Textatelier
BLOG vom: 27.03.2017

Sisyphos und die Mühen des Daseins

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

„Mythos Sisyphos“, ein Taschenbuch von 2001 fällt mir in die Hände, es beinhaltet Texte aus mehr als 2000 Jahren zu dieser Erzählung von dem Mann, der zur Strafe einen Stein auf einen Berg rollen muss und kaum ist er nach vielen Mühen oben, rollt der Stein wieder hinunter und Sisyphos muss von Neuem beginnen, unablässig und ohne eine Aussicht auf ein Ende der Qualen.

Absurd, widersinnig, ohne Sinn und Verstand scheint diese Tätigkeit zu sein. Es wird darüber spekuliert, ob der Held dennoch bei dieser Tätigkeit Glück empfinden kann, ja, ob Glück und Absurdität nicht Brüder sind. Wenn sie es sind, dann kann man nur das ganze Leben als absurd ansehen, mit all seinem (vermeintlichen) Glücksempfinden, mit all seinem Leiden und seinen Qualen.

Auch die Aussage „Macht Euch die Erde untertan!“ aus dem Buch Mose verweist auf Sisyphos. Dazu schreibt André Gide:
„Es erscheint mir ungeheuerlich, dass der Mensch die Idee Gottes brauchen sollte, um sich auf der Welt im Gleichgewicht zu fühlen; dass er gezwungen werden sollte, Unsinnigem zuzustimmen, um irgend etwas Solides aufzurichten; dass er sich für unfähig erachten sollte, selbst von sich zu verlangen, was religiöse Überzeugung bisher von ihm erreichte, so dass er alles fahrenlässt, sobald sein Himmel entvölkert ist. Das Beste, was Sisyphus tun kann, ist, seinen Felsen liegen zu lassen und hinaufzuklettern, um von oben ‚die Lage zu beherrschen’.“

Albert Camus: „Der absurde Mensch sagt ja, und seine Anstrengung hört nicht mehr auf. Wenn es ein persönliches Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verachtenswert findet..“

Erstaunlich, wie aktuell Johann Gottfried Herder in seiner Schrift „Briefe zur Beförderung der Humanität“ 1797 ist: „Allerdings eine gefährliche Gabe, Macht ohne Güte, Erfindungsreiche Schlauigkeit ohne Verstand. Nur können, haben, herrschen, geniessen will der verdorben-cultivirte Mensch, ohne zu überlegen, wozu er könne? Was er habe und ob was er Genuss nenne, nicht zuletzt eine Ertödtung alles Genusses werde. Welche Philosophie wird die Nationen Europa’s von dem Stein des Sisyphus, vom Rade Ixions erlösen, dazu sie eine lüsterne Politik verdammt hat?“

Verweist das Schicksal des Sisyphus nicht auf uns alle? Alle nehmen die Plackerei als selbstverständlich hin, nach jeder kleinsten Genugtuung rollt der Stein wieder den Berg hinab, und die Mühe geht weiter. Es fängt schon im Kindesalter an, Eltern verlangen Gehorsam, setzen Grenzen, die Schule fordert Verhaltensweisen, die dem natürlichen Drang der Kinder widersprechen, lange sitzen, aufmerksam sein, still sein, sich dem Willen der Lehrperson beugen. Ferien sind dann die Zeiten, in denen der Stein oben ist, aber er rollt wieder nach unten, wieder und wieder. Bestandene Prüfungen und die erste Anstellung erzeugen wieder Glücksgefühle. Aber: Nach der jahrelangen Anpassung folgt die Unterwerfung unter den Willen des Vorgesetzten. Und – dann wird als selbstverständlich angesehen, dass eine Familie gegründet wird. Auch hier wieder vermeint der junge Mann und die junge Frau auf dem Höhepunkt angelangt zu sein, das Verliebtsein, der sexuelle Genuss. Nicht lange danach, wenn das erste Kind geboren ist, geht es wieder mühsam bergauf, nicht nur mit den Mühen der Aufzucht, auch mit den damit verbundenen Verpflichtungen, eine Familie zu ernähren. Und wieder auf dem Berg geht es in die Tiefe, Wünsche wollen erfüllt, Schulden müssen abbezahlt werden. Auf die Freuden der Anschaffung und des Konsums folgt der Aufwand der Wunscherfüllung. Ein neues Auto, eine grössere Wohnung oder ein Hauskauf. Das alles gehört doch zum Dasein, wird nicht erkannt als ewige Plackerei, denn ohne das alles fehlt doch etwas, ist man kein “wertvolles“ Mitglied der Gesellschaft, wird man als unangepasster Sonderling und Aussenseiter angesehen. Sisyphus? Was hat der Mythos mit meinem Leben zu tun?

Erst im fortgeschrittenen Lebensalter erkennen manche den Zusammenhang. Und dann stellt sich der Körper als Sisyphus vor, die Gebrechen des Alters, die Krankheiten, der Abbau der Körperkräfte. Höhepunkte sind dann die schmerzfreien Tage, die Glücksgefühle mit den Enkelkindern. Doch dann streikt der Körper wieder, das Herz rast, die Lunge rasselt, die Organe zeigen, dass sie Abnutzungserscheinungen vorweisen, der jugendliche Elan ist vorbei – und kommt nie wieder.

Und über all dem privaten Schicksal stehen diejenigen, die die Menschen beherrschen wollen, die ihnen ihre Gesetze aufzwingen, die ihnen Grenzen setzen.
Kaum ist das eine Regime verdrängt und abgesetzt, folgt das nächste.

Ganz entgehen kann niemand diesem Spiel. Und doch gibt es Entscheidungsmöglichkeiten, die Lichtblicke sein können. Der Stein rollt hinunter und wir entscheiden, wir lassen ihn liegen, wir schleifen ihn ab, in dem wir uns der einen oder anderen Forderung entledigen. Und siehe: der Stein wird kleiner, der Aufwand, ihn wieder auf den Berg zu hieven, geringer. Wir müssen das eine oder andere Produkt nicht haben, keine Sorgen, keine Ratenzahlung. Wir verzichten auf manchen Luxus und siehe: der Verzicht wirkt wohltuend. Wir suchen uns einen Job, der uns Spass macht, auch wenn dadurch der Lebensstandard niedrig ist. Wir jagen nicht allem und jeder günstigen Gelegenheit nach. Und siehe: weniger Gehetztsein macht den Stein noch leichter.

Ja, sogar auf  Ruhm und die Insignien der Macht kann man verzichten. Oftmals ist ein kampfloses Zurückziehen besser als ein dauernder Kampf ums vermeintliche Recht.

Und wenn uns jemand spiessbürgerlich schimpft und uns als Langweiler ansieht, soll er doch, den Seelenfrieden und ein leichteres Leben haben wir allemal.

Sisyphos wäre nichts ohne den Stein, ohne die Mühen. Aber der Stein kann bröckeln, einfacher zu handhaben sein. Wir müssen es nur erkennen und wahrhaben.

Quelle
Alle Texte aus: Seidensticker, Bernd, Wessels, Antje, Hg., Mythos Sisyphos, Reclam Verlag Leipzig, 2001

 


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