Die Begegnung am Strand
Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland
Horst machte einen Nachmittagsspaziergang zum Strand. Die Sonne schien, das Meer war ruhig, nur leichte kräuselte sich das Wasser. Auf einem Betonklotz sass eine Frau. Sie begrüsste ihn, er grüsste zurück. Er entschloss sich, auch auf dem Stein Platz zu nehmen. Nach ein paar Sätzen über das für diese Jahreszeit noch zu kühle Wetter erzählten sie sich gegenseitig ihre Lebensgeschichte. Sie war mit einem Arzt verheiratet, hatte einen 9 und einen 13jährigen Sohn und war gerade aus der Hauptstadt des Bundeslandes in diesen Touristenort gezogen, denn ihr Ehemann hatte sich mit 2 Kollegen im Nachbarort selbstständig gemacht. Selbstständig zu sein hatte zwar mehr Arbeit zur Folge, aber auch den Vorteil, sich arbeitsfreie Tage einzurichten. Auch sie hatte sich in einem Forschungsinstitut selbstständig gemacht, an manchen Monaten hatte sie zuviel Arbeit, an anderen kaum, aber sie genoss es. Ganz im Gegenteil zu ihrer früheren Zeit, in der sie als Diplompädagogin von einer Tätigkeit zu nächsten ziehen musste, die meisten zwar interessant, aber nie war es eine Langzeitanstellung. Sie hatte in der Schule mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet, in Jugendfreizeiteinrichtungen und anderen Orten. Sie war auf die Klientel eingegangen und das hätte sie auch jung gehalten, offen für Neues.
Horst hatte ein ebenso wechselhaftes Berufsleben hinter sich, war aber bereits in Rente. Auch er hatte einen pädagogischen Beruf studiert, war aber die meiste Zeit in der Wirtschaft tätig gewesen, in ständig wechselndem Kundenkontakt.
Man hatte sich viel zu erzählen über die eigenen Lebenserfahrungen, und beide merkten, dass sie ein wenig „seelenverwandt“ waren, trotz des Altersunterschiedes von 18 Jahren.
Das Gespräch plätscherte so dahin, man kam auf philosophische Inhalte, Lebensansichten, auf das Dasein im Allgemeinen.
Beide sprachen aus einer geschützten Situation heraus. Beide waren verheiratet und fest eingebunden in ihrem jeweils eigenen sozialen Raum.
Die Sonne neigte sich langsam, es wurde kühler und sie sagte, sie wolle jetzt nach Hause fahren. Horst bot sich an, sie bis zu ihrem Auto zu begleiten. Es stellte sich heraus, dass auch bei diesem banalen Gegenstand ähnliche Ansichten hinsichtlich der Funktionalität bestanden.
Dann blickte sie ihn mit ihren blauen klaren Augen an. Der Blick war offen, sympathisch, ein klein wenig kokett, herausfordernd. Er spürte unwillkürlich, wenn er darauf eingegangen wäre, wäre es zu einer Liebesbeziehung gekommen, Ihm erschien es, als sei sie bereit gewesen für eine zärtliche Berührung, vielleicht sogar für einen Kuss oder mehr.
Er ging nicht darauf ein. Es hätte das Leben zwar abenteuerreicher, aber auch komplizierter gemacht, es wäre zerstörerisch gewesen, für beide. Die Einsicht siegte, bei beiden.
So blieb nur die Erinnerung. War es eine verpasste Chance? Nein, es war eine bewusste Entscheidung für den Status quo und es war gut so.
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