Champagner Bollinger R. D. 1976 mit Spätzündung
Autor: Walter Hess
Nüchtern betrachtet sind die meisten Champagner keine grossartigen Weine. Sie basieren in der Regel auf mässigem Traubenmaterial (meistens Pinot noir, Pinot Meunier und Pinot Chardonnay), das einer gewissen Veredlung bedarf. Gegen die erwähnten edlen Traubensorten als solche, die ja auch im Burgund gekeltert werden, ist zwar nichts einzuwenden; doch kommt der Champagner aus dem nördlichsten Weinbaugebiet Frankreichs mit Frühjahrsfrösten und einer abenteuerlichen Endreife im Herbst. Dies tut der inhaltlichen Fülle der hier gedeihenden Weine häufig Abbruch. Die Böden bestehen in der Regel aus einer Art Kalk, genannt craie à hélemnites, den es sonst nirgends in dieser Konzentration gibt und der alljährlich mit Stallmist, Kompost, Lehm und Laub abgedeckt wird. Die Kreideböden sind für Reben und im Untergrund auch für die Einkellerung sehr günstig.
Der Kreideboden ist in der Champagne also exzellent, das Klima schwierig. Dennoch und vielleicht gerade wegen teilweise problematischer Voraussetzungen haben es die Winzer dort verstanden, aus der Not eine Tugend zu machen und ihren Wein, der als stiller Wein wohl kaum zu Ruhm gekommen wäre, zum angesehenen, ja dem berühmtesten Getränk überhaupt umzufunktionieren, sieht man von gewissen Industriesüsswassern ab, die selbstverständlich eine noch höhere Bekanntheit haben, weil mehr Aufwand in die Werbung als ins Produkt gesteckt wird.
Die Winzer in der Champagne keltern ihren „weissen“ Wein in einem komplizierten Verfahren aus roten Trauben, indem der Traubensaft schnell von den Schalen befreit wird, so dass eine Durchfärbung nicht möglich ist. Die erste Gärung findet vorerst in Edelstahltanks (ausnahmsweise in Holzfässern: Krug, Bollinger, de Castellane und Gosset) statt. Dann erfolgt der geheimnisumrankte Verschnitt (cuvée), der kunstvoll konstruiert wird. Die 2. Gärung findet anschliessend in der Flasche statt. Und wo immer eine ganz grosse Feier ansteht, muss Champagner her. Es gibt keinen anderen Wein, der einen solchen Weltruf hat; seit Louis XIV. begleitet er die feierlichsten Ereignisse in aller Welt.
Ich habe im Rahmen meiner önologischen Weiterbildung mehrere der weit verzweigten Kreidekeller-Labyrinthe in der Champagne besucht, so zum Beispiel jene von Moët & Chandon, Mumm sowie Pommery & Greno (im Herbst 1982), riesige, verwinkelte höhlenartige Anlagen mit Flaschen am Laufmeter, einsamen Rüttelpulten (schräge Gestelle, pupitres), eine Atmosphäre wie in einer flach gedrückten Kathedrale, deren Dekoration aus dem Rund unzähliger nach innen gewölbter Flaschenböden besteht, eine Erinnerung an die Butzenscheiben von damals. Die Flaschen kommen zuerst mit dem Hals nach unten in die schrägen Gestelle und werden von Zeit zu Zeit in einer Achteldrehung gedreht und nachher sogar gerüttelt, bis das Depot auf der Unterseite des Korkens liegt und dann während eines Abkühlprozesses auf - 20° C entfernt werden kann (degorgieren). Meist wird der kleine Weinverlust durch einen Liqueur d’expédition (Champagner, Rohrzucker, Cognac) ersetzt, und anschliessend wird die Flasche endgültig verkorkt und in den Kellern einige Monate oder wenige Jahre ruhen gelassen. Die Keller sind in der Champagne oft ehemalige römische Kreidegruben (crayères). Nördlich von Reims gibt es besonders viele davon.
Zu den berühmtesten Champagnerhäusern im Bergland von Reims, den Côtes de Blancs und im Marnetal gehören wegen ihrer „traditionellen Vortrefflichkeit“ (so Alexis Lichine im Buch „Die Weine und Weingärten Frankreichs“, Verlag Seewald, Stuttgart 1980) Krug & Cie., Bollinger, Louis Roederer, Ruinart Père et Fils, Jacquesson und Heidsieck Monopole.
Von einer Reise in die Champagne habe ich mir in den späten 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts eine Flasche Bollinger-Jahrgangs-Champagner 1976 aus Ay mitgebracht: Den Jahrhundertjahrgang ziert eine Etikette mit Goldprägung auf dunkelgrünem Grund. In der noblen Flasche ist ein Wein von aristokratischem Stil, der von vielen Kennern als „bestes Brut“ (sehr trockener Champagner) bezeichnet wird. Er wird zum Teil in Eichenfässern vergoren.
Die Bezeichnung „R. D.“ auf der Etikette heisst „Récemment dégorgement“ (der Hefeansatz wurde erst kürzlich entfernt). Tatsächlich bleibt dieser Champagner 7 bis 10 Jahre lang auf dem Depot (lie), das sich bei der Flaschengärung bildet, und erst dann findet das Dégorgement (sozusagen ein Dekantieren) statt. Auf einer kleinen, schön gerundeten Etikette, wo der Flaschenhals in den Bauch übergeht, steht in englischer Sprache, der Wein werde auch an Ihre Majestät Königin Elizabeth II. geliefert. Die Dame hat Geschmack. Die Engländer sind ja als besondere Feinschmecker bekannt . . .
Wenn dieser Wein auf den Markt kommt, sollte man ihn eigentlich möglichst bald trinken; denn dann hat er den perfekten Reifezustand erreicht sowie das höchste Niveau an Duft und Geschmack. Doch bei mir blieb er im Keller liegen; immer wartete ich auf einen ganz besonders festlichen Anlass und die richtige Gesellschaft von Geniessern, um diesen majestätischen Wein zu kredenzen. Und das dauerte nun bis vor wenigen Tagen, als im Rahmen des Apéritifs vor einer Hochzeitsfeier mit familiärem Charakter die richtige Stunde endlich geschlagen hatte – reichlich spät.
Ich öffnete den immerhin 29 Jahre alt gewordenen Wein nach allen Regeln der Kunst, hielt den Zapfen, der noch tadellos erhalten war, mit der rechten Hand fest umklammert, drehte und zog vorsichtig, nicht ohne diesen Vorgang fotografieren zu lassen. Ich erschrak: In der Flasche war kaum noch ein Überdruck festzustellen. Wahrscheinlich hatte sich in dieser langen Zeit der grösste Teil der in der Flasche natürlich entstandenen Kohlensäure verflüchtigt. Beim Einschenken in die sich nach oben öffnenden Champagner-Gläser von Riedel fand ich Trost. Aus dem sattgelben Wein mit einer Spur Kupferfarbe stiegen feine, langlebige Bläschen auf, als ob nichts geschehen wäre.
Mein Pulsschlag erhöhte sich in gespannter Erwartung – auf die Vordegustation verzichtete ich. Wir wünschten dem Brautpaar gutes Gelingen, Glück, Gesundheit, ein langes Leben in Zweisamkeit. Und nun fand ich in die Gegenwart zurück, schnupperte am Glas: kein Misston, zurückhaltend im Bouquet, was auch an der nach oben ausladenden Glasform gelegen haben mag. Doch diese Form hat den Vorteil, dass man den Wein in den Mund giessen kann, das heisst man muss nicht ziehen, wodurch ein Vakuum entstünde und die Kohlensäure sozusagen im Status Nascendi (im Geburtszustand) freigesetzt und ätzend wirken würde.
Der erste Eindruck war nicht überwältigend. Denn die ausgeprägte Säure empfand ich als etwas unangenehm. Das mag allerdings damit zusammenhängen, dass ich mir vorher noch die Zähne mit Kochsalz (Beitrag zur Zahnsteinentfernung) geputzt hatte. Die übrige Gesellschaft vermeldete positivere Eindrücke, insbesondere meine weinkundige Frau Eva, welche die Qualitäten dieses Tropfens sofort erkannte und gleich ins Schwärmen kam.
Entweder passte ich mich an den Wein an oder der Wein entwickelte sich von Minute zu Minute. Er wurde weicher, runder, eine gewisse Herbheit trat zutage und die Säure trat etwas in den Hintergrund. Am Ende war die Begeisterung allgemein. Wahrscheinlich wissen wir jetzt, wie ein extrem trockener (zuckerfreier) Champagner zu schmecken hat. Und ich zweifle nicht daran, dass seine Qualitäten noch höher gewesen wären, hätten wir ihn ein paar Jahre früher getrunken.
Heute, am Tage danach, riecht der Zapfen immer noch intensiv fruchtig, und die Flasche, die ich ebenfalls aufbewahren werde, spülte ich nicht aus, um die Atmosphäre darin nicht zu entweihen. Auf diese Weise kann noch ein wenig mehr an Erinnerung konserviert werden.
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