Andere Kulturen, andere Denkweisen
Autor: Richard G. Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache/D
Schon lange hatte er sich gefragt, ob der Job, den er seit 3 Jahrzehnten ausübte, das wirklich war, was ihn ausfüllte.
Diese Tätigkeit mit seinen Herausforderungen, wie sie die Präsentationen vor fachkundigem Publikum war, mit der Forderung, sich dauernd fortzubilden, neue Produkte bis ins Detail zu erfassen, die täglichen Gespräche mit den Kunden, die Büroarbeiten, sie hatten seine Tage gefüllt.
Aber war das alles notwendig? Schon längst sind die Konkurrenzprodukte nur in Kleinigkeiten unterschiedlich, Details, auf die es bei der Anwendung kaum ankommt.
Die Aussicht auf die Pensionierung rückte näher. Und er ergriff die Möglichkeit, 2 Jahre früher aufzuhören. Mit einer sicheren Rente, sein bedingungsloses Einkommen, wie er es nannte, konnte er seine lang gehegten Träume in die Tat umsetzen. Das tun, was er schon immer wollte, fremde Kulturen erleben, nicht als Tourist, sondern nahe an und mit den Menschen.
Und so bewarb er sich darauf, als er von einer Stelle im fernen Indien hörte, als Gastdozent einige Monate zu unterrichten.
Er war gebunden, sie wollte nicht mit, das heisse Klima, die Aussicht, dort irgendwo festzusitzen, während er beschäftigt war, das wollte sie nicht.
Dann war es soweit. Abschied auf Zeit, bereit, etwas Neues zu erleben.
Die Organisation in Bangalore vermittelte eine Unterkunft und bald stand er vor einer Klasse junger indischer Erwachsenen, die begierig waren, etwas von ihm zu lernen.
Sie wollten von ihm etwas über Deutschland erfahren, er über Indien. Die Verständigung war fast problemlos, englisch ist eine der Amtssprachen im Land.
Erstaunt lernte er die tiefe Gläubigkeit der Menschen kennen. Der Hinduismus ist so fremd mit seinen vielen Göttern, mit Ganesha, dem göttlichen Wesen mit dem Elefantenkopf, mit einem Gott mit vielen Armen, mit Shiva, mit der Seelenwanderung, die auch von Mensch zum Tier oder zurück ablaufen konnte.
Daneben existierte in scheinbarer Koexistenz der Islam.
Ihn, der sich vom Gottesglauben abgewandt hatte, war die Frömmigkeit fremd. Zudem hatte er den Eindruck, dass die Priesterkaste nicht schlecht von den Einnahmen, die sie von den Gläubigen, und auch vom Staat, wie ein Inder ihm versicherte, nicht schlecht lebt, oft besser als die Gläubigen selbst.
Er sah, wie Angehörige der unteren Kasten, die, obwohl das Kastenwesen offiziell abgeschafft worden war, aber dennoch existierten und nicht davon loskamen, in den Abfällen der Stadt wühlten, um die Wertstoffe daraus zu klauben, er sah die Bettler auf den Strassen. Gestank von Abwasser stieg ihm an vielen Ecken der Stadt in die Nase.
Er registrierte die Kühe in der Grossstadt und die Autofahrer, die geduldig um sie herumfuhren, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Er beobachtete die Arbeiter auf den fragilen Bambusgerüsten der Neubauten.
Er erlebte lärmerfüllte Feste, auch solche, die mitten in der Nacht begannen.
Er fand heraus, wie es zu Hochzeiten kam. Die Eltern suchten aus, und in den gebildeten Schichten hatte die Tochter ein Vetorecht, in den anderen, weniger gebildeten Schichten selten.
Immer ging es um Geld. Die Tochter musste einen Brautschatz mit in die Ehe bringen. Konnten die Eltern ich nicht aufbringen, mussten sie sich verschulden oder die Ehe kam nicht zustande. Und die Familie ist für Inder das Wichtigste im Leben. Ohne Familie gilt die Frau wenig, trotz aller Emanzipationsbestrebungen der Frauen in beruflicher Hinsicht.
Er sah, saugte alles in sich auf und versuchte zu verstehen.
Es ging nicht. Er konnte sich nicht in die Denkweise der Menschen hinein versetzen.
Je mehr er registrierte, desto stärker wurde die Erkenntnis, dass auch der ganze Rest seines Lebens nicht ausreichen würde, mehr als einen Zipfel dieser Kultur zu begreifen.
Er kam, beobachtete, sprach mit den Menschen, liess sich erklären, aber er verstand sie nicht.
Und er bemerkte, dass auch seine ihm eigene Denkweise bei den Menschen nicht verstanden wurde, seine Auffassung vom Leben, vom Dasein, vom Grunde.
Als er nach Hause zurückkehrte, sah er die Dinge anders. Er konnte und wollte keine Urteile über Menschen, ihr Denken, ihr Verhalten, ihr Leben mehr abgeben.
Wie hiess das noch in der Winterreise des Dichters Wilhelm Müller, vertont von Franz Schubert: Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus….
Eine Lebenserkenntnis setzte sich bei ihm fest: Es gibt sie, die kulturellen Unterschiede, das andere Gefühl und Denken, die andere Sozialisation, trotz Globalisierung und Kapitalismus. Und sie bleibt ein Leben lang, unabhängig davon, wo man gerade wohnt.
Dazu kam noch die Erkenntnis, dass ein glückliches Leben nicht viel mit Geld zu tun haben muss. Viele der Menschen, die er kennen gelernt hatte, waren - im Vergleich zum westlichen Standard - arme Schlucker. Dennoch, er hatte selten so fröhliche Menschen gesehen, trotz aller Mühsal. Natürlich gab es auch die anderen, die Sorgenvollen, die Geschäftsmacher. Wenn die Menschen in westlichen Ländern vom Kastenwesen hören, denken sie oft, dass Menschen, die in die unterste Kaste hineingeboren worden waren, mit ihrem Schicksal hadern und unglücklicher seien als die anderen. Bestätigen konnte er das nicht.
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