Christian Speck und die besten Crèmeschnitten der Welt
Autor: Walter Hess
Man schrieb das Jahr 1973. Christian Speck, meisterhafter Bäcker- und Konditormeister in Oberkulm (im aargauischen Wynental), war gerade Gemeindeammann geworden. Als damaliger Redaktor des „Aarauer Tagblatts“, der sich auch Wynentaler Aspekten anzunehmen hatte, nahm ich mir vor, ein Porträt über diesen sympathischen und quirligen Gewerbler und Lokalpolitiker zu schreiben, dem man nachsagte, er produziere die besten Crèmeschnitten der Welt. Da ich mich schon immer neben politischen auch für gastronomische Lebensäusserungen interessierte, schienen im Hause Speck, das nichts mit einer Metzgerei zu tun hatte, alle Elemente für eine farbige Reportage vorhanden zu sein.
Ich hatte mich mit Christian Speck auf einen schönen Dienstagmorgen um 9 Uhr verabredet. Beim vorausgegangenen Frühstück im trauten Familienkreis hatte ich angekündigt, es gebe dann zum Dessert am Mittag die besten Crèmeschnitten der Welt – ich würde den Vormittag in einer ganz berühmten Konditorei verbringen. Die beiden Töchterlein Edith (damals 7) und Anita (6), Perlen von Kindern, freuten sich riesig darauf, versteht sich, wir Eltern eingeschlossen.
Pünktlich traf ich, mit Notizblock und Kugelschreiber ausgerüstet, in der Oberkulmer Bäckerei-Konditorei ein. Alle Düfte von frischem Brot, vermischt mit etwas Vanille, gerösteten Nüssen, Bittermandeln, Hefe und dergleichen umarmten mich. Der frühmorgendliche Kundenandrang war gerade etwas abgeflaut, und Speck widmete sich mir. Er trug eine kurzärmelige weisse Arbeitsbluse und die typische Bäckerhose, die Berufsuniform, die Hygiene und handwerkliches Können zum Ausdruck bringt.
Er erzählte mir, wie er jeweils morgens um 4 Uhr aufstehe und die Backstube in Betrieb setzte, wie er tagsüber beim Bedienen von Kunden mithelfe, ihre Anliegen wahrnehme, administrative Aufgaben erledige und abends meistens eine Sitzung habe. Er gehörte der Schulpflege Oberkulm seit 1965 und dem Gemeinderat seit 1969 an und war allseits beliebt und geschätzt. Das lag auf der Hand, denn er war (und hier muss leider die Vergangenheitsform gewählt werden) eine menschlich aussergewöhnlich zugängliche, offene und liebenswürdige Persönlichkeit. Diese Eigenschaften verhalfen ihm zum Fortgang seiner politischen Karriere: zwischen 1980 und 1996 präsidierte er den Aargauischen Gewerbeverband, und er wurde 1995 in den Nationalrat gewählt; er gehörte der SVP an. Ab 1994 war er Verwaltungsratspräsident der AEW Energie AG, ab 1998 Zentralpräsident des Schweizerischen Bäcker- und Konditorenmeisterverbands, ab 2002 Verwaltungsratsvizepräsident der Axpo Holding und ab 2004 Verwaltungsratspräsident der NOK. Ich weiss nicht, ob seine Affinität zu Energiefragen, die ich früher nicht festgestellt hatte, aus dem Umstand herauswuchs, dass in Backstuben eben viel Energie verbraucht wird.
Selbstredend konnte man 1973 noch nichts von dieser Karriere wissen. Ich erhielt damals einfach das Gefühl, er arbeite etwa von morgens 4 bis zum anderen Morgen um 1 Uhr (mit der Teigvorbereitung als letztem Akt), wobei noch Zeit für knapp 3 Stunden Schlaf blieb. Und als ich nach einem fast zweistündigen lockeren Gespräch die Farben für ein bunt schillerndes publizistisches Lebensbild beisammen hatte und die Verabschiedung einleitete, kam mir mein Crèmeschnitten-Auftrag in den Sinn, den ich selbst eingefädelt hatte. Auch über diese süssen Berühmtheiten hatte ich mich mit dem Konditormeister selbstverständlich unterhalten, und Christian Speck freute sich, als ich ihm mein Wissen unterbreitete, sie würden als die weltbesten gelten. Doch schien es mir, als ob es ihm eher am Politisieren denn am Schildern seiner Backkünste liege. Die Produktion von Gebäck war für ihn Alltag, das tägliche Brot gewissermassen, dem er sich zwar hingebungsvoll annahm, doch seine grossen Herausforderungen sah er im politischen Leben, und eben hier hatte er noch einiges zu verändern. Die Bäckerei-Konditorei war sozusagen perfektioniert – im Gegensatz zur übrigen Welt.
Vor der gläsernen Theke, in der sich Nussgipfel, Crèmeschnitten und allerhand weitere duftende Delikatessen spiegelten, bereiteten wir den Händedruck zum Abschied vor. Ich sah mich in einer ausserordentlich schwierigen, geradezu unlösbaren Lage: Meiner Familie zuliebe musste ich mit Crèmeschnitten heimkommen. Aber wenn ich jetzt sagen würde, ich möchte noch 4 Schnitten kaufen, könnte das den Eindruck machen, ich wollte ihn, Herrn Speck, durch die Blume darauf aufmerksam machen, mir solche zu schenken. Und wenn auch Bestechlichkeit in solch einem Zusammenhang ein viel zu grosses Wort wäre, wollte ich doch alles vermeiden, was auch nur den Hauch davon haben könnte. Also verliess ich den Laden vorsichtshalber ohne Crèmeschnitten. Auf dem Heimweg fuhr ich an der Bäckerei Wolleb in Gränichen AG vorbei, nein, ich schaltete dort einen Halt ein, und ich konnte dort gute Crèmeschnitten kaufen – aber es waren eben keine Speck-Schnitten . . .
Mein Bericht erschien am nächsten Tag im AT, eingerahmt, als Kasten, und unter dem Motto „Wo ‚Speck’ steht, gibt’s die weltbesten Crèmeschnitten“. Die journalistische Arbeit war offenbar zur vollen Zufriedenheit des Bäcker- und Konditormeisters ausgefallen. Jedenfalls wurde an einem der folgenden Tage eine Ladung Crèmeschnitten an die AT-Redaktion geliefert, versehen mit Komplimenten und Dankesworten. Dummerweise hatte ich gerade Nachtdienst gehabt und sah nichts davon. Immerhin erhielt ich dann noch Kunde von diesem Geschenk, das eine durchgreifende redaktionelle Begeisterung ausgelöst hatte, und ich erhielt die Aufgabe, mich dafür schriftlich zu bedanken. Was geschah.
Doch weiss ich bis heute nicht, wie Specks Crèmeschnitten schmeckten. Da das Geschäft von einem Sohn und dessen Frau, Markus und Sandra Speck, weitergeführt wird, bleibt noch ein Rest von Hoffnung.
*
Diese Erinnerungen tauchten in mir auf, als am Donnerstag, 5. Mai 2005, die Meldung bekannt wurde, Christian Speck (68) sei nach einem „Gesundheitscheck“ notfallmässig am Herzen operiert worden und überraschend gestorben. In den letzten Wochen habe ich von mehreren Menschen gehört, die während oder kurz nach medizinischen Untersuchungen gestorben sind. Ich kenne die näheren Umstände nicht, weiss nicht, welche Mittel eingesetzt und welche physikalischen Massnahmen getroffen wurden. Ich kann mich dazu nicht äussern; doch ich habe mir über die Risiken von Vorsorgeuntersuchungen schon meine Gedanken gemacht. Da ich mich vollkommen gesund fühle, hatte ich noch nie einen Grund dafür gesehen, mich dieser Untersuchungsprozedur zu unterziehen. Doch auch dies ist meine Privatsache.
Jedenfalls ging mir der Tod von Christian Speck, dem ich noch bei vielen anderen Gelegenheiten begegnet bin, nahe. Eine Crèmeschnitte allein reicht nicht aus, um sich darüber hinwegzutrösten.
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