten können. Meine Eltern hatten nie ein Auto und sind auch nur ein einziges Mal in die Ferien gefahren. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Sie erzählten uns immer wieder von Ihrer Schiffsreise auf der Hurtigroute bis zum Nordkapp. Die erste Ferienreise, meiner Schwester und mir, ging an den Gardasee und da waren wir auch schon 17 und 19 Jahre alt. Ich erinnere mich heute noch an diese einfache Unterkunft und wie wir es genossen haben, an einem schmalen, steinigen Strand am See liegen zu können. Auch in den folgenden Jahren konnten wir uns nur kurze Adria-Reisen leisten und kamen manchmal nur noch mit 10 Pfennigen in der Tasche wieder nach Hause. Alles in Allem erinnere ich mich an diese Zeit immer als eine glückliche Zeit, die ich nicht missen möchte.
Ich war damals das Maskottchen eines ganzen Semesters der Meisterschule in München, wozu ich durch die Verbindung mit der Süddeutschen Zeitung gekommen war. Ich kannte damals einen der Studenten, meinen guten Freund Otmar, der mich gefragt hat, ob ich nicht auf eine Studienreise nach Mailand mitkommen möchte. Eine sehr günstige Reise von 10 Tagen mit bescheidener Unterkunft und Essen in der Mensa der Universität Mailand. Ich sagte begeistert zu und war dann doch etwas schockiert, als ich zu Beginn der Reise dann plötzlich als einziges Mädchen mit im Zug sass. Die jungen Damen auf dem Bahnsteig hatten ihre Freunde nur zum Zug gebracht und sich dann verabschiedet. Da aber eine ganze Mannschaft Professoren mit dabei waren, wurde diese Reise sicher zur bestbewachten die ich je gemacht habe. Diese Gruppe von 98 jungen stattlichen Männern nannte sich "die 32-er", weil sie der 32. Jahrgang der Meisterschule waren. Unglaublicher Weise treffen wir uns, nach 53 Jahren, jetzt noch einmal im Jahr in irgend einer deutschen Stadt. Zu diesen Treffen kommen immer noch zwischen 40 und 50 Personen, jetzt natürlich mit den Ehefrauen, um zu plaudern, zu wandern und etwas Gutes zu essen. Leider sind nun halt auch immer wieder Verluste zu melden, denn diese damaligen Studenten sind nun fast alle über 80 geworden, da lichten sich die Reihen. Solche Freundschaften, glaube ich, entstehen eher aus Notzeiten, die enger als alles andere zusammenschweissen.
Aber als ich dann 1966 für immer in die Schweiz kam, da habe ich gesehen, wie angenehm es auch sein kann, keinen Krieg erlebt zu haben. Man denkt ja auch immer, wenn man von der Schweiz spricht, an Banken und Wohlstand. Natürlich hat auch die Schweiz ein kleines bisschen vom Krieg gespürt und auch in der Schweiz gibt es Armut. Aber das ist trotzdem alles wohl geordnet und beim Staat in guten Händen. Ich habe viele schöne Jahre in Basel verbracht und unser nun vermietetes Mehrfamilienhaus bindet uns noch immer an Freddy's Heimatstadt.
Die schönen Jahre in der Schweiz
Freddy hat sein erstes Studium an der ETH Zürich absolviert und dort zusammen mit einem Freund in einer Zweier-WG gewohnt. "Chez Hedwig" haben wir diese Wohnung genannt, denn die verstorbene Besitzerin hiess Hedwig und hat in dieser Wohnung all ihr Hab und Gut hinterlassen. Ihr Bruder, der Mit-Hausbesitzer, hat sie so wie sie war an Studenten vermietet. In Zürich war es natürlich, wie in allen Universitäts-Städten, sehr schwierig an günstigen Wohnraum zu kommen. Freddy und Kurt waren deshalb vom Glück begünstigt, nur zu Zweit in einer recht komfortablen Wohnung mit Küche hausen zu dürfen. Sogar für die jeweiligen Freundinnen war noch Platz und die beiden Männer übten sich fleissig im Kochen. Nur mit dem Putzen hatten sie es nicht gar so, da habe ich an den vielen Wochenenden, die ich von München aus nach Zürich kam, des öfteren den Staubsauger geschwungen. Insgesamt fast 4 Jahre führten wir eine Fernbeziehung und ich zögerte doch ziemlich lange, dann endlich nach einigen kleinen Umwegen den Umzug zu wagen.
1966 war ich dann so weit und war damals schon fast 27 Jahre alt. Ich hatte bis dahin immer noch bei Muttern gewohnt. Heute ganz unvorstellbar, aber damals praktisch und bezahlbar, denn mein Anfangslohn nach der Schule betrug ganze DM 250.-. Als ich in der Schweiz meine erste Stelle antrat war ein Gehalt von Fr. 800.- für mich schon ein lukrativer Beginn. Insbesondere, weil Freddys Mutter mir eine ganz unglaublich schöne grosse Dachwohnung mit Blick über die Dächer von Basel, für einen Mietzins von Fr. 350.- besorgen konnte. Die Ablösung für diese Superwohnung, von Fr. 8'000.- für eine sehr grosszügige Teil-Möblierung, musste mir damals mein Bruder leihen, weil ich selber nichts gespart hatte. Wie er das damals fertig gebracht hat muss ich ihn gelegentlich mal fragen, denn er war 7 Jahre jünger, hatte eine kaufmännische Lehre gemacht und sein Lohn bei Tengelmann war sicher auch nicht gerade fürstlich. Ich war damals wirklich ein Bruder Leichtfuss, das nicht vorhandene Geld sass mir sehr locker, weil ich ja Kost und Logis bei unserer gutmütigen Mutti bekam. Heute würde ich mich dafür eigentlich ein bisschen schämen müssen, aber dafür ist es nun doch reichlich spät.
Ich war in unserer Familie immer so ein bisschen das "schwarze Schaf", weil ich gerne anders sein wollte als alle anderen und weil das nicht immer in das bürgerliche Gefüge meiner Familie passte. Meine Schwester war die Liebe, Ordentliche, Verantwortungsbewusste und sie wurde mir immer als leuchtendes Beispiel vorgeführt. Das hat leider dazu beigetragen, dass mein Selbstbewusstsein nicht gerade gross war. Ich musste mich produzieren und aufplustern, damit ich auch etwas Beachtung fand. Das hat sicher auch mit dazu beigetragen, dass ich mir phantastische Geschichten ausdenken musste, um mein angeschlagenes Selbstbewusstsein aufzupolieren. Deshalb war es natürlich nicht besonders gut, dass ich so lange zuhause gewohnt habe. Nun war es denn auch an der Zeit, mich abzunabeln und auf eigenen Beinen zu stehen. Es hat lange gedauert, bis Freddy mir ein anderes Bild von mir beibringen konnte.
Nun beginnen also meine Jahre in der Schweiz, mein Erwachsenenleben auf eigenen Füssen und weg von daheim, von Eltern und Geschwistern. Eine Zeit des Aufbaus und der Beginn einer andauernden Liebe und Ehe, wofür ich noch heute sehr dankbar bin.
Ich hatte mich natürlich schon vorher nach einer Stelle umgesehen. Da ich Bücher liebe und durch meine Arbeit in München gute Kontakte hatte, fand ich eine Stelle bei einem bekannten Clichée-Hersteller, der Kunstbücher aller Art vertrieb. Auch meine Französischkenntnisse konnte ich auffrischen und verwenden. Allerdings musste ich lernen, dass in der Schweiz ein ganz anderes Arbeitstempo herrschte als ich es aus München gewohnt war. Ich langweilte mich in meinen ersten Berufsjahren in Basel ganz fürchterlich. Es hat längere Zeit gedauert, bis ich eine Stelle fand, die mich ausfüllte. Gott sei Dank war es zu dieser Zeit sehr einfach, die Branche zu wechseln. Man konnte ohne Probleme kündigen und fand innerhalb kürzester Zeit eine neue Aufgabe und so habe ich etwa alle 3 Jahre einen solchen Wechsel schaffen können.
Freddy war von seinem Studium in Zürich ziemlich enttäuscht und hatte sich entschlossen in Basel noch ein Physik-Studium anzuhängen. Das bedeutete aber auch, dass ich mit meinem Gehalt endlich mal selbst zurechtkommen musste. Einen meiner ersten Löhne habe ich aber dann buchstäblich auf der Strasse verloren. Ich stieg ins Auto ein und bemerkte nicht, dass meine Handtasche mit 800.- Fr. Inhalt nicht mit ins Innere kam, sondern auf der Strasse liegen blieb. Auch die als ehrlich bekannte Schweiz kennt natürlich schwarze Schafe und so war die Tasche samt Inhalt für immer verloren. Wenn meine damals noch nicht Schwiegermutter mir nicht sofort grosszügig geholfen hätte, weiss ich nicht wie ich diesen Verlust verkraftet hätte. Es war mir jedenfalls eine Lehre.
Wir haben auch in Basel noch 3 Jahre lang gezögert mit dem Heiraten, denn wir kannten uns ja doch nur aus zahlreichen Wochenend-Besuchen. Da wollten wir schon ausprobieren, ob unsere Liebe auch ein Leben lang halten würde. Ich wohnte alleine in der grossen schönen Dachwohnung, Freddy blieb weiterhin bei seiner Mutter und Schwester, denn wir wollten die Sache langsam angehen. Ich durfte am Mittagstisch von Karin teilnehmen und natürlich haben wir viel gemeinsam unternommen. Aber Freddy war auch ein Eigenbrötler, der viel freie Zeit für sich und seine Gedanken beanspruchte. Das musste ich erst einmal lernen und bin noch heute froh, dass wir diese lange Probezeit hatten. So wusste doch jeder, was er vom Partner erwarten durfte. Es wäre gut, wenn die heutigen Eheschliessungen auch mit mehr Geduld und besserem Kennenlernen beginnen würden.
Es war eine spannende Zeit, mit wenig Geld, aber vielen guten Freunden und schönen Erlebnissen. Wir hatten einen Freitags-Stammtisch bei mir begründet. Wir sassen bis spät in die Nacht bei einem Glas Wein und guten Gesprächen zusammen. Jeder brachte sein eigenes Getränk und etwas zum Knabbern mit. Der Austausch war wichtiger als Essen und trinken. Ich denke heute noch oft an diese Zeiten zurück, wenn wir uns mit aufwändigen Menüs gegenseitig übertrumpfen wollen. Ich bin gerade dabei, wieder einfachere Gewohnheiten einzuführen, aber das ist leider nicht leicht, keiner will damit den Anfang machen.
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