Textatelier
BLOG vom: 19.04.2017

Die Türkei, Erdogan und Kemal

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

Am 17.04.2017 verlief die Abstimmung für eine verstärkte Präsidialmacht von
Recep Tayyip Erdogan mit einer Mehrheit für ihn ab. Die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland stimmte laut Medienberichten sogar zu mehr als
zwei Dritteln dafür, viel mehr als das türkische Volk im Heimatland.

In den deutschen Medien wird dazu Unverständnis geäussert. Ein Volk stärkt freiwillig die Macht eines Präsidenten und schwächt die demokratischen Kräfte, die schon jetzt teilweise unterdrückt werden. Das erinnert an den Werdegang von Adolf Hitler, der schliesslich auch durch das deutsche Volk und einer demokratischen Abstimmung zum Führer gewählt worden war, und zwar nach einer Zeit, in der Deutschland nach der Niederlage des I. Weltkrieges es nicht geschafft hat, eine parlamentarisch-demokratische Staatsform dauerhaft und gefestigt zu etablieren.

Historische Prozesse lassen sich nur bedingt vergleichen, auch wenn vermeintlich Parallelen erkennbar sind, etwa im Umgang mit den Kurden in der Türkei und den Juden in Deutschland.

Ich versuche eine Annäherung an die Ereignisse über den kurdischen Schriftsteller Yasar Kemal, geboren am 6. Oktober 1923 als Kemal Sadık Gökçeli in Hemite; † 28.Februar 2015 in Istanbul. Als Kurde war er starken Anfeindungen ausgesetzt, lebte teilweise im Ausland, kehrte aber dann nach Istanbul zurück.

Er bekam viele Auszeichnungen, unter anderem 1997 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels; am 4. Dezember 2008 wurde Kemal mit dem Kulturpreis des türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül ausgezeichnet. Die Verleihung dieses höchsten türkischen Kulturpreises an Kemal erfolgte in Anwesenheit von Regierungschef Erdogan. In seiner Dankesrede zum türkischen Kulturpreis sagte Yasar Kemal:

„Dass mir dieser Preis zugesprochen wird, möchte ich als Zeichen dafür sehen, dass politische Standfestigkeit und der Kampf für Frieden und Menschenrechte nicht länger ein Grund zur Ausgrenzung sind und dass sich allmählich ein Weg zum Frieden in unserer Gesellschaft öffnet“.

Seitdem hat sich viel verändert. Erdogan stärkt seine Macht nicht zuletzt auch durch Unterdrückung der Menschenrechte und der Weg zum Frieden mit den verschiedenen Völkern und anderen Religionen als der des Islam im eigenen Land scheint weiter entfernt denn je.

Zur Überreichung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1997 hielt Kemal eine viel beachtete Rede, auf die ich in meiner kleinen Abhandlung stärker eingehen möchte.

Er berichtete über seinen persönlichen Werdegang, anfänglich als Erzähler und Sammler von Folklore, Sagen, Epen und Klageliedern, letztere seien Lobgedichte und Traueroden gewesen, die von Frauen anlässlich tragischer Ereignisse und zu Ehren Verstorbener gesungen wurden.

Er umschrieb die Unterschiede zwischen erzählter „Wortkunst“, die von Vortrag zu Vortrag wie Kieselsteine im Wasser geschliffen wurde, hin zu geschriebener Dichtung, entstanden ohne die Reaktion des Publikums und deren Freude des Zuhörens.

Er schrieb, dass der Mensch „worthaft“ sei und entgegnet der Kritik an dieser Auffassung so:

«Die Welt wird vom Wort regiert. Wenn auch nicht unmittelbar, so ist es doch das Wichtigste für jene, die das Weltgeschehen bestimmen.»

Diese Aussage erinnert mich an den „Wahlkampf“ der türkischen Regierung für die Zustimmung zu der Stärkung der Präsidialmacht. Sie hat auf die Beeinflussung durch das Wort gesetzt, in all den Reden, nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland. Gegenkräften in Deutschland oder auch in den Niederlanden entgegnete Erdogan mit Beleidigungen, Drohungen und Verhöhnung.

Und die Menschen liessen sich millionenfach dadurch beeinflussen und sahen die Kraftausdrücke Erdogans als Stärke an.

Aber auch Kemal setzte sich für „das Wort“ ein, denn wer seine Romane und Erzählungen lese, dürfe niemals Kriege wollen, und:

„(…) er soll die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht ertragen können. Denn Armut ist die Schande der Menschheit. In keiner Gesellschaftsordnung darf es auch nur einen Not leidenden Menschen geben. Die Scham über Armut muss aus ihren Herzen verbannt werden.“

Vielleicht hatte das die befürwortende Bevölkerung im Sinn, denn unter der Herrschaft Erdogans kam es bisher zu einer Stabilität des Systems, dessen Regierung sich sehr oft geändert hatte, und zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in ländlichen Gebieten mit mehr Chancen, einem Leben in Armut zu entgehen.

Dann aber sprach Kemal an, wie fruchtbar für die Kultur eines Landes eine Vielfalt der verschiedenen Völker und deren Kulturen sein könnte und beklagte das Verbot der kurdischen Sprache.

„Und umgekehrt (bereicherte) die türkische Kultur die kurdische. Desgleichen befruchteten sich die Sprachen der Tscherkessen, der Lasen und anderer kaukasischer Völker, die Sprachen der Araber, der syrischen Christen und der Assyrier gegenseitig, bereicherten gleichzeitig aber auch das Türkische und Kurdische. Wenn auch die gegenwärtigen Kulturen Anatoliens nicht mehr in dem Masse wie ihre Vorgänger früherer Zeiten Quellen der Weltkulturen sind, so könnten sie ihnen doch immer noch von grossem Nutzen sein.“

Kemal sah das Bestreben Anatoliens, der Heimat der Kurden, ein Einheitsstaat neben der Türkei zu werden, kritisch, und lehnte den Krieg der Kurden gegen die Türken rigoros ab, denn das Bestreben richte sich gegen die Demokratie.

Kemal glaubte an den Menschen. Und so endete seine Rede zur Verleihung des Preises des Deutschen Buchhandels so:

„Ich habe einen tief verwurzelten und, wie ich denke, unerschütterlichen Glauben an den Optimismus des Menschen. Das Herz des Menschen ist voller Lebensfreude. Wir kommen aus einem Dunkel und gehen in ein Dunkel, das ist gewiss; wir haben viel Böses, haben viele Kriege, viele Seuchen, viele Gräuel erlebt, und dennoch heisst es: Die Welt ist schön, wir wollen sie nicht missen. Dies sind nicht meine Worte, ich habe sie aus den Sagen, den Volksliedern, den Märchen, den Balladen, den Klageliedern, und ich habe sie von Dostojewski. Woher wir auch kommen, wohin wir auch gehen mögen, so haben wir doch diese schöne Welt, dieses Licht, diese tausendundeinfarbige Erde, diese lebensfrohen Menschen gesehen, haben sie erlebt. Was, wenn wir gar nicht gekommen wären, diese schöne Welt überhaupt nicht erlebt hätten...?

Die Lebensfreude im Menschen ist unsterblich. Ich wollte immer der Sänger des Lichts, der Sänger der Freude sein; habe immer gewollt, dass die Leser meiner Romane Menschen voller Liebe seien: zum Menschen, zu Wolf, Vogel und Käfer, zur ganzen Natur. Und ich bin überzeugt, dass die auf dieser Erde so prächtiger Kulturen sesshaften Menschen meines Landes nicht in diesem Zustand verbleiben, dass sie diese fruchtbare Kulturlandschaft wieder zum Grünen bringen, dass wir früher oder später zu einer echten Demokratie gelangen und dass wir der Länder Völker auf der ganzen Welt, die ihren Kampf für die Demokratie austragen, unsere Hilfe nicht versagen werden.“

Einerseits ist es die Hoffnung auf Grösse, Stabilität und auf höheren Lebensstandard, den das Wahlvolk mit seinem „Ja“ hegt, andererseits ist es das Bestreben, zu einer echten Demokratie zu kommen, die es mit „Nein“ stimmen liess.

Hoffen wir, dass die Machtfülle, die Erdogan durch diese Wahl zugesprochen wurde, nicht dafür benutzt wird, andere Menschen und Kulturen des Landes zu unterdrücken, hoffen wir, dass die Türkei dadurch sich nicht zu einer Diktatur entwickelt, die vielen Menschen Leid bringt!

Noch ist die Türkei Mitglied der Nato, wovon kriegerische Aktivitäten unter den Mitgliedsstaaten ausgeschlossen werden; noch gibt es vielfältige Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland; auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union scheint Erdogan keinen Wert mehr zu legen, womit er allerdings nicht allein in Europa ist. Er ist aber fest entschlossen, einen Alleingang gegen die allgemein anerkannten Regeln der parlamentarischen Demokratie zu vollziehen, wodurch der Schritt zu einer diktatorischen Alleinherrschaft nicht mehr gross ist.

Europa ist also nicht optimistisch, dass die Türkei in absehbarer Zeit wieder zu einer „echten Demokratie“ zurück findet. Und das lässt besonders die Deutschen wieder an ihre leidvolle Erfahrung mit der nationalsozialistischen Diktatur denken.

In einer Zeit, in der einfache Lösungen für komplizierte Probleme durch Populisten angeboten werden, könnten die Hoffnungen der „Ja“-Wähler in der Zukunft bitter enttäuscht werden. Denn auch die „Wortkunst“ ist nicht frei von der Verwendung zu Machtstreben und Machtmissbrauch.

 

Quellen:
Wikipedia: „Yasar Kemal“
http://www.friedenspreis-des-deutschen-Buchhandels.de/sixcms/media.php/1290/1997_kemal.pdf

 


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