Textatelier
BLOG vom: 04.09.2017

Ein Tag mit unterschiedlichen Realitäten einer Welt

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

Die Redensart, dass etwas eine andere Welt sei, stimmt meines Erachtens nicht, es gibt nur eine Erde und damit auch nur eine Welt, in der wir leben. Damit ist gemeint, dass die Ausprägungen der Wirklichkeit unterschiedlich sind.

Ich werde morgens in meinem eigenen Bett wach, stehe auf, mache meine Morgentoilette, frühstücke zusammen mit meiner Frau und befinde mich mit dem, was ich tue, in meinen eigenen vier Wänden. Für mich ist das die eine Realität.

An diesem Morgen habe ich einen Termin in einem Yoga-Club. Mit anderen Personen, die ich nur aus diesen Übungsstunden her kenne, mache ich unter Leitung einer ausgebildeten Yoga-Lehrerin die Übungen, die sie uns erläutert. Mit der indischen Musik, der bewussten Atemtechnik, dem Gruss Namaste befinde ich mich in einer ganz anderen Realität, die Aussenwelt wird, so weit dies möglich ist, ausgeschlossen.

Mittags gehen wir in ein Restaurant essen. Die anderen Gäste sind uns vom Sehen her bekannt, aber nicht näher. Mit den Wirtsleuten reden wir ein paar Worte. Für sie ist das Restaurant, das Hotel, das sich im selben Haus befindet, das gemeinsame Kind und die Mitarbeiter ihre Realität und ich erkenne, sie zählen die Stammgäste hinzu.

Am frühen Nachmittag fahre ich in die hiesige Stadtbibliothek. Dort liegt ein Buch für mich bereit, das ich mir über die Fernleihe bestellt habe. In diesem Fall ist es mir untersagt, es mit nach Hause zu nehmen, weil es im deutschen Bibliothekswesen das einzige Exemplar ist, das öffentlich verfügbar ist.

Ich setze mich also in eine Leseecke. Zufälligerweise ist die fiktive Geschichte dieses Buches auch in Indien, und zwar in einem indischen Dorf, in dem Bramahnen wohnen, angesiedelt. Es geht in dieser Geschichte um ein Dilemma.

Ein Brahmane, der allerdings nicht nach den Vorschriften gelebt hat, und zudem auch keine Verwandten hat, ist gestorben. Das ganze Dorf darf nicht essen und trinken, bevor der Leichnam nicht eingeäschert ist. Aber wer soll ihn zum Feuerplatz bringen? Man will einen religiösen Weisen befragen, der wiederum eine Antwort bei den Göttern sucht, die ihm allerdings kein Zeichen geben.

Die Bewohner hungern und dürsten und die Leiche beginnt in der Hitze an zu stinken. Wieder und wieder werden die religiösen Regeln befragt, werden Lösungen des Problems erörtert, aber es findet sich keine.

Die Dorfbewohner flüchten vor dem Gestank und vor den Geiern, die sich die Ratten, die aus den Hütten kommen und tot umfallen, holen. Es werden immer mehr Geier und Ratten, die sich nicht vertreiben lassen.

Der brahmanische Weise kommt mit der Geliebten des Verblichenen zusammen und in einer schwachen Stunde schläft er mit ihr. Nach den Vorschriften darf er jetzt auch keine Ratschläge mehr erteilen.

Und so geht alles seinen Gang. Nachts sorgt die ehemalige Geliebte mithilfe von islamischen Bewohnern eines Nachbardorfes für die Einäscherung des Toten, eigentlich ein Sakrileg, was aber die Dorfbewohner zunächst nicht mitbekommen. Einige Dorfbewohner sterben zu gleicher Zeit an einer mysteriösen Krankheit. Diese Vorfälle werden als göttlichen Eingriff gesehen, weil alles in Unordnung geraten ist.

Allmählich wird aber durch Aussenstehende anderer Dörfer erkannt, dass es die Pest ist, die in diesem Dorf ausgebrochen ist.

Das Buch ist so beeindruckend geschrieben, dass ich in meiner Leseecke mich in Indien wähne, nicht mehr hier in Deutschland, fast den Leichengestank riechen kann, ein Zuhörer der Gespräche bin, die geführt werden, ein unfreiwilliger Zuschauer der Liebesnacht.

Nach zwei Stunden reisse ich mich vom Buch los, komme wieder zurück in meine Alltagswelt, verlasse die Bibliothek, und fahre mit dem Rad zurück nach Hause, um dort etwas zu essen.

Am Abend habe ich einen Termin. Ich leite ehrenamtlich zusammen mit einer jungen Frau einen Literaturkreis im Gefängnis im Nachbardorf. Die Gefangenen haben ein Buch, das sie kapitelweise lesen, und das dann diskutiert wird.

Um in das Gefängnis zu gelangen, müssen bestimmte Prozeduren durchlaufen werden. Wir schellen an der Tür, sie wird elektronisch geöffnet, wir geben unseren Personalausweis ab, bekommen einen Schlüssel für ein Fach, in das wir Wertsachen, Handy und Schlüssel deponieren müssen. Wir durchlaufen eine Schleuse, werden überprüft, gehen dann durch mehrere gesicherte Türen in den Bereich, in dem die Gefangenen Besuch empfangen dürfen, und werden durch einen Vollzugsbeamten in den Teil des Gefängnisses geleitet, in dem sich der Raum befindet, in dem der Literaturkreis stattfindet.

Heute wird mehr über die Zustände im Knast gesprochen, als über das Buch, das wiederum in eine ganz andere Realität entführen kann, die Biographie eines Mannes wird geschildert, der als Waisenkind in einem Heim aufwächst, dort missbraucht und misshandelt wird, und an dessen Folgen er sein Leben lang leidet. Gleichzeitig wird er liebevoll von guten Freunden unterstützt, die aber nur wenig von seinem Lebenslauf, der schrittweise im Buch zutage tritt, wissen.

Nein, heute wird über Machtspiele im Knast berichtet, über unnötige Verzögerungen bei Entlassungsprozeduren, über fehlende oder versagte Resozialisierungsmassnahmen.

Die Lebensumstände hinter den geschlossenen Türen und Mauern sind so unterschiedlich von der Welt aussen, wie man sie sich kaum vorstellen kann, geschweige denn miterleben kann, weil ich als Aussenstehender nur die mich betreffende Behandlung als Betreuer und Besucher erfahre.

Zurück zu Hause angekommen fahre ich meinen Computer hoch, wähle mich in Skype ein, rufe den Kontakt zu einem Deutschlernenden auf, der fern in Mexiko zu Hause ist, und dem ich in einer Unterrichtsstunde deutsche Grammatik erläutere. Ich sehe und höre ihn, meine Erläuterungen vertiefe ich durch die Schriftform am Rande des Videobildes. Er erzählt mir, wie er seinen Tag bei sich in dieser riesigen Millionenstadt Mexiko-City verbracht hat.

Ich habe mich heute nur im Umkreis von wenigen Kilometern von meiner Wohnung aus bewegt und doch bin ich in so vielen verschiedenen Lebensrealitäten eingetaucht, habe völlig unterschiedliche Situationen erlebt.

Ist das eine Welt? Ja, es waren Facetten einer Welt!

Quellen zu den erwähnten Büchern:
Anantha Murthy, U.R., Samskara, Oxford University Press, 1978
Yanagihara, Hanya, Ein wenig Leben, Hanser Verlag Berlin, 2015

 


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