Kurze und lange Lebensspannen: Stiche und Streiche
Autor: Emil Baschnonga
Gestern packte ich meine seit Monaten vernachlässigte Geige aus dem Kasten. Wie gewohnt harzte ich den Bogen – was mein Spiel noch harziger macht . . . Konnte es wahr sein, dass mein Kolophonium, ein halbes Jahrhundert alt, noch immer nicht aufgebraucht ist? Schliesslich hatte ich jahrelang tagtäglich geübt. Es wird mich überdauern, mitsamt dem Schächtelchen mit der Etikette „Hildersine – De Luxe“ – in England hergestellt. Meine zweite Überraschung war, dass die A-Saite im Einklang mit der Stimmgabel geblieben ist, was wirklich selten vorkommt.
Das brachte mich auf diese Betrachtung über Bestand und Vergänglichkeit, vom ewigen Leben ganz zu schweigen. In diese ziehe ich tote Sachen, lebendige und Gefühle mit ein. Dinge wie Schnürsenkel, Sohlen, der sprichwörtliche Krug, der zum Brunnen geht, bis er bricht, haben kurze Lebensfristen. Auf Gefühle bezogen, verpufft der Ärger meistens schnell, im Gegensatz zum Hass, der andauert – es sei denn, er werde therapeutisch behandelt.
Zum Lebendigen: In meinem Garten strecken gegenwärtig die Tulpen stolz ihre Köpfe empor. Einige warme Tage später neigen sie demütig ihre Kelche und lassen Blütenblätter fallen. Aber ihre Zwiebeln überdauern Jahre und erneuern den Frühlingszauber immer wieder. Das arme Geflügel, die Kälber und Lämmer hingegen haben dank der Menschen eine unnatürlich begrenzte Lebensdauer. Auch das Menschenleben wird durch viele Kriege und Seuchen ebenfalls grausam und unnatürlich verkürzt.
Damit ist das Thema erst oberflächlich angekratzt. „Century“ heisst der von Phaidon im Jahre 2000 nach unserer Zeitrechnung veröffentlichte 1120-seitige Fotoband und trägt den Untertitel: „One Hundred Years of Human Progress, Regression, Suffering and Hope“. Im Kindergarten durften wir braven Kleinen einst mit einer Nähnadel im Gebetsbuch nach „Heiligenbildchen“ stechen. Ich manchmal ebenfalls. Leider bin ich selten fündig geworden, ich weiss nicht warum.
Diese Technik setze ich jetzt mit einem scharfen Brieföffner fort. Hier sind meine Stichproben:
ÂÅ“ Der 1. Stich fällt ins Jahr 1925 und zeigt Charlie Chaplin, wie er genussvoll im „Goldrausch“ eine Schuhsohle verzehrt. Das ist zwar lustig, doch habe ich bereits auf die Sohlen weiter oben hingewiesen. Also weitermachen. Einen Augenblick, denn das Bild beschwört Erinnerungen herauf. Diese mögen vergilben, zeitweilig vergessen werden, aber sie flitzen, von Zufälligkeiten wachgerüttelt, immer wieder auf. So dauern Erinnerungen eine Lebzeit an – die längste Zeitspanne, die uns individuell zugemessen ist.
ÂÅ“ Der 2. Stich – mitten ins Übel – zeigt, wie Adolf Hitler im Jahr1935 die Ehrengarde abschreitet anlässlich des Antritts des neuen polnischen Botschafters in Berlin. Hier kann man gottfroh sein, dass nichts von Dauer ist! Hitlers Untergang wird jetzt im Film „Der Untergang“ aufgewärmt.
ÂÅ“ Der 3. Stich trifft den inzwischen vergessenen Krieg der Franzosen, genauer ihre Niederlage in Dien Bien Phu. Ein Soldat trägt einen toten Kameraden auf den Armen.Inzwischen hat die Welt die Folgekapitel noch nicht vergessen. Das kann ich nur aphoristisch ausdrücken: „Ein Übel aus der Welt geschafft, ist einem anderen Platz gemacht.“
ÂÅ“ Der 4. Stich bringt endlich etwas Frieden. Präsident Jimmy Carter und der israelitische Staatsmann Menachem Begin beten gemeinsam in „Camp David“ um Frieden zwischen Israel und Ägypten. Das Gebet hat gewirkt. In allen Weltreligionen sind Gebete von Wertbestand durch Jahrtausende. Dazu kann ich nicht mehr sagen, denn meine Gebete lassen sich in keine Konfession einordnen.
ÂÅ“ Der 5. und letzte Streich – wie bedeutungsvoll und symbolisch – trifft das Jahr 1991. Im Bild wird ein wuchtiges Bronzestandbild von Felix Dzerzhinky, Grossvater des KBG, in Moskau abgetakelt. Wie leicht Standbilder fallen, kennen wir aus der allerjüngsten Geschichte (Saddam Hussein). Darin liegt viel Hoffnung, die leider in diesem Fall vom ganz und gar unnötigen Krieg entwürdigt wurde. So zählebig sie auch in Bronze gegossen oder in Stein gemeisselt sind, belieben Standbilder der Unwürdigen über kurz oder lang vom Sockel zu fallen. Das kommt der Freiheit zugute.
Das Wort ist gefallen: „der letzte Streich“. Ich kann meinem selbst gesetzten Thema nicht beikommen. Genau wie damals habe ich wenige Heiligenbildchen getroffen.
So suche ich Zuflucht bei „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch. Eine tüchtige Portion von Humor hilft manchmal über manches hinweg. Es sind Trosttropfen, kurzfristige, die sich zum Glück immer wieder erneuern.
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