Grosse Aufregung in der Schweiz: Sörgeli mit Mörgeli
Autor: Walter Hess
Er ist ein hervorragender Redner und Schreiber, eigenwillig und stringent im Denken und unangepasst: der Zürcher SVP-Nationalrat, Medizinhistoriker und Titularprofessor der Universität Zürich Christoph Mörgeli (45) aus CH-8713 Ürikon-Stäfa ZH. Er ist einer der wenigen Kolumnisten, den man gern liest, weil er es wagt, unangenehme Erkenntnisse im Klartext oder blumig auszusprechen beziehungsweise niederzuschreiben. Die übrigen sind entweder ausgestorben oder vertrieben worden. Schreiber von Mörgelis Format sind heute selten. Das Kuschen und das Verstecken hinter der offiziellen neoliberalen, globalisierungstauglichen Mitte-Links-Meinung, die oft keineswegs die Volksmeinung repräsentiert, ist Standard geworden.
Wer Unangenehmes aufdeckt und sich unangepasst aufführt, erhält die Quittung. Selbstverständlich gehört dazu die Grösse, diese einzustecken. Mörgeli hat damit offenbar kein Problem. Frohgelaunt geht er mit der Einheits-Medienschelte und der Pro-forma-Fraktionsschelte (Distanzierung der SVP-Fraktion von einem angriffigen Satz mit dem Zufallsmehr von 27:26 Stimmen) um.
Sein jüngstes Verbrechen aus der Sparte „Verbalattacken“: Er schrieb über den SVP-Bundesrat Samuel Schmid sinnbildlich: „Wäre der Charakter ein lebenswichtiges Organ, man müsste Schmid künstlich am Leben erhalten – eingebettet ist er ja schon“ („Weltwoche“ vom 2. Juni 2005). Im Brustton der Empörung wurde dieser Satz in allen Medien genüsslich zitiert, oft in Wiederholung. Da hatte man endlich einmal einen guten Satz im Blatt. Der Satz ist nicht sehr schmeichelhaft, und er wurde dahin gedeutet, Schmid sei ein Charakterlump, was zweifellos nicht zutrifft. Dieses bedächtige Bundesrats-Mitglied vertritt bloss häufig eine andere Meinung als jene der SVP, so dass die SVP vielfach schmerzlich zu spüren bekommt, dass sie nicht mit 2,0 Bundesräten, sondern bestenfalls mit 1,5 in der Landesregierung vertreten ist. Den 1,0-Anteil hält Christoph Blocher tapfer.
Ob es von schlechtem oder fehlendem Charakter zeugt, wenn sich jemand von einer Partei in die oberste Landesbehörde wählen lässt und dann in einer entscheidenden Frage (wie dem EU-Beitritt der Schweiz) eine von der Partei abweichende Meinung vertritt, bleibe dahingestellt. Das ist, wie vieles in der Politik, eine Ermessensfrage. Generell und losgelöst vom aktuellen Fall: Man sollte in der Politik nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen; aber mit Taten sollte man es unbedingt tun. Ja, es wäre sogar generell erwünscht, dass die Fehlleistungen und Lügen als solche entlarvt und Entscheidungsträger, die uns stinkende Suppen eingebrockt haben und die auszulöffeln die gesamte Bevölkerung verdammt ist, eindeutig entlarvt und zur Rechenschaft gezogen werden.
Ausrutscher verbaler Natur sind demgegenüber verhältnismässig belanglos. Wer innerlich gefestigt ist und sich von der Gewissheit getragen fühlt, richtig und (im Falle eines Bundesrats) im Interesse des Landes gehandelt zu haben, braucht sich davon überhaupt nicht beeindrucken zu lassen.
Ich plädiere hier nicht für eine ehrverletzende Ausdrucksweise, allerdings aber betont dafür, die Dinge klar beim Namen zu nennen. Beschöniger, Herunterspieler, Alles-gut-Finder und Volksverdummer vom Dienst und -verführer mit ihren gemässigten Tonlagen wären mindestens so sehr zu apostrophieren wie dieser aufmüpfige Mörgeli. Aber dann hätte man keine Zeit mehr für neue politische Entscheide und Massnahmen. Auch das wäre manchmal gar nicht so schlecht.
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