Der Bestatter
Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
Bei der Bushaltestelle in Wimbledon (London) begegne ich öfters einem Mann mittleren Alters. Er hat einen seltsam wiegenden Gang. Er zappelt voller Ungeduld, wie er auf den Bus wartet und wippt fortwährend von einem Bein aufs andere. Immer wieder schaut er auf seine Uhr und hält mit vorgestrecktem Hals Ausschau nach dem Bus, der auf sich warten lässt. Hin und wieder erscheint er schwarz gekleidet, mit schwarzer Krawatte. Kommt der Bus endlich, drängt er sich vor und steigt zuerst in den Bus. Insgeheim habe ich ihn “der Bestatter” getauft.
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Hier will ich diesem seltsamen Kauz eine Geschichte im Freilauf meiner Fantasie andichten:
Der Bestatter ist ein Untermieter in einem Haus an der Calonne Road. Auf einem Kochherd in seinem Zimmer bereitet er abends sein Essen: Spiegeleier oder Würste mit viel Senf und mit weichem Weissbrot verzehrt.
Er hat Zugang zur Toilette nebenan im 3. Stock. Sein schwarzer Anzug hängt an einem Kleiderbügel an der Türe befestigt. Sein kleines Fenster ist von einer Riesenpappel beschattet. Ein altmodischer Wecker schrillt. Der Bestatter erwacht und entsteigt sofort seinem Bett. Er rasiert sich sorgfältig, denn er ist heute zu einer Beerdigung bestellt.
Nach einer halben Stunde erreichte er das in glänzendem Schwarz polierte Vehikel. Er half beim Laden des Sargs, worauf er mehrere Kränze befestigte. Der Leichenwagen verliess die seitliche Ausfahrt. Acht Autos mit Familienangehörigen schlossen sich ihm an. Der Bestatter sass mit einem Kollegen neben dem Fahrer. Die langsame Fahrt zum nahen Friedhof begann.
Die Religionen bestimmen die Zeremonien. Diesmal war der Verstorbene ein Mitglied der “Church of England”. Die Autos fanden ihre Parkplätze neben der Kapelle. Die Angehörigen legten ihre Blumensträusse in einen Behälter beim Eingang der Kapelle. Vier Sargträger trugen in bedächtig wiegendem Gang den Sarg. Dem Bestatter oblag es, die Gleichschritte zu bestimmen. Der Sarg durfte keineswegs wanken. Vor dem Altar stellten sie den Sarg auf ein Podium. Die Trauergemeinde bezog ihre Plätze. Ein Orgelspiel erklang. Der Pfarrer erschien. Nach kurzer, oft wiederholter Ansprache, segnete er die Kongregation und verliess seine Kanzel. Einer der Söhne des Verstorbenen feierte, wie man so schön sagt, das Leben seines Vaters.
Wiederum war es die Pflicht des Bestatters, den Gang zur Grabstätte würdig vorzubahnen. In Kürze war das Grab zugeschaufelt und die Kränze und Blumen darüber verteilt.
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Die Vorgeschichte dieses Bestatters war ein Fiasko. Er konnte dem Schulunterricht nicht folgen. Seine Mitschüler foppten ihn bei jeder Gelegenheit. Er blieb freudlos und hatte keinen einzigen Freund. Er taugte für kein Handwerk und vereinsamte mehr und mehr. Er fand sich damit ab. Er hatte es seinem Vater zu verdanken, dass er ein Bestatter wurde. In dieser Rolle fand er sich zurecht. Diese Rolle konnte er bewältigen.
Seine Miete wurde vom Staat bezahlt. Der magere Lohn sichert ihm karges Essen. Eine Sozialgehilfin erschien regelmässig und versorgte ihn mit Kleider und Schuhen aus zweiter Hand. Sein Arbeitgeber gab ihm den schwarzen Anzug mitsamt schwarzer Krawatte und weissem Hemd, das seinen niedrigen Selbstwert hisste.
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