Sprachliche Manifestationen des Konzeptes „Flüchtling“
Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland
„Flüchtling“ war das „Wort des Jahres 2015“, es hätte ebenso Berechtigung, auch das Wort für 2016 zu werden. Auch wenn man keine Online-Textdatenbank zu Rate zieht, der Begriff allein oder auch als Komposita ist „in aller Munde“ und vielfältig in den Medien.
Ausgehend von der „Genfer Flüchtlingskonvention“ wird der „Konventionsflüchtling“ als eine Person definiert, „die vor Verfolgung wegen ihrer Ethnie, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich ausserhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt.“
Die Zahl der „Binnenflüchtlinge“ ist besonders hoch, diese fallen nicht unter die Konvention, denn sie überschreiten bei ihrer Flucht keine Aussengrenze des Landes, sondern begeben sich nur in einen anderen Teil des Staatsgebietes. Sie flüchten wegen Stammesfehden, weil man ihnen ihr Land und Eigentum weggenommen hat, sie um ihr Leben fürchten müssen oder weil der Staat in der Heimatregion gegen Separatisten vorgeht. „Binnenflüchtlinge“ werden nicht geschützt, hier besteht international die Hemmschwelle, dass sich eine Organisation oder ein Staat in die inneren Angelegenheiten eines Landes einmischen würde, wollte man sich um diese Menschen kümmern.
Ebenso wenig werden die „Wirtschaftsflüchtlinge“ berücksichtigt, Personen, die weder ein ausreichendes Einkommen, noch eine Zukunft im eigenen Land sehen und deshalb in ein anderes auswandern. Grund dazu hat es schon immer gegeben, man denke nur an die Auswanderung vieler Menschen von Europa in die Vereinigten Staaten vor 100 und mehr Jahren.
Aufgrund der Konvention und aus politischen Gründen stehen sich die Auswanderungswilligen als Konkurrenten gegenüber. So ist nicht überraschend, dass Personen, die zur nicht geschützten Gruppe gehören, jedenfalls „per definitionem“, sich als solche ausgeben, die unter die Konvention fallen. Sollten die Fluchtgründe als relevant erachtet werden, kann daraus ein Recht auf Schutz und Aufenthalt im Ausland entstehen, also ein Asylrecht, und der Flüchtling wird durch einen Antrag zu einem Asylbewerber. Das wissen natürlich auch die Personen, die nicht unter die Konvention fallen, und nicht selten geben sie sich als Verfolgte aus, geben ein falsche Herkunftsland an und können angeblich keine Papiere vorweisen, um nicht wieder ausgewiesen und zurückgeschickt zu werden.
Aufgrund der hohen Zahl der aus Kriegsgebieten nach Nordeuropa ziehenden „Kriegsflüchtlinge“ sind die Chancen der anderen, ein Bleiberecht im Land ihrer Wahl zu bekommen, geringer geworden.
Die Wortwahl der massgeblichen Kräfte aus der Politik, Wirtschaft und aus den Medien ist ein Mittel der Politik, so wie es sprachliche Formulierungen schon immer waren, man denke nur an realitätsverschleiernde und simplifizierende Formulierungen aller Art wie zum Beispiel die Euphemismen „Solidaritätsbeitrag“ oder „Industriepark“.
So hören und lesen die Bürger über die „Flüchtlingssituation“ und bei der Diskussion um den Umgang mit Flüchtlingen von „der Flüchtlingswelle“, die sich teilweise „mit „Flüchtlingsbooten“ und mithilfe von „Flüchtlingsschleppern“ über das Mittelmeer über uns „ergiesst“, über das „Flüchtlingschaos“, das dadurch verursacht wird und zur „Flüchtlingskrise“ und zur „Flüchtlingsgrenzthematik“ bei der „Flüchtlingslage“ und zur grossen Frage der „Flüchtlingskoordination“ bei der „Flüchtlingsverteilung“ über die „Flüchtlingserstaufnahme“ als „Flüchtlingsnothilfe“ in „flüchtlingsrelevante Orte“ und „Flüchtlingsquartiere“ in „Flüchtlingsanlagen“ führt, diskutiert im „Flüchtlingsrat“, in „Flüchtlings-Talkshows und –Dokus“, begleitet von „Flüchtlingsprotesten“, die den „Flüchtlingsirrsinn“ in „Flüchtlingskommentaren“ anprangern, unter anderem mithilfe von „Flüchtlings-Tweets“ (wie bei Erika Steinbach, CDU) und durch „Flüchtlingshetze“. Die Notlage der „Flüchtlingskinder“ und „Flüchtlingstraumatisierten“ soll durch „Flüchtlingstrainer“ gelindert werden.
Mit Staaten, die als „sichere Herkunftsstaaten“ definiert werden, soll es einen „Flüchtlings-Deal“ geben, mittels dem Personen aus diesen Ländern wieder „abgeschoben“ werden können.
Über die „Flüchtlingsintegration“ wird schon lange gesprochen, schon sollen sich „Flüchtlings-Jobbörsen“ bilden, und „Flüchtlings-AGs“ zur Hilfe in die Selbstständigkeit, alles im Internet mit Unterstützung von „Flüchtlings-Netzwerkern“.
Das alles erklärt noch nicht das „Flüchtlingsrätsel“, die Frage nämlich, warum es auf einmal so viele sind, die ihre Heimat verlassen und vor allem nach Deutschland und Gross-Britannien wollen, und dabei auch „Flüchtlingsgrenzerstürmungen“ auf die „Fluchthindernisse“ wagen.
Landauf, landab wird über die „Flüchtlingsproblematik“ diskutiert, die einen sehen das Abendland „in ihrer christlichen Prägung“ bedroht, die anderen ihren Lebensstandard und –status. Die einen sind der Meinung, sie „überfordere“ nicht nur die Politiker, nicht nur einzelne Gemeinden, sondern das ganze Volk, die anderen wollen die politischen Kräfte daran hindern, „Flüchtlingsintegration“ zu betreiben, zünden „Flüchtlingsunterkünfte“ an und rufen zu „Anti-Flüchtlings-Demonstrationen“ auf.
Kaum jemand fordert zur Gelassenheit auf, allenfalls noch die Bundeskanzlerin, von der die FAZ schreibt:
„Das muss man der Kanzlerin lassen: Eine Umfallerin ist sie nicht. Die Frau, der man lange nachsagte, keine eigenen Überzeugungen zu haben, in der Mitte des Stromes zu schwimmen und über Nacht ihre Politik zu ändern, wenn ihr das grössere Zustimmung einbringt, stemmt sich unbeirrbar gegen den Sturm, der ihr in der Flüchtlingsfrage ins Gesicht bläst.“
Und sie zitiert:
„Man ist nicht Politiker dafür, dass man die Welt beschreibt und sie katastrophal findet“: Angela Merkel im Fernsehstudio von Anne Will. (Die Schwachstellen in Merkels Formel)
Angela Merkel „schwimmt“ also nicht mehr „in der Mitte des Stromes“, ja sie „stemmt sich unbeirrbar gegen den Sturm, der ihr ins Gesicht bläst.“ (Sind das nicht ‚wunderschöne’ Metaphern?)
Heisst das, sie ist jetzt „an Land gegangen und trotzt den Widrigkeiten“, ungeachtet der Konsequenzen hinsichtlich ihrer politischen Zukunft?
Was wird in einigen Jahren, wenn sie nicht mehr die Spitzenpolitikerin sein wird, wohl in den Geschichtsbüchern stehen? Vielleicht: „Die Frage, wie mit der „Flüchtlingsfrage“ umzugehen sei, wurde zu ihrem persönlichen Schicksal?“
Noch wird unter der Überschrift „Flucht und Vertreibung“ vor allem dem Schicksal derer gedacht, die 1945 und danach aus den ehemals deutschen Ostgebieten fliehen mussten. Vielleicht wird diese Überschrift demnächst auch auf die heutige Situation hinweisen!
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