Italiener-Einwanderung als Kulturphänomen
Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH
Der hier im Textatelier veröffentlichte Essay über die Italiener-Einwanderung als Kulturphänomen in der Deutschschweiz erschien vor Wochenfrist gekürzt in der Schweiz am Sonntag. Nach einer längeren Pause, bedingt durch die Publikation der 300seitigen Schulgeschichte von Beromünster, erscheinen nunmehr wieder Beiträge von Pirmin Meier. Nach der Tradition des Textateliers, wie von Walter Hess stets gehandhabt, ungekürzt und insofern auch textlich von dokumentarischem Wert. Der hier abgedruckte Beitrag enthält überdies noch eine Präzisierung zum Begriff „Überfremdung“, welcher im Zusammenhang mit der Einwanderung von Italienern aufgekommen ist, wobei bemerkenswerterweise der konfessionelle Aspekt – nach dem Historiker Stefan Hess – speziell betont wurde.
Dass Einwanderung von Italienern im Tessin anders wahrgenommen wird als in den anderen Teilen der Schweiz, verwundert nicht. Dabei hatte „der Italiener“ zu allen Zeiten nördlich der Alpen sein eigenes, zum Teil umstrittenes „Image“. Die Zuwanderung von Italienern war neben den wirtschaftlichen Gegebenheiten oft eine kulturelle Herausforderung. Das Verhältnis zwischen nachbarschaftlichen Volksgruppen mit unterschiedlicher Kultur konnte naturgemäss nie „emotionslos“ betrachtet werden.
Die Erschliessung des St. Gotthard im 13. Jahrhundert intensivierte nicht nur das Verhältnis der Innerschweiz, des Aargaus und des Thurgaus zur nachmaligen italienischen Schweiz. Auch die Beziehungen zu Italien wurden intensiver. Was für Bern, Solothurn und die Westschweiz die Stadt Paris bedeutete, wurde für Luzern und die Urkantone Mailand. Die Mode, zum Beispiel Schnabelschuhe und spezielle, die Männlichkeit betonenden Hosen wurde von dort bestimmt. Landsgemeinden des Spätmittelalters glaubten dieser „Unsitte“ mit Kleiderordnungen begegnen zu müssen. Italienische Händler, auch reisende Gelehrte wurden „Venedigermännlein“ genannt. Man traute ihnen magische Fähigkeiten zu. „Die können mehr als Brot essen“, sagte man.
Was Fremdsprachen betrifft, so betonte der Präfekt von Luzerns höherer Lehranstalt, der berühmte Historiker Joseph Eutych Kopp (gest. 1866), noch in der Zeit vor 1848 das Italienische als wichtigste moderne Fremdsprache. Danach erst wurde Französisch empfohlen, Englisch nur an dritter Stelle. Auch das Kollegium Carlo Borromeo in Altdorf, die einzige höhere Schule im Kanton Uri, pflegte neben dem Lateinischen (unterdessen abgeschafft) hauptsächlich das Italienische. Die Praxis hing mit den alten Herrschaftsverhältnissen im Tessin zusammen. Italien blieb kulturell, nebst Mailand vor allem Bologna und natürlich Rom, für die katholische Schweiz in vielem kulturell massgebend. An der Fremdheit des Italienischen und der Italiener, die früher ihrerseits „Welsche“ genannt wurde, änderte dies aber wenig. Für die Deutschschweizer, seien es die Alpinen oder Mittelländer, behielt das italienische Temperament lange etwas Unheimliches.
Das hochemotionale Messerstecher-Motiv
Das Phänomen lässt sich über die Schweiz hinaus in der deutschen Literatur verfolgen. Motto: „Sage mir, wer du für einen Messerstecher hältst, und ich sage dir, welcher Ausländer für dich der Unheimlichste ist.“ Was heute an ein noch nicht lange zurückliegendes SVP-Wahlkampfmotiv erinnert, Kriminelle aus dem Balkan instrumentalisierend, galt einige Generationen früher als italienische „Spezialität“. Daran erinnern zwei Episoden aus der Zeit kurz vor 1900,. Damals waren erstmals in grösserem Ausmass italienische Saisonarbeiter in der Schweiz beschäftigt. Im heissen Juli 1896 kam es im Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl zum berüchtigten „Italienerkrawall“. Dahinter steckte eine Messerstecherattacke eines Saisonarbeiters gegen einen Elsässer. Die kriminelle Handlung war der Tropfen, der ein Fass, gefüllt mit sozialen Spannungen, sozusagen zum Überlaufen brachte. Es kam zu handgreiflichen Auseinandersetzungen von Zürcher Jungturnern mit italienischen Arbeitern.
Dass in der Stadt Zürich zur Wahrung der öffentlichen Ordnung dann neben der Polizei sogar Rekruten eingesetzt wurden, deutete auf eine gravierende Problemlage hin. Der Boom und das Wachstum der Zeit zwischen 1870 und 1914 hatte soziale Begleiterscheinungen, welche von den Repräsentanten von Politik und Wirtschaft lange unterschätzt wurden. Der Ausdruck „Fremdenhass“ war wohl damals schon eine verkürzte Darstellung einer weit komplexeren Problemlage. Aber es war klar: die kulturellen und mentalitätsmässigen Unterschiede zwischen Einheimischen und Fremden bargen in Verbindung mit den sozialen Problemen ein dynamisches Konfliktpotential.
Der Zürcher „Italienerkrawall“ war nicht das einzige Ereignis, das in einer frühen wirtschaftlichen Hochkonjunktur die Emotionen hochgehen liess. 1893 erregte in Luzern die Mordtat eines Ferdinando Gatti gegen eine junge Luzerner Lehrerin heftigstes Aufsehen. Der Italiener hatte der Einheimischen den Bauch aufgeschlitzt. Jack the Ripper in Luzern! Und erst noch ein südländischer Messerstecher! Gegen Gatti kam dann die Guillotine erbarmungslos zur Anwendung. Dieselbe, die 1939/40 noch gegen die Mörder Irniger und Vollenweider zum Einsatz kam. Im Zusammenhang mit Gatti spielte noch ein demokratisches Moment des Todesurteils: Unter Namensruf lehnte das Luzerner Kantonsparlament die Begnadigung des Messerstechers fast einhellig ab. Der Entschluss war wohl nicht primär auf die Nationalität des Täters zurückzuführen, wiewohl natürlich die Bestätigung des Klischees vom Messerstecher das Ihrige zu dieser hoch emotionalen Affäre beigetragen hat.
„Italienerkrawall“ und „Mordaffäre“ haben aber in der Zeit um 1900 das damalige Bild des Italieners nicht schlechthin bestimmt. In der Region Baden führte die um 1898 in Betrieb genommene Zementfabrik an der Lägern in Oberehrendingen zu einer beachtlichen Beschäftigung von Italienern, und zwar solchen, die frühe Beispiele für gelungene Integration abgaben. Dabei war die sogenannte Pionierzeit der Zementindustrie mit wirtschaftlichen und sozialen Problemen verbunden. Dass die Lägern-Zementfabrik schon bald wieder geschlossen wurde und 1909 bis auf ein Restgebäude gesprengt, hing mit dem damaligen Wirtschaftskrieg der Zementfabriken zusammen. Es gab indes Italiener-Familien, wie die Pasi von Ehrendingen, die auch nach dem Untergang der Zementfabrik im Dorf blieben, notabene als eine fromme katholische Familie. Auch in der späteren Portland-Zementfabrik in Station Siggenthal, gegründet 1912, arbeiteten viele unbescholtene Italiener.
Zur Begriffsgeschichte der „Überfremdung“
Der Begriff „Überfremdung“, heute vor allem im Zusammenhang mit den Volksinitiativen von 1970 und 1974 in Erinnerung, mit den Nationalräten James Schwarzenbach und Valentin Oehen als Propagandisten, stammt aus der Zeit um 1900. Als Erfinder des Wortes gilt der Zürcher Armensekretär Carl Alfred Schmid. Nach dem Basler Kulturhistoriker Stefan Hess, der den „Italienerkrawall“ im Historischen Lexikon der Schweiz dargestellt hat, ist der Begriff jedoch noch älter. Schon in den 1890-er Jahren soll von Überfremdung die Rede gewesen sein, und zwar bemerkenswerterweise im Zusammenhang mit der Zuwanderung von Katholiken ganz allgemein.
Wenig bekannt ist, dass um 1914 die damals gegründete Neue Helvetische Gesellschaft sich ihrerseits am Überfremdungsdiskurs beteiligte. Das Engagement für Auslandschweizer, für den Verein stets bedeutsam, war mit einem entschiedenen Patriotismus im Innern verbunden. Es ging, in wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Hinsicht, um schweizerische Identität, auch um die Förderung des nationalen Gesichtspunkts in der Wirtschaft. Statt von Überfremdung war von „Verfremdung“ die Rede. So verkündete der Berner Jurist Gerhard Steck am 3. April 1914 in der Schaffhauser Gaststätte „Zum Frieden“ vor den Mitgliedern der NHG ein Manifest, das ähnlich tönte wie die Propaganda zur Zeit der Überfremdungsparteien „Volk und Heimat“ sowie „Schweizerische Republikanische Bewegung“ in den Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts:
„1870 betrug die Zahl der Ausländer 5,7%. 1900: 11,8%. 1910: 15%; die industriellen Zentren weisen noch viel bedenklichere Zahlen auf. Zürich: 20%, St. Gallen, Schaffhausen und Tessin zwischen 17 und 28%; Genf zählt 53 französische Vereine, von denen 26 politische Ziele verfolgen. Diese „Muss-Schweizer“ sind zu assimilieren, sonst könnten wir durch sie assimiliert werden.“
Die damalige Agitation richtete sich hauptsächlich gegen Ausländer, sondern war vor allem ein Appell für Schweizer Waren, Schweizer Werte und Schweizer Qualität. In der Zeit des Ersten Weltkrieges verschaffte sich dieses Gedankengutrin Aktionen einer wirtschaftsorientierten „Schweizer Woche“ Ausdruck. Ein Pionier dieser Aktivitäten, die 1931 zur Kreation des Armbrustzeichens (für Schweizer Qualität) führte, war der Schaffhauser Zahnpasta-Hersteller Werner Minder, Grossvater des derzeitigen Ständerates und Swissness-Politikers Thomas Minder.
Dass bei den Auseinandersetzungen um die Überfremdung in der Zeit vor 1914 sowie ab den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts die Italiener eine Hauptrolle spielten, wirkt in der Deutschschweiz heute bereits historisch, während die Virulenz im Tessin eher zunimmt. Für die Politiker James Schwarzenbach und Valentin Oehen, beide mit guten Italienischkenntnissen, war das Tessin noch ein steiniger Boden. Heute verhält es sich bei der Zuwanderungsdebatte beinahe umgekehrt. Womit sich zu bestätigen scheint: Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse haben ihre entsprechenden Auswirkungen auf das politische Verhalten.
Umstrittenes Italienerabkommen
Zu den teilweisen Parallelen zu heutigen politischen Auseinandersetzungen gehört das im März 1965 im Nationalrat ratifizierte sogenannte Italienerabkommen. Es sorgte auch im Parlament für heisse Köpfe, obwohl James Schwarzenbach (1911 – 1994) als erster eigentlicher Überfremdungspolitiker erst 1967 im nationalen Parlament Einsitz nahm . Es gab immerhin 27 Neinstimmen. In seinen Folgen wurde der damalige Vertrag als fast so heikel empfunden wie die heutigen bilateralen Verträge mit der Europäischen Union. Bundesrat Hans Schaffner, der damalige Wirtschaftsminister im Ruf eines Staatsmannes, wunderte sich, wie die Zusammenfassung der fremdenpolizeilichen Praxis und die Regelung des Saisonnierstatuts und des Familiennachzugs so starke Emotionen auslösen konnten. Die „Saison“ der ersten (zurückgezogenen) und der zweiten, von Nationalrat James Schwarzenbach propagierten Überfremdungsinitiative kündigte sich an. Der Achtungserfolg am 7. Juni 1970 war insofern bedeutsam, als das Thema zuvor noch mit erheblichen Tabus belegt war.
Was die damaligen Diskussionen um die Überfremdung betraf, gab es im Zusammenhang mit den Italienern eine doppelte Thematik. Einerseits die Konkurrenz am Arbeitsplatz, nicht zu vergessen der Mentalitätsunterschied. Dies stellte der Arbeiterschriftsteller Karl Kloter (1911 – 2002) in seinem Roman „Salvatrice“ dar. Unterschwellig gab es aber noch andere Gesichtspunkte, die selbst dem Politiker James Schwarzenbach Kopfzerbrechen verursachten. Bei einer konservativ eingestellten ländlichen Bevölkerung in den Kantonen Zürich, Bern und zumal auch im Berner Aargau manifestierte sich nämlich eine Furcht vor der „Rekatholisierung“ der Schweiz durch italienische, spanische und portugiesische Einwanderung. Schwarzenbach war dieser Gesichtspunkt insofern leicht peinlich, weil er, Sohn einer erzprotestantischen Zürcher Industriellenfamilie, selber zum Katholizismus übergetreten war.
Von Bedeutung bleibt aber, dass Zuwanderung damals wie heute tatsächlich auch unter dem Gesichtspunkt konfessioneller Veränderungen wahrgenommen wurde. Wer einmal in der Mehrheit war, lässt sich ungern in die Minderheit versetzen. Dieser Gesichtspunkt spielte schon um 1920 eine Rolle, als um den Anschluss des katholischen Vorarlberg an die Schweiz debattiert wurde. Nicht nur die Westschweizer, auch viele Protestanten besorgten sich damals um ein labiles nationales Gleichgewicht. Eine mögliche Bilanz: Unabhängig von der Frage, ob die Befürchtungen berechtigt seien oder nicht, gehört es wohl zur politischen Hygiene, dass die entsprechenden Einschätzungen offen auf den Tisch gelegt werden. Was nicht debattiert wird, kann sich früher oder später in einen gesellschaftlichen und politischen Sprengstoff verwandeln.
Zum Verfasser:
Pirmin Meier, Autor, Gymnasiallehrer und ehemaliger Redaktor im Aargau, versteht sich als „Kultur-Erzähler“. Soeben ist sein Buch „Schola Beronensis“ erschienen, nebst der Geschichte der uralten Schule von Beromünster eine Kulturgeschichte des Gymnasiums mit der Entstehung des Begriffs „Mittelschule“ und Beiträgen z.B. zur Geschichte des Italienisch-Unterrichts. Das Buch ist für Fr. 36.- bestellbar unter info.ksber@edulu.ch oder in der Wyna-Buchhandlung Reinach, der Buchhandlung Hirschmatt in Luzern sowie in der Buchhandlung zum Untertor in Sursee.
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