Der Kotzbrocken „Kollegialprinzip“ und der CH-Bundesrat
Autor: Walter Hess
Nehmen wir an, das Schweizervolk lehne den Beitritt zur EU an einer Volksabstimmung mit 66 % der Stimmen ab, 34 % wären dafür. Die Mehrheit gilt, und die Mehrheit hat in einer Demokratie immer Recht. Das muss so sein.
Und stellen Sie sich vor, die Medien würden über diese frei erfundene Abstimmung mit dem Resultat 2:1 verkünden, das Schweizervolk habe den EU-Beitritt einhellig abgelehnt. Mit solch unpräzise berichtenden Medien möchte man wenig zu tun haben.
Aus dem siebenköpfigen Schweizer Bundesrat ist genau diese Art der Berichterstattung der Normalfall. Man kennt überall im Lande die Dame und die Herren, weiss um ihre Auffassungen sehr genau. Sie haben alle eine lange parlamentarische Karriere hinter sich, und ihre Auffassungen liessen sich nie verheimlichen. Aber sobald sie in die oberste Landesbehörde eingebunden sind, müssen sie ihre persönlichen Auffassungen verleugnen – ab jetzt existiert nur noch die Meinung des Gesamtbundesrats. Das nennt man Kollegialprinzip, ein traditionelles Grundmuster für das Handeln im Innersten des Staates, das auch in anderen Ländern bekannt ist.
Die Damen und Herren Bundesräte sind wegen dieses alten Zopfs immer wieder gezwungen, sich durch eine spontane Umdrehung der eigenen Meinung in deren Gegenteil, sich durch eine Verleugnung der eigenen Haltung der vollkommenen Lächerlichkeit preiszugeben, als wankelmütige Anpasser in der politischen Landschaft umherzutrotten und dafür zu sorgen, dass die Politik, die ohnehin als die Kunst des Lügens und Verdrehens gilt, diesen Ruf nicht nur festigt, sondern gleich auch noch mehrt.
Ein besonders prägnantes Beispiel bietet zurzeit Bundesrat Christoph Blocher, der jahrelang gegen das Aufgeben der Schweizer Unabhängigkeit kämpfte – und zwar mit Erfolg – und eines Tages in den Bundesrat gewählt wurde. Innerhalb des Bundesrats-Gremiums wurde er im Hinblick auf die bevorstehende Volksabstimmung übers Schengen Abkommen (Assoziierung an die Abkommen von Schengen und Dublin, im Prinzip eine Grenzöffnung als weiterer Schritt zur Anpassung an die EU) überstimmt – er war dagegen, die Mehrheit der Kollegialbehörde dafür. Ob der Entscheid knapp ausfiel oder Blocher allein auf weiter Flur stand, darf das Volk nicht wissen. Und nun hätte er kollegialprinzipiell die Aufgabe gehabt, im Hinblick auf die Volksabstimmung vom 5. Juni 2005 als Schengen-Befürworter bei seinen getreuen Mitlandleuten, Eidgenossinnen und Eidgenossen für ein Ja zu hausieren.
Beim Beharrungsvermögen eines Christoph Blocher ist es undenkbar, dass er seine Meinung ändern könnte, bloss weil er der Schweizer Exekutive angehört. Würde er es tun, wäre es um seine Glaubwürdigkeit geschehen, tut er es nicht, strauchelt er übers Kollegialprinzip. Letzteres ist ein politisches Konstrukt, das in einer aufgeschlossenen, einigermassen gut informierten Gesellschaft keinen Platz mehr hat. Die Diskussionen sollten sich nicht darauf kaprizieren, ob sich Blocher korrekt verhalten habe, als er öffentlich mitteilte, der Bundesrat habe in der erwähnten Sache keineswegs einhellig (wie dies Bundesrat Joseph Deiss durchblicken liess), sondern mehrheitlich entschieden. Und man sollte über den Nonsens, den dieses Prinzip verkörpert, grundsätzlich diskutieren. Man müsste es nicht durch ein Führerprinzip ersetzen; denn auch eine Exekutive funktioniert nach demokratischen Regeln: Die Mehrheit gilt. Und man weiss, dass eine Einheitsmeinung im politischen Alltag nur selten zu erzielen ist. Sie ist auch nicht nötig, solange sich die Minderheit der Mehrheit fügt.
Auch Bundesrat Moritz Leuenberger war in einer ähnlichen Lage wie Blocher, als es (2003) um die Atominitiativen ging und er sich mit einer verschlüsselten Rhetorik herausreden musste, was ihm bemerkenswerterweise niemand übel nahm.
Das Kollegialprinzip wird wie ein kirchliches Dogma behandelt, als ein unverrückbarer Glaubensgrundsatz, als grundlegender politischer Wert, an dem nicht zu rütteln ist. Es scheint hierzulande nur wenige Leute zu kümmern, wenn die Schweiz ihre Souveränität herunterschraubt und sich zunehmend aus Brüssel und Washington regieren lässt. Das wird kaum als Diskussionsstoff geortet. Doch wenn einer seiner Haltung treu bleibt, ehrlich zu seiner Meinung steht (was in einer Demokratie schliesslich auch Bundesratsmitgliedern erlaubt sein sollte), dann wird Zeter und Mordio geschrieen.
Die nationalen Verdrehungen gehen aber noch weiter: Vor Abstimmungen erhalten die Stimmberechtigten in der Schweiz jeweils eine Abstimmungsbroschüre, die ganz auf die Mehrheitsmeinung von Parlament und Bundesrat ausgerichtet ist. Zwar werden die von Referendumskomitees aufgelisteten gegnerischen Gründe darin erwähnt, doch die behördliche Argumentation richtet sich vollständig auf ihre Mehrheitshaltung aus, die als Einheitshaltung wiedergegeben ist: „Aus all diesen Gründen empfehlen Bundesrat und Parlament, der Vorlage zuzustimmen“, heisst es im neuesten Abstimmungsbüchlein mit dem Umschlag in den Nationalfarben.
Korrekt wäre es, auch von amtlicher Seite die Gründe, die dafür und genau so auch jene, die dagegen sprechen, klar aufzulisten, dann eine Gewichtung vorzunehmen und den erwähnten Satz so zu formulieren: „Je eine Mehrheit aus Parlament und Bundesrat empfehlen nach Abwägung der Gründe, die dafür und dagegen sprechen, der Vorlage zuzustimmen.“ Man darf doch nicht den Eindruck erwecken, es gebe eine Vorlage, die ausschliesslich Vorteile für alle bringt. Das ist Werbung von der plumperen Sorte.
Das letzte Wort spricht dann zum guten Glück das Stimmvolk, das oft genug vom behördlichen Vernebelungsstil hat und oft Nein stimmt, nur um seine Unzufriedenheit auszudrücken und „denen da oben“ einen Denkzettel zu verpassen. Um solches zu verhindern, sollten ihm auch von Bundesseite alle Argumente als Entscheidungsgrundlage geliefert werden. Ein politischer Stil, der einfach darauf ausgerichtet ist, das Volk gefügig zu machen und ans Gängelband der politischen Führung zu nehmen, ist ein schlechter. Und er hat seine Auswirkungen.
Man darf Bundesrat Blocher dafür dankbar sein, dass er sich wieder einmal unangepasst gab, sich über den liquidationsreifen Kotzbrocken Kollegialprinzip hinwegsetzte und diesem Relikt aus einer Zeit der politischen Unehrlichkeit hoffentlich den endgültigen Gnadenstoss versetzte. Wir brauchen in den Räten keine Leute, die sich im kollegialen Handeln üben und sich als verfilzter Klub von Bern gegenseitig Konzessionen machen und kollegiales Gegenrecht erwarten, sondern solche, die Profil haben, die sich für die Interessen des Landes und dessen Bewohner einsetzen. Eine gewisse Streitkultur bringt meistens mehr als eine erzwungene anpasserische Teamfähigkeit, die in der Einheitswelt zur Schlüsselkompetenz geadelt wurde.
Eine Politik, die Vertrauen schaffen und solches verdienen will, darf keinen Zwang zur Irreführung und Verlogenheit als Verhaltensgrundlage weiterführen. Das wäre dem Volk gegenüber unkollegial.
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