Textatelier
BLOG vom: 19.04.2005

Stille Beerdigung gleich neben dem Zofinger Heiternplatz

Autor: Walter Hess

Die Teilnahme an Beerdigungen gehört nicht eben zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Und wenn ich von den Millionen von Pilgern höre, die nach Rom reisten, um die sterblichen Überreste von Papst Johannes Paul II. umrunden zu können, begegne ich solchen Erscheinungen mit Unverständnis. Ein künstlich und mit Vatikan-Beteiligung masslos aufgebauschtes Event, eine Erinnerung an Zeremonien um die königliche Diana. Ein Massenphänomen. Das Pilgern ist die Sache der Pilger, ihr gutes Recht, das Unverständnis solchen Zeiterscheinungen gegenüber aber meine rein persönliche Angelegenheit.

Manchmal ist das verwandtschaftliche oder freundschaftliche Eingebundensein derart geknüpft, dass man einem wertvollen Menschen die letzte Ehre erweisen muss, oder es drängt einen selber, eine Geste der Wertschätzung zu tun, auch wenn der oder die Verstorbene nicht mehr viel davon haben dürfte. Und genau diese Situation war gegeben, nachdem mir dieser Tage der Tod einer wertvollen, bescheidenen und hilfsbereiten Frau, die kurz vor dem Pensionierungsalter stand, und zusätzlich das Datum der Beerdigung in der Nähe des Heiternplatzes in Zofingen gemeldet worden ist. Dort oben, auf dem Heiternplatz, gibt es einen kleinen Friedhof, der „Bergli“ genannt wird, wahrscheinlich um das Heitere, das nicht so richtig zu einem Friedhof passen will, sprachlich zu umgehen. Auf jenem Bergli gibt es Familiengräber von Zofinger Bürgern mit opulenten bildhauerischen Steinen, bescheidene Grabplatten neben Blumenschmuck aus der Gärtnerei, Bäume und Skulpturen, die nach oben weisen, himmelwärts.

Es war ein schöner, sonniger Frühlingstag; eine leichte Bise hielt die Luft kühl. Ich fühlte mich glücklich, nicht in ein Kirchengemäuer eintreten zu müssen. In Kirchen spüre ich immer eine dumpfe, ja eine Spur moderige Luft, die ich nur schwer ertrage. Ich weiss noch heute nicht, ob ich mir das bloss einbilde, oder ob dem tatsächlich so ist, weil in Kirchen der Lüftung zu wenig Beachtung geschenkt wird und vielleicht auch, weil die christliche Kirchengeschichte meine Sinne trübt und betrübt. Im Freien ist es mir wohl; dort kann ich atmen. Wenn ich irgendwo religiöse Gefühle haben und Ehrfurcht empfinden sollte, dann hier draussen, wo die Blumen blühen, die Bäume spriessen, die Ameisen verkehren und die Vögel zwitschern.

Im Umfeld wahrscheinlich aus Platzgründen frisch gestutzter, verwundeter Bäume wie einer riesigen Buche stand auf einer kurz gehaltenen Wiese ein einfaches Holzkreuz, darunter die Urne, dahinter ein Kranz, gespendet von den im Spital Zofingen tätigen Arbeitskollegen. Kerzen. Einige Tulpen lagen am Boden. Die Mittagssonne schien durchs Geäst. Die Familienangehörigen standen in Ehrfurcht davor. Ein bescheidener Anlass, genau wie ich ihn als sympathisch und ehrwürdig empfinde.

Ein gross gewachsener, stattlicher kongolesischer Pfarrer im langen Rock erschien, die Bibel in der über die Leibesmitte angehobenen Hand, ein breites purpurfarbenes Band um den Hals gelegt. Er gehört zu den vielen Afrikanern, die den Priestermangel in der Schweiz beheben. Er winkte die Trauergäste näher zu sich heran, rezitierte Bibelworte, setzte bedächtig eines neben das andere, langsam, deutlich. Er las den Lebenslauf ebenso gemächlich vor, verbreitete Ruhe und eine besinnliche Stimmung. Er bezeichnete die Verstorbene, die sich während Jahrzehnten liebevoll und einfühlsam um kranke Menschen gekümmert hat, als ein Vorbild an Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft. Das sei das, was wir von ihr lernen können, sagte und betonte er. Und der Rest liege in Gottes Hand: Er gebe Leben. Er nehme Leben.

Es spielte keine Rolle, was er sagte. Er sagte etwas, was an Beerdigungen üblicherweise gesagt wird, das gleichermassen tröstet und unsere Hilflosigkeit aufdeckt, und es tönte angenehm und deprimierend zugleich. Wie als magisches Ritual besprengte der charismatische Mann aus Afrika die mit Blumen bekränzte Urne mit Weihwasser und forderte die Anwesenden auf, es ihm gleich zu tun. Ergreifende Momente.

Je einfacher eine Beerdigung ist, desto eindrücklicher ist sie für mein Empfinden. Die Menschen auf dem Heitern verloren Tränen. Echte Tränen. Der Pfarrer hatte seine Pflicht getan, schritt wortlos von dannen.

Man drückte einander die Hand, bekundete Beileid. Die Mutter der Verstorbenen, die im Rollstuhl sass, hatte kalte Beine. Eine jüngere Frau zog ihre Jacke aus, legte sie über die Knie der alten Frau. Die Gesellschaft löste sich langsam auf. Einige fuhren in die „Linde“ in Mühlethal, das seit dem 1. Januar 2002 zu Zofingen gehört. Es war Zeit zum Mittagessen.

*

Die Urne würde ins Gemeinschaftsgrab kommen. So war es vereinbart.

Ein Mensch war gestorben. Die Erinnerung an sein Leben wurde am Tage der Beerdigung wiederbelebt. Und dann schwindet, verblasst sie. Nach Generationen wird davon nur noch ein Eintrag im Zivilstandsregister übrig bleiben. Digital und damit ebenfalls vergänglich.

Und wenn wir trauern, ist es vielleicht auch ein wenig die Trauer um unser eigenes Schicksal. Wir kennen es. Wir kennen das Ende. Und den Rest regelt das Friedhofreglement für beschränkte Zeit. Nachher ist jede Reglementierung sowieso überflüssig.

Man gestatte mir, daraus etwas Trost zu schöpfen.

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