Textatelier
BLOG vom: 01.10.2016

St. Gotthard – Zum Porträt eines Passheiligen

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH


Motto: Et eunt homines mirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et oceani ambitum et gyros siderum, et relinquunt se ipsos. Und die Menschen gehen hin und verwundern sich über die Höhen der Berge, das menschenferne Wogen des Meeres, das Dahingleiten der Flüsse, die Krümmung des Ozeans, den Zodiac der Gestirne und vergessen darüber sich selber. Augustinus: Aus dem 10. Buch der Bekenntnisse (übersetzt von P.M.)


Red. Um unsere Füsse zu leiten auf dem Wege des Friedens (Gotthard von Hildesheim) - Das letzte Wort des Passheiligen und was daraus wurde. Eine historische Miniatur mit Impressionen aus Hildesheim, dem Gotthardpassgebiet, dem Wallis, Lugano, wo der heilige Gotthard an Pfingsten des Jahres 1004 eine Messe hielt. Für Pirmin Meiers Arbeit typische Gesichtspunkte der Schweizergeschichte, die in keinem Lehrmittel und natürlich auch nicht via Wikipedia zu erkunden sind.

Hildesheim, am 4. Mai 1038. Den befestigten, aber noch nicht geweihten Stiftsbau auf dem Zierenberg hat der Bischof Godehard zu seinem Golgatha erwählt. Es ist, mit der Kapelle des heiligen Mauritius daneben, seine persönliche Einsiedelei. Stirb wie Christus! Für den Ernstfall, die reale Begegnung mit Gott, liegt ihm die bischöfliche Behausung beim Dom nicht hoch genug. Wie Christus will er auf einem Hügel sterben. Den vorangegangenen Tag, das Fest Kreuzauffindung, hat der Bischof überlebt. Gestärkt in der Betrachtung des Heiligen Kreuzes, wie Kaiserinmutter Helena es in Jerusalem aufgefunden hat.

Stirb wie Christus! Ist leichter gesagt als getan. In der Gunst des Kaisers und als Stadtbischof stand ihm eine Kreuzigung nicht zu. Justinus Martyr, der Heilige des heutigen Tages, war Glaubenszeuge. Nichtsdestotrotz hielt er es mit der Philosophie. Das Martyrium deutete er nach der stoischen Lehre um in Ekpyrosis, Feuerwerdung. Eine armdicke Kerze leuchtet neben dem Bekenner Godehard. Das Linnen, auf das vereidigte Krankenbrüder den Sterbenden bei Sonnenaufgang gelegt haben, ist ganz rein. Im Patienten sehen die Pfleger Christus ihren Herrn.

Neun Schläge zeigt die Glocke an. Die dritte Tagesstunde von heute Donnerstag. In der nahen Kirche St. Michael, einem von Godehard vollendeten Bauwerk seines Vorgängers Bernward, singen Mönche ein feierliches Hochamt. Gebetet wird zum Tagesheiligen Justinus. Und natürlich zum Kirchenpatron, dem Erzengel Michael, Geleiter der Toten und Waagmeister der Seelen. Auch die Fürbitte zum zweiten Reichspatron, dem heiligen Mauritius mit Gefährten, wird erhoben.

Eine Stunde später, nachdem sie in der Kirche gesungen haben, umstehen vier Schüler sein Bett. Gestern sind es noch deren fünf gewesen. Sänger der fünf Wunden des Herrn am Heiligen Kreuz. Als krank entschuldigt ist der Repräsentant der Herzwunde, unter den jungen Männern der ihm Liebste dank seiner Malkunst. Der Sohn einer Witwe lebt mit seiner Mutter am Domplatz. Was er zeichnet oder malt, macht die himmlischen Wohnungen sichtbar. Das Quartett der Domschüler singt heute abermals  Psalmen vor. Der Bischof scheint das Bewusstsein verloren zu haben. Er vermag keine Segensgeste mehr zu machen. Der Schluss des Benedictus aber lässt ihn aufmerken: „Erleuchte diejenigen, die in Finsternis und Todesschatten sitzen.“ Zur Antwort lässt sich der Sterbende vernehmen: Um unsere Füsse zu leiten auf dem Wege des Friedens.

Mönche kommen herein. Nach dem Gloria patri, Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste, stimmen sie eine Antiphon an. Bei den Worten „Ich steige auf zu meinem Vater und eurem Vater“ hört Godehard auf zu atmen. Mit Glockenklang und Jammergeschrei bezahlter Totenbeterinnen, die keinen Zugang zum Sterbezimmer bekommen haben, verbreitet sich die Nachricht vom Ableben des Oberhirten. Der kranke Junge, der die Psalmen hätte mitsingen sollen, hört die Neuigkeit noch. Dann folgt er dem Ruf des verstummten Stadtvaters. Beim Greis wie bei einem frühvollendeten Knaben, und wäre er erst geboren, macht der Zodiac des Lebens eine volle Drehung durch. Eine Todesstunde birgt oder verbirgt eine Botschaft. Manchmal versteht man nachträglich etwas davon.

Um unsere Füsse zu leiten auf dem Wege des Friedens. Die ehrwürdige Legendensammlung Bavaria Sancta  verlässt sich auf die in zwei Versionen überlieferte Vita Godehardi, die Biographie aus der Feder des Mönchs Wolfher. Mit diesen Worten mag ein Mensch gestorben sein. Dafür ist er als Passheiliger neu auf die Welt gekommen. Von dieser seiner Bestimmung für die innerweltliche Ewigkeit hat Godehard zu Lebzeiten nichts gewusst. Die Überlieferung stilisiert sein Vermächtnis. War er in Zürich dabei, an jenem 17. Juni 1004, als sein König Heinrich II., ehemaliger Domschüler von Hildesheim, einen Landfrieden für das Herzogtum Schwaben befehlen liess? Der Herrscher war damals noch nicht zum Kaiser gekrönt.

Horcht man auf Hildesheims Industriegeschichte, könnten mit „Füssen“ sogar die Reifen der Automobile mitgemeint sein, auch solche der Zweiräder und Dreiräder. Als die Wetzell Gummiwerke gegründet wurden (1878), sollten bis zur Patentierung  des Gasbetriebenen Motorwagens Nr. 1 von Carl Benz durch das Kaiserliche Patentamt noch fast acht Jahre verstreichen. Die für Passanten lästige Meldung Stau am Gotthard wäre bei der Gründung der Firmen Phönix (1856), Continental AG  (1869) noch unverständlich gewesen. Sie alle haben auf dem Moritzberg, der seinen Namen dem heiligen Godehard und dem von ihm auf dem Berg begründeten Stift Sankt Mauritius verdankt, zeitweilig eine Produktionsstätte betrieben.
                      
Wer denkt daran? Der auf Beschilderung der Autobahnen auf grünem Feld geschriebene Name, einen Alpenpass bezeichnend, stand einst für einen lebendigen Menschen. In Reichersdorf bei Niederaltaich (Bayern) steht ein Bauernhaus im Ruf, das Geburtszimmer des heiligen Godehard zu bergen. Die Schüler des St. Gotthard-Gymnasiums Niederaltaich werden zum St. Gotthardstag, 5. Mai, Tag der Beisetzung und Tag der Erhebung der Gebeine, noch im dritten Jahrtausend zur Fusswallfahrt nach Reichersdorf geschickt. Vergleichbare Bräuche in anderen, oft säkularisierten Stiftsschulen, so vom tausendjährigen Gymnasium Beromünster im Kanton Luzern, sind unterdessen zu einem weltlichen Wandertag unter dem Regime der Fachschaft Sport umgewandelt worden. 2006 wurde  das ehemalige Hospiz St. Gotthard auf dem Gebiet des Kantons Tessin zum Ziel einer Art Sternwanderung gemacht.

Am Tor zur Deutschschweiz, bei der Zufahrt in italienische Lande: Sankt Gotthard. Woche für Woche durch Meldungen des Strassen- und Schienenverkehrs namentlich in Erinnerung gerufen, hält der Entleibte Wache. Die Passhöhe liegt fast genau 2000 Meter höher als der Sterbeort des Heiligen. Moritzberg, einst eine selbständige Gemeinde mit Stift und Stiftskirche, nördlich angrenzend an das ehemalige Dorf Himmelsthür, liegt bescheidene 109 Meter über Meer.

Dank Gemeindereform handelt es sich bei Moritzberg und Himmelsthür mittlerweile um Stadtteile von Hildesheim. Den Ortschaften ist ein Ortsrat mit Bürgermeister verblieben. Um die heimatgeschichtlichen Belange kümmert sich der Verein Kultur und Geschichte vom Berge e.V. mit seinem Vorsitzenden, dem Historiker Dr. Stefan Bölke. Ihm verdankt der Verfasser dieser Studie einige Auskünfte, die über das auf der Homepage Mitgeteilte hinausgehen. Das Wappen von Moritzberg, von Kaiser Ferdinand 1652 bestätigt, enthält - wie dasjenige von St. Maurice im Wallis - das Kreuz des heiligen Mauritius. Dazu noch den zur Ikonografie von Sankt Gotthard zugehörigen Drachen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts schenkte der Bischof von Hildesheim der Pfarrkirche Maria Himmelfahrt in Göschenen, Kanton Uri, eine winzige Knochenrelique seines heiliggesprochenen Vorgängers. Godehard war, vom Andreastag (30. November) 1022 bis zu seinem Tode am 4. Mai 1038 in Niedersachsen Ortsbischof. „Die Ausfahrt Göschenen ist gesperrt.“ Die Routinemeldung der Verkehrsinformation von Radio SRF gilt nicht für den, der sucht statt vorbeifährt.

„Wer darf den Berg des Herrn besteigen, wer an seinem heiligen Orte stehn?“ Es war für den Erwählten nicht leicht, in Hildesheim, wohin Kaiser Heinrich II. seinen vertrauten Ratgeber zum Bischof berufen hatte, einen geeigneten, von Europas Flachland genügend abgehobenen Kultort zu finden. Für einen gebürtigen Bayern, der für Heinrichs Krönung zum König von Italien die Alpen überquert hat, müssen die Steigungen bei Hildesheim, dessen Rathaus 92 Meter über Meer in leichter Höhenlage erbaut wurde, gewöhnungsbedürftig gewesen sein. „Villa montis“, Bergdorf, wird im Jahre 1264 die Anhöhe auf dem Zierenberg genannt, heute Hildesheims Stadfraktion Moritzberg. Mit knapp 110 Meter über Meer im untergegangenen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ein zum Kopfschütteln niedriges Bergdorf. Von der Ecke Nikolaistrasse, dem tiefsten Punkt der Stadt Hildesheim, 76,5 Meter über Meer, beginnt es die Bergstrasse zum Moritz hinauf recht ordentlich zu schrägen. So erklärt es mir der Historiker Dr. Stefan Bölke, Vorstandsvorsitzender des Kulturvereins, wohnhaft an der Bergstrasse 59. Die Höhendifferenz beträgt 32,5 Meter. Acht Meter höher als das Gefälle des Rheinfalls. Der Strudel unterhalb Schaffhausen vermochte bei bischöflichen Mitbrüdern von Godehard wie Ulrich von Augsburg und Konrad von Konstanz Anwandlungen von Schauder und Entsetzen zu provozieren. Auf dem Moritzberg hat sich schon zu frühchristlicher Zeit ein Bapisterium, ein Taufbau, befunden. Vielleicht vergleichbar mit der ältesten diesbezüglichen Anlage in Agaunum, heute St. Maurice im unteren Wallis.

Stieg der erwachsene Täufling wohlvorbereitet ins Taufrund hinein, im durchsichtigen weissen sakramentalen Gewand, musste er sich im geweihten Wasser mindestens einmal umdrehen, „kehren“. So sei das Wort Bekehrung zu verstehen, erklärte der Walliser Abtbischof zu ihrer Fortbildung herbeigereisten Lehrerinnen. Dass Godehard noch als Abt von Niederaltaich den heiligen Ort im Wallis besucht hat, bleibt denkbar. Als Termine in Frage kommen die frühen Italienfeldzüge seines Königs, einerseits1004, andererseits 1012, das Jahr der Kaiserkrönung mit der erstmaligen Verwendung des Reichsapfels als Symbol weltumspannenden Herrschaftswillens. Stets ging es dabei kriegerisch zu. Wer nicht in der Art eines Landsknechts kämpfte, dem standen die Waffen des Gebetes und der Wallfahrt zur Verfügung. SIC STERNITUR HOSTIS, so wird der Feind niedergestreckt, steht in einer Wallfahrtskirche oberhalb von Luzern als lateinischer Bildkommentar, Lemma, zur Gegenüberstellung von Steinschleuder und Rosenkranz. Die barocke Perspektive von Hergiswald gilt für die Zeit der Kreuzzüge, also das 11. und 12. Jahrhundert, erst recht.

Der als villa montis, „Bergdorf“, urkundlich in die Geschichte eingetretene Moritzberg mit Ortsteilen wie Godehardikamp und der mit Fabrikationsstätten überbauten Schützenwiese war bis vor kurzem eine Industriehochburg. Der für den Raum Hildesheim bedeutende schon genannte Arbeitgeber Wetzell wurde nebst anderem ein Qualitätsbegriff für Hochdruckschläuche. Über dem aufgehobenen Industriestandort, von dem sich ein „alter Schornstein“  rhalten hat, wurde ein Einkaufszentrum mit Geschäften und Supermärkten hochgezogen. Büroräume ergänzen die Modernisierung der Arbeitsplätze.

Im Zusammenhang mit der Beschäftigung von Zwangsarbeitern bei Wetzell zur Zeit des Zweiten Weltkrieges wirbt eine von Klaus Schäfer, Fraktionsgeschäftsführer der Grünen in Hildesheim mitbetreute historische Homepage, für Vernetztes Erinnern. Wohl schon 1028 war es die Arglist der Zeit, die Hildesheims Bischof Godehard veranlasste, den nach einem afrikanischen Glaubenszeugen umbenannten Berg mit Wall und Graben zu befestigen. So wie 900 Jahre später das Gotthardmassiv von der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur monumentalen Alpenfestung ausgebaut wurde. Das Herzensanliegen des 1939 gewählten Oberkommandierenden, General Henri Guisan. Noch von einigen Festungswächtergenerationen der Réduitbrigade 23 betreut, wurde das aufwendigste  Fort der Alpen vor der zweiten Jahrtausendwende zum Museum entsorgt. Der Verkehr rollt nach wie vor, auf Strasse und Schiene, durch das für die strategische Lage der Schweiz bedeutsame Gotthardmassiv. Ab 2017 mit der 62 Kilometer langen Untertunnelung der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT). Das hier konzentrierte Granitvorkommen soll so hart und stabil sein, dass darüber, gestossen von Afrika, die Alpen aufgefaltet wurden. So wenigstens lernten es die Schweizer Schulkinder im Geographieunterricht. Das Fach ist heute, wie Geschichte, auf den Kompetenzbereich Mensch und Umwelt pädagogisiert.

Der Verfasser dieser Studie war Rekrut in den Anlagen der oben genannten Réduitbrigade. Später diente er in deren Brudereinheit, der Réduitbrigade 22. Der Auftrag, eine Wiederholung des Franzoseneinfalls 1798 in Nidwalden durch Vorbereitung von Artilleriestellungen im Schoss des Mutterschwandenbergs zu verhindern, schärfte das Geschichtsbewusstsein. Unvergessen bleibt im Rückblick auf die Rekrutenschule der nichtendenwollende unterirdische Treppenaufstieg ab Airolos Schienenhöhe bis hinauf zur Gotthardfestung Motto Bartola. Unweit davon der turmartige Geschützstandort San Carlo, Kaliber 10,5, benannt nach Carlo Borromeo, dem für die Förderung der Bildung in der katholischen Schweiz verdienstvollen Mailänder Erzbischof. Im Innern des Berges war vielleicht an die Tunnelheilige Barbara zu denken. Oben angekommen beim Ausstieg atmete man auf, wirkte der als Rustico getarnte Ausgang weg von der Festung fast wie Sankt Gotthards Himmelstür. Nur ein bisschen höher gelegen als das gleichnamige Dorf bei Hildesheim. Wen interessieren heute noch alle diese Details? Eine Antwort an den ungeduldigen Leser: Für eine vergleichbare Detailtreue, damals gegenüber einem deutschen Agenten, wurden noch 1942 zwei Unteroffiziere der Schweizer Armee als Landesverräter hingerichtet.

Weil die seinem Namen gewidmete Kapelle oben beim OSPIZIO SAN GOTTARDO auf 2114 Metern über Meer um das Jahr 1170 und dann wieder am 26. August 1230 je von einem Mailänder Erzbischof geweiht worden ist, wird der Passheilige mit der lombardischen Metropole in Verbindung gebracht. In Mailand sind zwei Kirchen und eine Geschäftsstrasse nach ihm benannt. Die Istambul Pizza Kebab San Gottardo, am Corso di San Gottardo unweit der Porta Ticinese leicht auffindbar, kombiniert Essgewohnheiten Süditaliens mit der von den Türken eroberten Urheimat des heiligen Nikolaus. Der Bischof von Myra, dessen Feiertag am 6. Dezember bis auf weiteres kein Kind vergisst, wurde zum Urvater aller Passbeschützer und Verkehrsheiligen. Sankt Gotthard gehört zu ihnen, als einer der markantesten aus ihrem Chor. In Hildesheim wurde der 5. Mai, der Tag der Erhebung der Gebeine des heiligen Godehard, zu einem beliebten Markttermin. Eher zufällig, zum 15. Jahrestag der Unterzeichnung der Satzungen für den Europarat 1949, wurde 1964 Sankt Gotthards Ehrenfest zum Europatag erklärt.
 
Sind vor Gott nach dem Psalmwort 1000 Jahre wie ein Tag und eine Nachtwache, fällt die Pfingstmesse in Lugano am 4. Juni 1004 genauso ins Gewicht wie die Fernsehnachrichten von gestern. König Heinrich II., wie der von ihm lebenslänglich geförderte Godehard heiliggesprochen, liess sich in Lugano von seinen geistlichen Ratgebern, darunter Bischöfen und Äbten, das Pfingsthochamt singen. Anschliessend übernachtete man beim Weiler Grumo vor dem Monte Ceneri. Dort richtete die fahrende Armee für sich selber und ihre Regierung ein Zeltlager auf. Es war weiter von der Stadt Lugano entfernt als kurz zuvor das Lager vor den Mauern von Pavia. Letzteres war mit den unangenehmsten Erinnerungen an den Italienfeldzug verbunden.

Der drei Wochen zurückliegende 14. Mai in Pavia war nicht so verlaufen, wie man sich einen Krönungstag vorstellt. Kaum hatte der dortige Bischof dem deutschen Herrscher und Besieger des Herzogs Aldwin die eiserne Krone der Lombardei aufs Haupt gesetzt, kam es zum Volksaufstand. Die Sicherheit des Königs in der Stadt war nicht mehr gewährleistet. Aus technischen Gründen, mangels eines Alarmsystems, sahen sich Heinrichs Beamte gezwungen, einen Teil der Stadt anzuzünden, um den Hauptharst zur Erlangung der Kontrolle über die Stadt ins Innere zu bewegen. Bei seinem ersten Italienzug, provoziert durch den Usurpator der lombardischen Krone, den Herzog Aldwin, hatte sich der Herrscher über das Heilige Römische Reich Deutscher Nation noch nicht daran gewöhnt, dass es in Oberitalien bis hinauf zur Leventina kommunale Selbstverwaltung gab. Am 31. Mai urkundete der König in der Stadt Rho bei Mailand. Die Residenz des Erzbischofs liess der Tross aussen vor. In Varese gab es reichlich Speis und Trank. Es wurde Zeit, über den Italienfeldzug Bilanz zu ziehen.

An Pfingsten herrschte wieder Ruhe, zumindest in Lugano. Die langobardische Krone hatte der König im Gepäck. Die des Kaisers musste noch warten. Es empfahl sich, Italien lieber heute als morgen zu verlassen. In Zürich und später auch in Basel konnte man noch genugsam Geschichte machen, dass es den Eidgenossen noch in 300 oder gar in 500 Jahren bemerkbar blieb. Urkunde so, dass die Maxime deines Handelns eines Tages die Schlacht am Morgarten oder was man darunter versteht produziert.

Die Kirche von Lugano war damals offenbar gross genug, zwar weder Kollegiatsstift noch Kathedrale, die Teilnehmer eines königlichen Pfingstgottesdienstes zu fassen. Der Vorplatz gehörte mit zum sakralen Gelände. Wohl noch geeigneter gewesen wäre Comos Bischofskirche. Aber der dortige Prälat Erhard liegt dem König schon lange in den Ohren. Er beansprucht Herrschaftsrechte in Bellinzona und will sich in Chiavenna Brückenzoll und andere Einnahmen durch königlichen Ukas garantieren lassen. Aus der Sicht des Monarchen nicht geraten, mit solchen Regionalfürsten innerhalb ihres Machtbereiches Verhandlungen zu führen. Zudem waren schon Läufer ausgeschickt, in Zürich und Einsiedeln das baldige Ankommen des Monarchen anzukündigen.
 
Lugano lag schon näher am Rückweg in deutsche Lande. Darum wohl wurde es für den Aufenthalt des Königsheeres an Pfingsten bestimmt. Ein hoher Besuch, auf das Volk der Umgebung nicht gerade gewartet hat. Das vorgesehene Zeltlager befand sich um einiges weiter ausserhalb der Stadt als es in Pavia der Fall gewesen war. In Richtung Ceneri, bei der heutigen Gemeinde Cadempino. Je weiter entfernt von der Stadt das Lager aufgeschlagen war, desto breitflächiger wurde der Schaden verteilt, den Armeemetzger und weitere Fachleute der königlichen Fourage bei ihrer logistischen Arbeit anrichten mussten.
 
Wer erinnert sich wohl an das pfingstliche Hochamt an diesem 4. Juni 1004? Ohne ein Verständnis des Sakramentes bleibt das Mittelalter eine fremde Welt.

Für die reisenden Prälaten, zuvorderst den Erzbischof Heribert von Köln, dessen Name als Kanzler des Königs in fast allen Urkunden aufscheint, muss der Pfingstgottesdienst eine grosse Stunde gewesen sein. Hier konnten sie ihre hohe Stellung gleich unterhalb des Königs vor allen Augen demonstrieren. Dabei müssen wir uns das Verhältnis des Königs zu seinem Kanzler als mutmasslich unterkühlt vorstellen. Hatte doch der einflussreiche Erzbischof von Köln bei der umstrittenen Königswahl von 1002 auf einen anderen Kandidaten gesetzt. Dafür gesorgt, dass Heinrich die Heilige Lanze, ein Zeichen geistlich-weltlicher Herrschaft,, nicht in die Hand bekam. Ein solcher Mann war nur unschädlich zu machen, indem man ihn entweder töten liess oder, bei mehr Rücksicht auf die Zehn Gebote, ihn ins Machtgefüge einband. Unter dem Amt des Kanzlers gab er sich offensichtlich nicht zufrieden.

Ein Ausdruck wie „dilecti nobis Godehardi“, des uns „geliebten Godehard“, wie kurz nach dem ersten Italienfeldzug formuliert, trifft man gegenüber dem Kölner nicht an. Mag vom Protokoll her dem Erzbischof von Köln, schon vor dem Wormser Konkordat ein Königswähler, der höchste Rang in der geistlichen Hierarchie zukommen, in der emotional mitbestimmten weltlichen Gunst standen zwei Äbte wohl weiter oben: die Bayern Rambold von Emmeran und Godehard von „Altaha“, wie Niederaltaich in Urkunden genannt wird. Seit dem Tode des gemeinsamen Lehrers, der den König und den Abt unterrichtet hatte, Bischof Wolfgang von Regensburg, verfügte Godehard über ein nur von wenigen erreichtes Ansehen beim Monarchen und wohl auch bei dessen frommer Gemahlin Kunigunde.

Zwar muss Godehard  lange auf den für ihn vorgesehenen Bischofsstuhl warten. Hildesheim, dessen Domschule den König als seinen prominentesten Ehemaligen rühmt, untersand dem mit unverwüstlicher Langlebigkeit gesegneten Bischof Bernward . Seit 996 steht er unverdrossen im Amt. Wie Godehard ein Günstling des Königs und einer der grossen Bauherren der Zeit. Den geistigen Schöpfer des Raumgedankens nennt ihn der Kunsthistoriker Hans Roggenkamp. Was ist bei einer solchen Würdigung nach über 900 Jahren schon ein ruhmsüchtiger  Condottiere aus Italien wie der auf dem Feldzug von 1004 mühsam besiegte Herzog Aldwin? Dessen Anhänger, die Tuscier, sind dem König an den Lago Cereso nachgereist. Nach dem Pfingstgottesdienst erweisen sie ihm ihre Huldigung. Darum muss in der Liturgie des Gottesdienstes, der Friede Gottes, die Treuga Dei, ein über den weltlichen Frieden noch hinausgehender idealtypischer Zustand, in  Wort und Klang und wenn möglich mit reichlichem Einsatz von Weihrauch vor alle Sinne gebracht werden .Dazu bedurfte es, für den Puritaner Heinrich kaum zu entbehren, eines reinen Mannes, wenn möglich im Rang eines lebenden Heiligen. Wenn es nicht Bernwart sein konnte oder Rambold, warum nicht Godehard? Es gibt, gemäss den hohen Privilegien, die ihm kurz nach diesem Feldzug zugestanden wurden (der Abt von Einsiedeln musste 13 Jahre auf Vergleichbares warten), wenige Argument, die sein Mitmachen bei Heinrichs erstem Italienabenteuer in Frage stellen.

Beim Rückblick auf Pfingsten 1004 ergibt sich die Perspektive, dass Godehard wenigstens einmal im Leben sich in der Nähe des posthum nach ihm benannten Passes aufgehalten haben kann. Am südlichen Ausgang von Lugano soll noch 1386, direkt am See, wo damals sich fast nur Einsiedler niederliessen, ein Gotthardskirchlein gestanden haben. Der Luganersee, von den Einheimischen Ceresio genannt, wird gemäss dem Historischen Lexikon der Schweiz erstmals 590 beim heiligen Gregor von Tours genannt. Für die Lokalisierung der Königsurkunden von 1004 gewinnt der zur Zeit Karls des Grossen belegte Name Laco Luanasco das Gewicht eines Arguments. Schon lange stritten sich die Verkehrshistoriker um die Deutung des rätselhaften Namens Lacunaura. Gemäss den Urkunden vom Montag, den 12. Juni 1004 scheint es sich um den Ausgangspunkt von Heinrichs Reise vom Tessin nach Zürich zu handeln. Nach Vorschlägen, meist die Umgebung des Langensees vermutend, hat sich der verbreitete Gelehrtenkonsens Locarno eingespielt. Die Bestreitung eines gewohnheitsmässigen Befundes ist insofern heikel, als dabei Fragen des lokalen Prestiges dabei mitspielen.
 
Gehen wir aber davon aus, dass der königliche Tross beim Weiler Grumo im Raum Ceneri ein vergleichsweise zentrales Lager aufgerichtet hat, mit Lugano als nächstgelegener Stadt sowie mit dem Plan, möglichst bald nach Zürich aufzubrechen, spricht alles für einen Aufenthalt in der Pfingstwoche und noch kurz danach am selben Ort, wo mit dem Pfingsthochamt gleichsam der Erfolg des Italienfeldzuges abgefeiert wurde. Dass ein vom Italienfeldzug ermüdetes Heer, dem ein Gewaltmarsch über die Alpen bevorstand, sich einige Tage an einem vergleichsweise festen Standort darauf vorbereitete, liegt nahe. Verkehrshistoriker zerbrechen sich seit rund 140 Jahren darüber den Kopf. Der Fünftagemarsch erfolgt also von Cadempino, südlich Ceneri, über das damals mailändische Bleniotal hinauf zum Lukmanier, wo niemand ein Hospiz des Abtes von Disentis vermuten sollte. Dasselbe gelangt erst 250 Jahre später zur ersten Erwähnung. Die erste grössere Rast nach fürs erste schwer vorstellbaren Strapazen muss im Kloster und Klosterdorf Disentis erfolgt sein.

Aus geographischer Sicht wohl schon angenehmer präsentierte sich die uralte Stadt Trun, mit vielen Ahornen, aber wohl noch keinem, unter dem so etwas wie der Graue Bund beschworen wurde. Ein vergleichbarer Schwurplatz, eine sogenannte Malstätte, stand damals in Rohr bei Aarau, wo die Grafen von Lenzburg ihre Beziehungen zum Stift Beromünster regelten. Falls Heinrich auf dem Weg nach Zürich Mitglieder dieser Familie traf, so war es frühestens in Schänis. Nahe liegt die Beteiligung von Lenzburgern bei der Beschwörung des Landfriedens vom 17 Juni 1004. Nach dem Zeugnis der Urkunden waren die Äbte von Einsiedeln und St. Gallen dabei oder deren Vertreter. Die Äbtissin vom Fraumünster, seit langem königlich und kaiserlich privilegierte Besitzerin der Leibeigenen des Urserentals und mächtigste Frau der damaligen Schweiz, wird die Landfriedensveranstaltung mit dem König zu den prägenden politischen Ereignissen in ihrem Lebens gerechnet haben. Dass in Zürich von einem colloquium die Rede ist, deutet auf eine Art Haupt- und Staatsaktion. Der Begriff schliesst indes auch nicht aus, dass über den vom König verordneten Landfrieden zumindest formell verhandelt wurde. Gemäss dem Text des Landfriedens hatte das sich ausbreitende Räuberpack Urfehde zu schwören und ohne Möglichkeit eines Rekurses das Land zu verlassen. 

Den Äbten von Einsiedeln, eigens herbeigeeilt, bestätigte der König alle gewünschten Privilegien, gab den Einsiedler Benediktinern Höfe im Breisgau, die ihnen vorübergehend entzogen waren, wieder zurück. Von langfristigem Wert war die Erstellung eines Vertrauensverhältnisses zwischen dem König und Einsiedelns Abt Wirunt. Er wird am 5. Januar 1018  noch im Amt sein. Zu jenem Zeitpunkt wird ihm Heinrich, unterdessen zum Kaiser gekrönt, 230 Quadratkilometer Sihltal, Alptal und Bibertal schenken, und zwar für „ewige Zeiten“. Auf Schweizerboden das grösste kaiserliche Vermächtnis alle Zeiten. In der Folge liess sich in Einsiedeln Braunvieh heranzüchten, eine Basis für die Landwirtschaftsrevolution der folgenden Jahrhunderte. Davon profitierten neben den Leibeigenen die freien Bauern. Kaiser Heinrich legte mit seiner Privilegierung des Klosters Einsiedeln „für ewige Zeiten“, nolens volens die Grundlagen für den Morgartenkrieg von 1315. Die grossen Schenker der Politik sonnen sich zu Lebzeiten in ihrer Sterblichkeit. Die Folgen ihres Tuns erleben sie nicht mehr. Dies ersieht man aus der Geschichte des Sihltals des Mittelalters. Für dessen landwirtschaftlichen Fortschritt hat sich das Kloster Einsiedeln historische Verdienste erworben.

In jenen Junitagen in Zürich denken wir uns eine Begegnung der beiden Benediktineräbte Gotthard von Niederalteich und Wirunt von Einsiedeln: Beide Klöster waren Reichenauer Gründungen, beide von König und Kaiser Heinrich privilegiert, und beide Äbte wussten sich dem verstorbenen Regensburger Bischof Wolfgang, ihrem verehrten heiligen Lehrer, zu hohem Dank verpflichtet. In religiöser Hinsicht wussten sie sich einig im Kult von Mauritius, den auch Einsiedeln zu seinem Mitpatron erhob.

Schaut man von Mailand nordwestwärts, ist Sankt Gotthard tiefsinnig mit dem Wallis verbunden. Mit dem afrikanischen Glaubenszeugen Mauritius vom unteren Eingang des Tales. In seinem Kloster Niederaltaich, seiner Bischofsstadt Hildesheim und reichsweit machte sich Godehard für die Verbreitung dieses Kultes stark. Die nach dem Heiligen Kreuz wertvollste Reliquie der Christenheit, die Heilige Lanze, wird mit dem römischen Offizier zur Zeit des Kaisers Diokletian in Verbindung gebracht. Um sich in deren Besitz zu bringen, schreckte König Heinrich II., dem Godehard seine Karriere verdankt, bei seiner umstrittenen Königswahl nicht vor dem Mittel der Geiselnahme zurück. Das war beim Konflikt mit seinem späteren Kanzler Heribert, dem Erzbischof von Köln.

Generationen vor Parzival stand das Andenken an Mauritius und seine Waffenfreunde, im Unterwallis hingerichtet auf dem Richtfeld von Vérolliez, für das Ideal des christlichen Ritters. Nicht für sich allein in den Tag hineinzuleben war das Ziel. Das wäre die Torheit der Welt. Aus den Bergen schöpfte das mittelalterliche Christentum so etwas wie spirituelle Orientierung. Als der Dichter Petrarca sich aufmachte auf den Mont Ventoux (1912 m.ü.M.), ging es ihm um Meditation. Er las einen Text von Kirchenvater Augustinus, wonach es wichtiger sei, sich selber zu finden als über die Höhe der Berge im Bilde zu sein. Auch die erste Landkarte der Schweizer Alpen, Albrecht von Bonstettens geometrischer Ausblick von der Rigi (1798 m. ü. M.), ist aus diesem Geist zu begreifen. Die Perspektive von Sci Gottardi (1293), einem Namen aus alteidgenössischen Urkunden, der auch im Habsburger Urbar des Schreibers Burkhard von Frick aufscheint, wird mit dem mehrdeutigen Wort URANIA umschrieben. Damit ist das Land Uri ebenso gemeint wie der Weg zum Himmelreich.

Die grösste Geschichte aller Zeiten nebst den biblischen Berichten war für Godehard die Historia passionis sancti Mauritii et sociorum, die Geschichte des Martyriums des heiligen Mauritius mit Genossen. Aufgeschrieben wurde sie um 450 vom Mönch Eucharius von Lyon. Nicht aus dem Daumen gesaugt will es der Verfasser haben. Der Text sei ein Diktat des Talbischofs Theodul oder Joder. Zum Zeugen aufgerufen wird der spätere Passheilige beim Matterhorn, ein die Glocken schwingender und  unerschrocken den Teufel zähmender Schützer vor Blitz und Donner, christlicher Nachfolger Jupiters in den schweizerischen und savoyischen Alpen. Ein anderer Passwächter, Sankt Wolfgang, Gründer der Stiftsschule Einsiedeln, hatte im Jahre 962 als Bischof den Mönch Godehard zum Priester geweiht. Als Passpatron ist er zuständig für den Übergang zwischen Klosters und Davos. Ein Ortsteil der modernen Alpenstadt ist nach ihm benannt. Wolfgang soll, in der Verkürzung von Wikipedia, für die Abschaffung des Privateigentums gewesen sein. Wann wohl spricht endlich mal der Papst am WORLD ECNOMOCIC FORUM?

Fast ist es nicht zu glauben, dass jeder einzelne dieser Berggötter „einst auf Erden gewandelt ist“, wie die Sprache der Legende es ausdrückt. Was in der Antike die Apotheose, die Aufnahme in den Olymp, den Berg der Unsterblichen: ab dem 11. Jahrhundert besorgte dies das  fortwährend verfeinerte Ritual der Heiligsprechung. Eine dem strengen Recht unterworfene Verwaltung der Wunder und damit deren Zähmung. Wie der nicht zu unterschätzende Hexenprozess eine Weiterentwicklung des Rechtsstaates im Abendland. Das Bewusstsein, dass  Experten mit abgeschlossenem Hochschulstudium schwierige Probleme lösen können, setzte sich exemplarisch durch. Zumindest auf Ebene des Kirchenrechtes.

Der erste auf dem Weg des Prozesses Heiliggesprochene war der für Kindersegnungen populäre Bischof Ulrich von Augsburg. Sich dem magnetisierenden Machtschutz eines seiner hinterlassenen Messgewänder anzuvertrauen hiess in der Schweiz: Unter den Ueli gehen.  – Ein Kind unter den Ueli halten. Die Kanonisation des Augsburgers erfolgte Freitag, den 3. Februar 993, am Tag des Nothelfers Sankt Blasius, damit die Heiligsprechung niemandem in den falschen Hals gerate. Einen Tag vor dieser denkwürdigen Heiligsprechung weihte Godehard zum ersten Mal in seinem Leben eine Hostie zum Fest Lichtmess. Was eine solche Liturgie bedeutete, bezeugt ein Bericht im Umfeld der Heiligsprechung der Bischöfe Ulrich und seines Konstanzer Mitbruders Konrad. Hätten die beiden Erzpriester am Rheinfall nicht zwei über der Wasserhölle flatternde Reiher identifiziert, als Seelen zweier Verstorbener, von diesem mittelalterlichen Ort des Schreckens hätte es noch für Generationen nichts zu erzählen gegeben. Für jeden der beobachteten Vögel wurde eine Messe gelesen. So trat eines der nördlichen Tore in die Schweiz ans Licht der Geschichte. Alle diese Erzählungen müssen Godehard bekannt gewesen sein. Wohin er auch von seinem König und Kaiser befohlen wurde, sein Auge richtete sich nach oben. Es musste nicht immer gleich der Himmel sein. Hügel, Felsen, Berge stehen in der Geschichte von Mystik und Meditation für die oftmals nicht ungefährliche Verbindung des Himmels mit der Erde. Dies galt für den Moritzberg bei Hildesheim ebenso wie für den Mons Tremolus,  der als Sankt Gotthards-Berg generationenlang irrtümlich für das höchste Gebirgsmassiv Europas gehalten wurde.

Religion war zur Lebenszeit der Passheiligen der Ernstfall am Rande des Felsens. Für das Kalb vor der Gotthardpost gab es keine Rettung. Stürzte es nicht ab, gelangte es am Ende der Passfahrt unter das Beil des Schlächters. Auch dem Menschen blieb das Schicksal des Ausgeliefertseins nicht erspart. Die letzten Worte derjenigen, die nicht davon kamen, lauteten oft: Jesus! Maria! Josef!

An der rue St. Gothard 19 in der Gemeinde Fully, einem einstigen römischen Vorposten unweit von Agaunum (St. Maurice) unterhalten Philippe und Véronic Mettaz einen Weinkeller. Liebhabern bereitet er Entdeckerfreude. Auf jeder siebenten Flasche des Angebotes aus eigener Produktion prangt das Bild des heiligen Gotthard. Das Konterfei der Statue aus dem Lokalheiligtum Mazembroz, wo nebenher sein Mitheiliger Garin auch noch verehrt wird. Sankt Gotthard, der Beschützer im Ernstfall der Elemente, wird angerufen gegen Erdbeben und Überschwemmungen; ausserdem bei Kopfweh und schweren Geburten; Sankt Garin bleibt die Fürsorge für das Vieh überlassen. Gemäss einer etwa dreihundertjährigen Inschrift von Bischof Franz Joseph Supersaxo aus Sitten bekommt der Beter oder die Beterin ab fünf Vaterunser und fünf Ave Maria für 40 Tage den Segen Gottes für seine Seele, einen sogenannten Ablass. Man hoffte damit Verkürzung der Aufenthaltsdauer im Fegefeuer zu erlangen.

Die ausserhalb ihrer Urheimat lebenden Walser liebten und lieben den heiligen Gotthard ebenso. Im ganzen Bergtal wird dem Heiligen Dank bekundet und künftiges Vertrauen. Wie geschildert im Unterwallis, in Fully; weiter nördlich bei Laques oberhalb Sierre, wurde das Gotthardheiligtum Cordona zum Refugium des Volksweisen Mathias Will (1613 – 1698), des zu Lebzeiten mit Blattschüssen jeder Art Verleumdeten. Ins Herz des Landes hoch über der Bischofsstadt Sitten machten sich Pilger aus Savoyen auf, um mit den einheimischen Jägern und Soldaten dem heiligen Gotthard zu huldigen; südöstlich im Dorf Simplon behauptet sich der Hildesheimer bis heute als Passheiliger. Es gibt nun mal keinen Sankt Simplon. Der Passübergang nach Domodossola, zur Zeit Napoleons mit einer für den Transport von Kanonen geeigneten Bergstrasse stabilisiert, führt als der ältere von zwei Schweizer Gotthardpässen nach Süden. Das Altarbild in der Dorfkirche zeigt den Passheiligen. Der 5. Mai ist und bleibt da oben wie allgemein im Heiligenkalender sein Feiertag, wohingegen im Rest des Wallis des heiligen Gotthard am 9. Mai gedacht wird. Wie in Bayern gehen im Wallis Uhren nun mal anders.

Über viele Jahrhunderte wurde auch auf der allgemein bekannten Passhöhe, welche die Kantone Tessin und Uri verbindet, SAN GOTTARDO die Ehre erwiesen. „Hart in Gott“, eine populäre Namendeutung, meint einen in der Kraft Gottes Gestärkten. Die Taufe des Schreckensberges, wie man es wohl nicht missversteht, galt einem lange gemiedenen Gebirgsmassiv, dem MONS TREMOLUS, an welchen die nur noch Radfahrern zugänglichen Tremolakurven der alten Gotthardstrasse erinnern. Mit der Umbenennung, die sich allmählich durchsetzte, war wohl die Absicht verbunden, das Entsetzen mit einem neuen Namen in eine erträgliche Furcht abzumildern. Als Teil eines Hospizes diente die von Erzbischof Galdinus geweihte Gotthardskapelle ab 1170 der Stärkung für den Übergang vom Livinental ins Urserental und von dort via Furka ins Wallis. 1230, um die Zeit, da der Nord-Süd-Verkehr über die Schöllenen einsetzt, dank der Erschliessung der Schlucht durch 5 Brücken oder Stege, wird die Kapelle neu geweiht. Seit seiner Heiligsprechung 1131 ist Sankt Gotthard in Deutschland und Böhmen Patron fahrender Kaufleute. Im Dom zu Prag verfügten seine Reliquien schon drei Jahre nach der Aufnahme in den Kalender über einen Altar. Noch heute gibt es in Tschechiens Hauptstadt ein Gotthardskloster mit einem gastlichen Lokal gleich daneben. Die Legende berichtet, wie Sankt Godehard dem Vorgängerabt Erkenfried nach einem Sturz vom Pferde aufgeholfen, dem Verletzten seinen gebrochenen Arm in die Schlinge gelegt habe. Darauf habe er sich alsbald erholt. In Böhmen, Bayern, Südtirol, zumal dem Brenner entlang erzählt man gleiche und ähnliche Geschichten.

Daran ist so viel wahr, als „St. Godl“, wie er an seinem bayrischen Geburtsort Reichersdorf in der Diözese Passau genannt wird, es nicht hinter dem Ofen seines Klosters Niederaltaich ausgehalten hat. Nach seiner Priesterweihe begann Godehard seine geistliche Karriere mit dem unbeliebten Amt des Lehrers an der Stiftsschule in Niederaltaich. Mit dem Stab des Abtes von Altaich und noch anderen Klöstern in eine Führungsposition erhoben, gab Godehard statt den Schülern lieber dem Pferd die Rute. Als kundiger Ratgeber der zweiten Reihe, als pilgernder Mitbeter, mag er sich zum Tross seines Königs gesellt haben. Mit dessen ambulanter übernationaler Lebensweise waren weite Reisen verbunden. Denkwürdig war kurz vor der Jahrtausendwende der Tod der Kaiserin Adelheid im Jahre 999, fast hundert Jahre später als heilige Adelheid zur Ehre der Altäre erhoben. Sie war eine Tante von König Heinrich. Gewichtiger als ihre Mitgift bei der Heirat mit Otto war für Adelheid, die Tochter der legendären Berta von Burgund mit ihrem Spinnrad, die Verehrung der Thebäer vom Wallis mit Mauritius als Idol. Über diesen Westschweizer Konnex  wurde der heilige Mauritius zum zweiten deutschen Reichspatron nach dem Erzengel Michael erhoben.

Ungefähr so müssen wir uns also die spirituellen Verhältnisse um die erste Jahrtausendwende vorstellen. Damals dachte auch der läppischste unter den Hofnarren der Könige und Kaiser nicht an den Weltuntergang. Die Panik um das Jahr 1000 ist eine massenpsychologische Legende, mit der José Ortega y Gasset im Jahre 1904 aufgeräumt hat. Heinrich II. und seine Vorgänger und Nachfolger verstanden sich in jenen Tagen als Ordner der Welt. Auf den Feldzügen nach Polen und Italien ging es ihm nicht darum, Punkte für seine Heiligsprechung zu sammeln. „Wer sich ihm entgegenstellte, den demütigte er und zwang alle, ihm mit gebeugten Nacken zu huldigen“, schrieb der Heinrich gegenüber teilweise kritisch gesinnte Bischof von Merseburg als sein Biograph. So also wandelten sie zusammen auf Erden, Godehard, zunächst Abt, nicht Bischof, Heinrich, König, später Kaiser.

Falls es in jenen Junitagen in Lugano und Zürich Augenblicke  des Friedens gab, dann wohl in jenen Momenten, da Godehard oder ein anderer Priester aus Heinrich Gefolge die Hostie erhob, die ausserhalb der Osterzeit und beim Sterben und jenseits von Todesnöten kein Nichtgeweihter konsumierte. An Pfingsten mag Godehard den grossen Wettersegen gesprochen haben, der zu seiner Zeit ausschliesslich diesem Kirchenfest vorbehalten war. Vorzüglich an Pfingsten sollte dem Frieden Gottes nachgelebt werden. Friede und Friedensschlüsse hängen, wie wir sehen werden, mit Friedenserklärungen der Monarchen zusammen, mehr noch mit dem Essen und Trinken des Friedens unter denjenigen, die Frieden schliessen. Dabei kommt es stets auch auf den jeweiligen Tag und seine spirituelle Bedeutung an. Am Gründonnerstag 1043, fünf Jahre nach dem Tod des heiligen Godehard und neunzehn Jahre nach dem Hinschied von Heinrich II., verkündete der Salierkaiser Heinrich III. im Münster von Konstanz aus dem Geist der Klosterreform von Cluny den Ewigen Frieden, die Treuga Dei. Es hielt den Monarchen nicht davon ab, nach Art moderner Politiker gleich wieder in den Krieg zu ziehen. Die Ungarn kamen seinem Friedenswillen nicht spontan genug nach. Mit dem Rechtsfrieden, wie er am 17. Juni 1004 in Zürich angeordnet worden war, ist die mystisch zu verstehende Treuga Dei nicht zu verwechseln.

Im Vergleich zur rohen Gewalt ist der Rechtsfriede ein hohes Gut. Aber nicht zu verwechseln mit Gerechtigkeit. Im Sinne der Schenkung des Sihltales durch Kaiser Heinrich II. stand übrigens beim jahrhundertelangen Marchenstreit zwischen den Schwyzer Bauern und dem Kloster Einsiedeln das gute Recht wohl auf der Seite des Abtes und dem habsburgischen Kastvogt. Bemerkenswert bleibt, dass um 1481 der im Ruf des Friedensstifters stehende Eremit Klaus von Flüe diese Art Recht „das böseste Recht“ nannte, was nicht mit dessen Bestreitung zu verwechseln war. Bemerkenswert bleibt, dass über sein letztes Wort auf dem Moritzberg in Hildesheim Sankt Gotthard ebenso wie später Klaus von Flüe von seinem Biographen zum Friedensheiligen stilisiert wird.

Von andauernder Bedeutung blieben einige Friedens-und Bundesschlüsse, die am Tag des heiligen Mauritius oder am Sterbetag von Kaiser Heinrich dem Heiligen geschlossen wurden. Der Friede von Basel am 22. September 1499 beendete den Schwabenkrieg. Stärker fiel die faktische Ablösung der Eidgenossenschaft vom Deutschen Reich ins Gewicht. Die Befreiung vom Reichspfennig und vom Reichskammergericht. Was damals als Tatsache gesetzt wurde, Basels Bürgermeister Johann Rudolf Wettstein setzte es beim Westfälischen Frieden in Münster 1648 als Exemption vom Reich, Anerkennung des Sonderfalls, auch juristisch durch. Der Beitritt Basels zum Bund der Eidgenossen erfolgte zwei Jahre nach dem Frieden von Basel, umfasste die oben genannten Privilegien eben nicht, weswegen Bürgermeister Wettstein 1648 noch einmal „nachhaken* musste, mit Unterstützung des Urner Landammanns Franz Peregrin Zwyer, was im 2. Band der Geschichte des Landes Uri von Hans Stadler-Planzer (Altdorf 2015) dargetan ist. Über die Fernwirkung des Kultes von Kaiser Heinrich II., Mitstifter und Miterbauer des Basler Münsters, verantwortet der Basler Historiker Stefan Hess weiterführende Publikationen. Bemerkenswert ist, dass die Verfassung des Kantons Baselstadt bewusst nicht auf den 1. Januar 2006, sondern auf den 13. Juli, den Tag des Kaisers, in Kraft gesetzt wurde. So ergibt sich eine Friedenslinie vom Pfingsttag des Jahres 1004 über 1002 Jahre, und 27 Tage, wenn man die Schalttage von Papst Gregors XI. Kalenderreform abrechnet..“

Für den Bischof von Hildesheim wurde der Friede innerhalb der Kirche und das Verhältnis Kaiser und Papst zu einem Anliegen. Er beteiligte sich an zwei bedeutenden Kirchenversammlungen der damaligen Zeit: Der Synode von Seligenstadt (1022) und dem vom Mainzer Bischof angestrebten sogenannten Nationalkonzil von Höchst (1024). Als Bischof des Kaisers stand er zu einer Zeit, da das Papsttum zu einer römischen Cliquenangelegenheit verkam, für die Befugnisse der Monarchen auf. Dies entsprach der  Linie des Mainzer Erzbischofs Aribo, der Godehard zum Bischof geweiht hatte. Als Anhänger der cluniazenischen Kloster- und Kirchenreformen trat Godehard für die Verwesentlichung des Fastens ein, gegen billige käufliche Dispensen, für mehr Disziplin beim Klerus, die Eindämmung der Konkubinatspraxis und was der tausendjährigen kirchenreformerischen Dauerbrenner mehr waren. Er lebte die tragenden Leitlinien einer Reform, die wie oft in der Geschichte der Kirche, auf der Strecke blieb. Papst Gregor der Grosse, Leitfigur der massgeblichen Bischöfe und vieler Heiligen des Mittelalters, drückte eine Hoffnung aus: „Solange sie die Worte hörten, wurden sie nicht erleuchtet; als sie diese aber hörten und es taten, kam die Erleuchtung.“

 

Dieser Text ist, ergänzt durch eine Illustration, in redigierter aber teilweise auch verkürzter Form enthalten im 2016 erschienenen Buch „Gotthardfantasien“, herausgegeben von Prof. Boris Previsic (Luzern). Bei der Lesung im Innerschweizer Literaturhaus Stans im September 2016 trug Autor Pirmin Meier die ersten 6 Manuskriptseiten des obigen Textes vor, den Ausgangspunkt seiner Arbeit. Weiteres über St. Gotthard hat Pirmin Meier in seinen Büchern „Landschaft der Pilger“ (Luzern 2005) sowie „Sankt Gotthard und der Schmied von Göschenen“, das 2011 erschienene erste SJW-Jugendbuch mit Illustrationen von Laura Jurt.

 
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