Kigeli V. – König eines verlorenen Kontinents
Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH
Kigeli V., mit Taufnamen und zivilem Namen Jean-Baptist Ndahindurwa, geboren am 29. Juni 1935 in der Flughafenstadt Kembele, verstorben als Sozialhilfeabhängiger am 16. Oktober 2015 bei Washington (District of Columbia), war der letzte Repräsentant der stolzen Tutsi-Monarchie in Ruanda, deren kulturhistorisch eindrucksvollste Zeiten im 15. und 16. Jahrhundert anzusetzen sind. Zugleich steht er für die Demütigung Afrikas während und nach dem Ende der Kolonialzeit, die für die technische und politische Entwicklung des Kontinents strukturbildend blieb. Dazu haben Schweizer Missionare seit dem 19. Jahrhundert wohl stärker beigetragen als zum Beispiel die Entwicklungszusammenarbeit im “Schwerpunktland” Ruanda.
Ruanda, wie auch das 1962 abgetrennte Burundi, waren im 20. Jahrhundert und zum Teil noch später Schwerpunkt schweizerischer Missionsstationen mit Bischöfen und Erzbischöfen, so dem Walliser André Perraudin (1914 – 2003) und Bischof Jean-Joseph Hirt (1854 – 1931), der die Missionstätigkeit der Weissen Väter zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einem Antrittsbesuch bei König Musinga eröffnete. 1943 kam es zur Taufe von König Mutare III. Der damals siebenjährige Prinz Kigeli (sein älterer Bruder wurde kurz vor der Thronbesteigung ermordet) scheint schon vorher getauft worden zu sein. Unter belgischer Kolonialverwaltung wurde das ehemalige Deutsch-Ostafrika 1856 ein staatsrechtlich anerkanntes Königreich, aber erst 1961 unabhängig. In dieser Übergangszeit residierte Kigeli V. in der historischen Stadt Nyanza, wo heute noch der Nachbau des historischen Königspalastes aus dem Mittelalter zu bewundern steht. Der urtümliche Rundbau, mit Königspalästen in Europa und Asien nicht zu vergleichen, ist trotzdem stolzer Repräsentant einer untergegangenen Zivilisation. Zur Pointe aber der kurzen Amtszeit des schwachen Kigeli V. gehört (1959 – 1961), dass damals der Schweizer Erzbischof Perraudin der wohl mächtigste Mann im Lande war, was sich für den späteren Ruf der Weissen Väter nicht nur positiv auswirkte. So die Einschätzung von Afrika-Kenner Al Imfeld. Typisch war, dass die Missionare ursprünglich stärker auf die Eliten setzten, also auf Angehörige der von den Deutschen und Belgiern reaktivierten Monarchie der Vieh züchtenden Tutsis, erst später auf die Hutus, die oft als Leibeigene der Tutsis Hackbau betrieben hatten. Zur Zeit des Völkermordes (1994) wurden die Missionare nicht selten von beiden Seiten verdächtigt, mit dem Gegner zu sympathisieren. Die Hauptstadt Kigali nahm damals um über 100 000 Personen ab.
Was die Christianisierung Ostafrikas bedeutete, kann ich indirekt über die von mir teilweise aufgearbeitete Missionsarbeit des aus Büron im Kanton Luzern stammenden Missionsbischofs Gallus Steiger aus dem Benediktinerorden beurteilen. Im Raum Daressallam im benachbarten Tansania leistete der sprachlich hochbegabte ehemalige Spitzenschüler der Kantonalen Mittelschule Beromünster bedeutende Bildungsarbeit. Er war ein Pionier des Kirchenbaus. Die entscheidende Leistung beim Kirchturmbau - über das Herrschaftszeichen des christlichen Europas hinaus - war die Einführung eines neuen Zeitgefühls, sowohl im Hinblick auf die Glockenschläge wie auch betreffend die Kirchenuhr. Dies war schon im mittelalterlichen Europa ein bestimmendes Moment im Zivilisationsprozess, was immer man im übrigen von kirchlicher und christlicher Dogmatik halten mag. Charakteristisch für die christliche und katholische Weltmission ist, dass man sich zuerst den Eliten, im Verlauf aber des 20. Jahrhunderts dann stärker den Unterschichten zuwandte, gemäss einer mehr sozialen Interpretation des Christentums. Im Kongo wirkte zur Zeit des Übergangs zur Unabhängigkeit der Dominikaner Gonsalv Mainberger (1924 – 2015), der später einer der bedeutendsten christlichen Philosophen Europas werden sollte, mit linker politischer Orientierung.
In der Übergangszeit zur Unabhängigkeit um 1960 war es den Missionaren, auch den Schweizer “Weissen Vätern”, längst nicht möglich, es beiden Seiten recht zu machen. “Es lebe die Unabhängigkeit. Nieder mit den Missionaren!” lautete ein Schlagwort, als zu Beginn des Jahres 1961 der letzte König Ruandas, Kigeli V., durch einen Putsch gestürzt wurde. Eine Hutu-Losung, die kaum Rücksicht darauf nahm, dass die Missionare aufgrund ihres sozialen Engagements ihre Hoffnungen unterdessen längst auf die Unterprivilegierten setzten. Bezeichnenderweise kam es im Jahre 1994 zur Ermordung dreier katholischer Bischöfe durch Tutsi-Soldaten. Die Christianisierung hatte, wie das Massaker von 1994 zeigte, wenig zur Humanisierung der gespaltenen Volksgruppen beitragen zu können. Es handelte sich dabei aber weniger um einen ethnischen als um einen sozialen Konflikt, der auch mit der Geschichte des Kulturwandels der Landwirtschaft in Afrika zu tun hat.
Im Hinblick auf die Umstrittenheit der christlichen Missionare, die mir gegenüber ein Ruander aus dem Stamm der Tutsis “Canailles” nannte, bleibt festzuhalten, dass die katholischen Schulen zwar 1966 verstaatlicht wurden, aber aufgrund von Unbezahlbarkeit eigentlich unverändert weiterzuführen waren. Was die Missionare auf dem Bildungssektor geleistet haben, bleibt unbeschadet aller ideologischen Fragen und den unfruchtbaren Diskussionen um den Kolonialismus, der an allem schuld sein soll, eine Pionierleistung.
Als einigermassen sicher kann gelten, dass Kigeli V., der 1959 nach der mutmasslichen Ermordung seines Halbbruders auf den Thron des “Mwamis” kam, wie der König seit dem Mittelalter genannt wurde, über ungenügenden Rückhalt bei den belgischen Kolonialbehörden verfügte.Noch ernst genommen wurde er vom damaligen Uno Generalsekretär Dag Hammarskjöld. Dem Anschein nach fiel es Kigeli V. leichter, sich auf dem Parkett “panafrikanischer” Politik zu bewegen als die Hauptanforderung an einen Herrscher zu erfüllen, wie sie die Staatsdenker Niccolo Machiavelli und Thomas Hobbes formuliert haben: Zuallererst muss der Fürst die Lage unter Kontrolle haben, mächtiger sein als der Nächstmächtige, den zu töten er jederzeit in der Lage sein muss. So könne der Krieg aller gegen alle verhindert werden. Dies wollte Kigeli V. indes nicht gelingen. Nach seinem Sturz vagierte er, in der Hoffnung auf Wiedererlangung der Macht, als Exilkönig in mehreren afrikanischen Ländern herum. Schliesslich erlangte er 1992 in den Vereinigten Staaten definitives Exil. Dass er sich zur Zeit des Völkermordes an den Tutsi (1994 und noch später) für seine Stammesbrüder- und -schwestern zu engagieren versuchte, auch mit einer Stiftung für Flüchtlinge, bleibt verdienstvoll. Als Sozialhilfeempfänger fern der Heimat bis zu seinem Tode wurde er zusätzlich Repräsentant eines verlorenen Kontinentes.
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