Frühlingsfest im Tessin: Amore e Nostalgia
Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich
Airolo, Ambri Piotta, Faido . . .Es geht abwärts. Ich schaue auf Felswände und Abhänge, bewundere den Pelz dieser Berge und die Bäume, die auf dünnem Humus ihre Nahrung finden. Silbergrau mit braunen Strähnen erscheint die Landschaft der Leventina wie das Haar alter Menschen. Kirschbäume blühen.
Auf diesem Weg tauchen weit zurückliegende Erinnerungen auf. 1958 kam ich erstmals in das Tessin. Ich durfte bei einer Traubenernte im Malcantone mithelfen. Zu jener Zeit läuteten die Kirchenglocken zu gewissen Stunden noch Melodien, die mich ganz melancholisch stimmten. Heimweh kam auf. Wo bin ich? Was bedeuten diese Klänge? Ich fühlte mich verloren und gleichwohl froh, hier zu sein. Widerspruch der Gefühle. So werden es viele Menschen erleben, die sich einer unbekannten Kultur annähern. Und heute möchte ich genau diese wehmütigen Melodien wieder hören. So wirkt Amore. Sie hat immer auch die Nostalgie in ihrem Schlepptau.
Die Bahn fährt in gleichmässig schnellem Tempo hinab zum See, und das Postauto führt uns über viele Windungen von Lugano nach Carona, in „das 1000-jährige, von grossen Künstlern erbaute Dorf“ (Originalton von Ticino-Tourismus). Die höchsten Berge tragen noch Schneemützen. Immer wieder erscheinen Fotomotive: Palmen und Schnee im Hintergrund. Wir befinden uns da auf 602 m. ü. M. Die Lage ist einmalig, wie auf einem Balkon zwischen Monte San Salvatore und Monte Arbostora gelegen. Drunten, zirka 300 m tiefer, der Damm von Melide.
In diesem südländischen Dorf singt bei unserer Ankunft ein Bauarbeiter ein altes, romantisches Liebeslied, bricht es jäh ab, als seine Arbeit volle Konzentration erfordert. Ein emotionaler Moment für uns. Wir schauen uns vielsagend an. Wir kommen ja zu unserer Liebe zurück, wollen Orte besuchen, die mit schönen Erinnerungen verbunden sind. Die italienische Sprache mit ihrem warmen Klang nimmt uns augenblicklich an ihr Herz.
Als ich das Ferienhaus betrete, denke ich: Wie schön, dass es mich schon kennt. Durch die Küchentür grüsst der Monte Generoso von vis-à-vis. Auch er mit Schnee bepudert. Es ist kalt. Die Heizung funktioniert, doch Mauern und Böden erwärmen sich nur langsam. Als ich die Kästen über dem Schüttstein öffne, fällt Kälte herunter. Väterchen Frost grüsst und verlässt seinen Platz. Primo trägt Holz herein, macht Feuer und füttert es. Die Betten erwärme ich mit Mineralwasserflaschen, die ich mit heissem Wasser fülle. Und anderntags ist die wohlige Atmosphäre hergestellt.
Rund ums Haus gibt es verschiedene Bäume. Alle so gesetzt, dass sie ihre freien Entfaltungsräume haben, einander nicht konkurrenzieren. Wir gehen durch diesen Garten und schauen, was schon blüht. Und wir fühlen uns wohl. 6 Buchen aus der Nachbarschaft üben einen eigenartigen Zauber auf mich aus. Schaue ich sie an, lassen sie mich nicht mehr los. Sie sind landschaftsbestimmend. In ihrem Rücken der Monte Generoso, den sie abdecken. Weil die Bäume noch kein Laub tragen, erscheinen die feingliedrigen Äste und Stämme wie Spitzenkleider für den Berg.
An einem folgenden Morgen wollen wir diesen Bäumen näher kommen, schlängeln uns an den Rändern des Dorfes durch, wo es möglich ist. Aber nirgends erscheinen sie so majestätisch und liebenswürdig zugleich wie von unserer Küchentür.
Bäume, Wald, Holz, das sind unsere gemeinsamen Themen. Unerschöpflich sind die Funde für Augen und Hände, die sich auf den einsamen Spaziergängen anbieten. Nur spärlich treffen wir Menschen. Noch ist nicht Ferienzeit.
Im Dorf bezaubern die engen Gassen und die alten Bauten. Hier lebten übrigens im Haus Pantrova die Autoren Lisa Tetzner („Die schwarzen Brüder“) und Kurt Kläber („Die rote Zora“). Noch immer ist dieses Haus mit der Kunst und der Literatur im Besonderen verbunden.
Ein andermal suchen wir nach bestimmten Pflanzen und Blüten, finden sie aber nicht alle. Wir sind etwa 3 Wochen später da als letztes Mal. Und die Natur richtet sich sowieso nicht nach einem von Menschen gestalteten Kalender. Ich kann z. B. die Krokusse nicht finden, die vor 2 Jahren an einem markanten Wegrand, wie in Aufbruchstimmung zu einer grossen Reise bereit, dastanden. Als ich sie damals sah, meinte ich, sie würden sich in Begleitung ihrer Devas auf einem Schulausflug befinden. Sie fügten sich in eine lange, sich locker dahinziehende Reihe. Nicht ein einziges Zeichen habe ich diesmal von ihnen vorgefunden. Geheimnisvoll, wie sie sind, tauchen Krokusse auf und ziehen sich ebenso wieder zurück. Dafür sind mir diesmal die strengen, dunkelgrünen Stechpalmensträucher mit ihren markant roten Beeren aufgefallen.
Dann die Kirche Madonna d’Ongero. Auch sie ein Anziehungspunkt. Auf dem Weg zu ihr hin ist der Wald mit seinen wilden Buchen und vereinzelt auch Kastanien und Birken eine lichte Halle. Das Buchenlaub sorgt für ein helles Braun am Boden, die Buchenstämme schillern silbern. Sie beide sind für den Farbton im Wald und sein Licht bestimmend. Sie bringen die südliche Leichtigkeit hervor. Die schlanken Bäume, die hier keine kapitalen Wachstumsringe hervorbringen können, erscheinen wie Tänzer. Im Laufe der Woche schlüpft Buchenlaub aus. Wir können erleben, wie das linde Grün mehr und mehr erscheint.
Das Tor zum Kirchenareal wird von 2 alten Thujabäumen markiert. Aufrecht und selbstbewusst stellen sie den Übergang vom Waldbezirk zur Kirche dar. Der Weg ist mit halbierten Geröllsteinen gepflästert und beschert eine angenehme Fussmassage. 12 Nischen, einst Kreuzwegstationen, säumen ihn. Sie tragen keine Bilder mehr. Alle sind leer, aber frisch gelb gestrichen. Es gibt hier nichts Vorgeschriebenes mehr. Wir können diese Stationen in Gedanken mit eigenen Bildern aus dem eigenen Leben füllen. Bin ich jeweils bei den Thujen angelangt, zieht es mich regelrecht in diesen wohlproportionierten Vorraum hinein.
Die Kirche ist geschlossen, wird nur am Patronatsfest geöffnet. 2 offene Luken in der Tür lassen einen Blick ins Innere zu. Am besten gefallen mir der Platz davor und die Sicht ins Tal Richtung Ponte Tresa. Schon letztes Mal habe ich von hier oben die schmale Wasserstrasse ausgemacht, die Italien von der Schweiz trennt und mir gewünscht, einmal dort spazieren zu können.
Der Wunsch bleibt unerfüllt. Als wir am Samstag in Ponte Tresa ankommen, regnet es so unbarmherzig, dass wir auf Spaziergänge verzichten müssen. Die Wasservorhänge vor den Augen verwehren jede weite Sicht. Wir schlendern durch den Markt, essen Risotto, fahren zurück.
Also: Wiederkommen! Ein andermal.
Als wir wieder in Zürich sind, fühlen wir uns schlaftrunken, aus einem Traum erwacht. Das „Sechseläuten“, unser wichtiges Frühlingsfest mit seiner archaischen Art, dem Winter den Garaus zu machen, steht an. Etwas im Innern ist irritiert. Wir hatten doch schon im Tessin den Frühling gefeiert. Allerdings auf ganz stille Art.
Links für Tessin-Begeisterte
Diese Adressen führen zu Carona und Umgebung:
http://www.lugano-tourism.ch/framework/DesktopDefault.aspx?menu_id=609&old_menu_id=609&ssm=1
http://www.swisscastles.ch/Tessin/carona.html
Der nachfolgende Link steht für die Casa Pantrova:
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