Ruswil – ein Dorf im Herzen der Schweiz
Ansprache von Dr. Pirmin Meier, Historischer Autor, auf dem Marktplatz von Ruswil zum 1. August 2017, nach 11 Uhr früh
Liebe Eidgenossinnen und Eidgenossen von Ruswil, geschätzte Gäste aus dem In- und Ausland!
Vor knapp 200 Jahren bereiste Walter Scott, Schriftsteller, der damals berühmteste Schotte, die Schweiz in Richtung Italien, wo Gioachino Rossini seine Geschichte „La donna del lago“ in eine Oper umgesetzt hatte. „Die Frau vom See“, das war zwar nicht der Soppensee, sondern ein ähnlicher kleiner See im Bergland Schottland. Bei seiner Schweizer Reise ging es dem Schriftsteller Walter Scott aber weder um den Soppensee noch um den Sempachersee. Er reiste durch die Zentralschweiz, um die Heimat von Wilhelm Tell kennenzulernen. Vor der Zeit der Eisenbahn konnte der Weg von Olten nach Luzern via Huttwil oder Zofingen ohne weiteres durch Ruswil führen. Das Gleiche galt für den 2. Freischarenzug vom 1. April 1845, der unter Führung des späteren Bundesrates Ulrich Ochsenbein von Zofingen und Huttwil aus gestartet wurde.
20 Jahre vor Ochsenbein haben zwei der berühmtesten Dichter der damaligen Welt Ruswil besucht beziehungsweise Neuenkirch: Walter Scott, der berühmteste englischsprachige Autor zur Zeit von Goethe und Schiller, sowie Clemens Brentano, der romantische Poet aus Frankfurt. Brentano, soeben katholisch geworden, besuchte in Neuenkirch den Luzerner Dorfheiligen Vater Niklaus Wolf von Rippertschwand, bekannt als Erneuerer der Graswirtschaft, Gesundbeter und Patron des konservativen Ruswiler Vereins, dem Vorläufer der heutigen CVP. Unter liberalem Protest gegründet im Rössli Ruswil. Im gleichen Rössli ist lange vorher mutmasslich auch Walter Scott abgestiegen. Der schottische Dichter erwähnt die Einwohner von Ruswil als „Natives“, Eingeborene. Eigentlich kein Kompliment für die Einheimischen. „Natives“ – so nannten die Engländer auch die Schwarzen in ihren Kolonien. Darüber hat der in Etzenerlen aufgewachsene verstorbene Ruswiler Afrika-Missionar Al Imfeld, vor einem Jahr hier Bundesfeierredner, viel gewusst. „Natives of Ruswil“ – das tönte etwa so: „Von ihren Bäumen herab glotzten die Eingeborenen von Ruswil auf mich, den berühmten britischen Dichter Walter Scott“.
Falls Walter Scott geglaubt hat, in Ruswil lebe ein Völklein jenseits von Zivilisation, so täuschte er sich genau so wie der Freischarengeneral und spätere Bundesrat Ulrich Ochsenbein. Wie Walter Scott ist der Berner mit seinen Truppen auf dem Weg nach Luzern vom Berner Oberaargau von Huttwil aus via Ruswil vor die Stadttore von Luzern gelangt. Das war am 31. März 1845. Nach seinem Bericht wurde es ihm spätestens in Ruswil klar, dass das Landvolk im Kanton Luzern nicht auf eine militärische Befreiung von aussen gewartet hat. Der Freischarenzug mit der Schiesserei beim Wirtshaus zum Klösterli in Malters, wo man heute noch Einschusslöcher sehen kann, wurde ein totales Fiasko.
Die Meinung, in Ruswil und Umgebung, also im alten Amt Ruswil, gäbe es wenig Zivilisation, im Gegensatz zu Bern und Luzern, ist eine historische Fehleinschätzung. Zur barocken Zeit von Shakespeare und Marlowe hat man in Ruswil schon Theater gespielt. Zwar nicht Romeo und Julia, aber über Bruder Klaus. Verfasser war Jakob Frener, seit 1633 Kaplan von Ruswil. Ausser über Bruder Klaus wurde zum Beispiel auch ein Spiel über den heiligen Jost aufgeführt, den Einsiedler und Pilger aus der Bretagne. Was Bruder Klaus betrifft, so wurde sein „Johrzet“ in Ruswil von Anfang an gefeiert, so wie sonst nur noch in Beromünster. Und was hat Bruder Klaus mit der Befreiungstradition zu tun, mit Wilhelm Tell und dem sogenannten Arnold von Melchtal? Sehr viel, und all das hängt auch wieder mit Ruswil zusammen. Der Melchtal wollte eine Ochsensteuer nicht bezahlen, eine Schikane, gegen die sich auch die Ruswiler Bauern mal gegen Luzern gewehrt haben. Diese Geschichte hat der Erstaufzeichner der Schweizer Befreiungslegende nach dem Obwaldner Historiker Robert Durrer von Bruder Klaus erfahren, dem das Grundstück Melchi, Schauplatz der Ochsenfehde, zur Zeit der Aufzeichnung gehörte.
Bruder Klaus konnte zwar wie die Bauern von Sigigen und Rüediswil weder lesen noch schreiben, hatte aber den bestmöglichen Schreiber seiner Zeit. Das war Hensli Schriber aus dem Engelbergertal. Er schrieb nicht bloss alle Urkunden auf mit dem bekannten Zaunrecht, von dem Krieg und Frieden, Friede und Fehde unter den Nachbarn abhing. Gleichzeitig mit den Besitztümern der Familie von Bruder Klaus notierte Schriber auch die Geschichte vom Schützen Tell. Er hat in Altdorf nicht gleich drauflosgeschossen. Nach Schriber nicht mal seinen Sohn dabei gehabt, als er den Hut nicht grüsste. Der Sohn musste von den Schergen Gesslers noch extra von zu Hause geholt werden. Und vor dem Schuss hat er zum heiligen Sebastian gebetet. Was hat das mit Ruswil zu tun? Wir wissen, dass im Zusammenhang mit Wolhusen, also dem Sempacherkrieg, später auch mit dem Bauernkrieg, die Schützen von Ruswil eine grosse Rolle spielten. Übungen der Büchsenschützen, die alle zur Bruderschaft des heiligen Sebastian gehörten, sind seit 1537 nachgewiesen. Ein Schützenhaus gibt es in Ruswil seit 1567, also ungefähr der Zeit, als in Stratford upon Avon William Shakespeare zur Welt kam. Hat man im Mittelalter zum Beispiel im Buholz noch bei Steinen und unter Linden Gericht gehalten, so gibt es in Ruswil doch schon 1619 ein Rathaus. Man lebte also schon lange nicht mehr auf den Bäumen. Und die Bauern in den verschiedenen Weilern wie Rüediswil und Sigigen hatten ihre eigenen Korporationen. Das bedeutete Selbstverwaltung und von Luzern zu garantierende. Eine wichtige Voraussetzung des Sempacherkrieges war, dass weit über hundert Ruswiler Dorfleute ins Stadtrecht von Luzern aufgenommen wurden. Umgekehrt hat Ruswil gegenüber Luzern seine Freiheiten immer wieder eifersüchtig verteidigt, bei den Bauernkriegen 1513 und 1653, später beim Käferkrieg zur Zeit der Helvetik am 15. April 1799. Mit den Aufständischen sympathisierte auch schon der fromme Bauer und Ratsherr Niklaus Wolf von Rippertschwand aus Neuenkirch. In Sachen Bildung lebte man schon lange vor dem Besuch von Walter Scott nicht mehr auf den Bäumen. Es gab in Ruswil zwischen 1806 und 1809 ein Lehrerseminar, wo die Normalmethode nach Pater Niward Krauer von St. Urban vermittelt wurde. St. Urban und nicht Pestalozzi haben bei uns den Leuten Lesen und Schreiben gelehrt, lange vorher schon der Pfarrer und Magister Conrad Wagner zur Zeit von Bruder Klaus, vor 500 Jahren schon der gelehrte Pfarrer Jost Kirchmeier von Luzern. Pfarrer Joseph Sigrist, zur Zeit des Ruswilervereins, war allerdings Pestalozzi-Schüler
Im Zusammenhang mit der Mädchenbildung muss die Tätigkeit der Ordensfrauen erwähnt werden. Um deren Tracht gab es um 1876 einen Kopftuchstreit, der bis vor den Bundesrat gekommen ist. Das hängt mit Streitigkeiten zwischen liberalen „Schwarzen“ und den konservativen „Roten“ zusammen. Ruswil wurde zur Zeit des Kulturkampfes zur Hochburg im Lehrschwesternstreit. An der Spitze der Liberalen stand der Rechtsanwalt Matthias Schmidlin. Im ganzen Kanton sammelte er 200 Unterschriften gegen Schwester Calasentia Huber, die damals die Mädchensekundarschule führte. Bedeutete die Anstellung von Ordensfrauen eine Verletzung von Art. 27 der Bundesverfassung betreffend Glaubens- und Gewissensfreiheit. Der Bundesrat liess die Sache durch einen neutralen Basellandschäftler Ständerat abklären. Das Resultat war für die Ordensfrauen ausgesprochen günstig. Bekanntlich wurde diese Schule noch bis vor 50 Jahren und später von Klosterfrauen geführt, mit einem eindrücklichen Preis- Leistungsverhältnis. Der Bundesrat wusste es Es galt ausser für die Innerschweiz auch für Graubünden, Fribourg, den Jura und das Wallis. Ohne Ordensfrauen, mit den Zentren Baldegg, Heiligkreuz, Ingenbohl und Menzingen hätte es in früheren Generationen keine höhere Mädchenbildung gegeben. Wie der Wechsel der Mode ein Stück Freiheitsgeschichte. Zu der Zeit, als die Luzerner Männer, zuerst Liberale, später Konservative, im Kanton die Demokratie erkämpften, kam bei den Landmädchen und Landfrauen erstmals die Mantelmode auf. Dass Kleider Leute machen und die Mode einen Zusammenhang mit Frauenbefreiung hat, wissen wir nicht erst seit dem Streit um Burka und Tschador.
Wir feiern heute den Nationalfeiertag. Dabei sind wir uns nicht einmal über die Nationalhymne einig. Sie trieft weder von Blut wie die von Frankreich noch stellt sie Gebietsansprüche wie die alte deutsche Hymne oder die von Russland. Der Schweizerpsalm stellt ganz einfach die Heimat unter den Machtschutz Gottes. Falls es zu schwierig ist, diese Hymne zu lernen, wie der Chef des Lehrerverbandes behauptet, ist das kein Kompliment für unsere Bildung. Dann ist wohl auch das Vaterunser für unsere Jugend nicht mehr zumutbar. Natürlich gibt es nicht nur eine Nationalhymne. Luzern, Basel, Aargau und Thurgau haben auch kantonale Hymnen. Ruswil sogar eine Dorfhymne, verfasst von Lehrerin und Jugendschriftstellerin Elisabeth Müller. Es kommen darin sogar die Bäume vor, von denen wir längst herabgestiegen sind:
„Im Kreise hoher Bäume zu Füssen sanfter Höhn,
Da liegt mein Heim das liebe, mein Ruswil, traut und schön.“
Als politischer Mensch möchte ich noch klar machen: Im Verhältnis zur eidgenössischen und kantonalen Politik im Vergleich zur Politik in der Gemeinde stimmen die Proportionen nicht mehr. Dass Gemeinderäte auf Milizbasis arbeiten, oft für ein Trinkgeld, eidgenössische Parlamentarier mit Spesen oft weit über 100 000 Franken einstreichen samt Prominenzbonus, widerspricht dem Schweizer Milizprinzip. Dass man in einzelnen Dörfern kaum mehr drei Personen findet, um die Gemeindegeschäfte zu führen, fürs eidgenössische Parlament aber tausende kandidieren, scheint mir unschweizerisch. Wenn schon, müsste die Wertschätzung umgekehrt sein. Vergessen wir nicht: Bruder Klaus hat sich als Dorfpolitiker gegen ungerechte Steuerverhältnisse gewehrt und auf die Einhaltung von Marchen und Grenzen gepocht, wie es zum alten Obwaldner und Entlebucher Zaunrecht gehört, von dem unsere Professoren und Rechtsgelehrten kaum eine Ahnung haben. Darum die Diskussion um den Spruch von Bruder Klaus „Machet den Zaun nicht zu wit“. Man kann jeden Spruch einseitig und auf seine Weise interpretieren. Wahr bleibt: Auf jeder Ebene, privat und öffentlich, moralisch und politisch, müssen Grenzen und Schranken eingehalten werden. Wo das nicht mehr vorhanden ist, fehlen Voraussetzungen zum Frieden. Im Hause, im Dorfe muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland. Das hat wohl auch Bruderklaus-Bewunderer Jeremias Gotthelf richtig gesehen. Über alles aber verdient es unsere Heimat, dass wir sie gern haben. Ich schliesse mit den Versen der Ruswiler Lehrerin und Dichterin Elisabeth Müller:
„Ich wünsch Dir Glück und Frieden, mein Vaterort so traut,
Dich schütze Gott im Himmel, der auf dich niederschaut.
Und wenn ich von Dir scheide, und fremde Strassen find,
Ich bleib auch in der Ferne, ein treu Ruswilerkind.“
Ruswil und Beromünster, am 1. August 2017
Pirmin Meier
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