Der stille Pianomann, der sich abhanden kam
Autor: Emil Baschnonga
Der „Evening Standard” vom 16. Mai 2005 berichtete von einem jungen Mann, der vor 5 Wochen im verwirrten Zustand am Strand in Sheerness umherwanderte. Sein teurer Anzug war durchnässt. Der Mann wurde aufgelesen und ins Spital gebracht. Seit 5 Wochen hat er kein Wort gesprochen. Der mit 3 Fotos und wenig Text ausgestattete Zeitungsbericht nennt ihn „den stillen Pianomann“. Während 2 Stunden habe er ununterbrochen klassische Musik auf dem Piano im Spital gespielt. Kaum eingeliefert, skizzierte er recht talentiert einen Konzertflügel. Aber jetzt spielt und zeichnet er nicht mehr und bleibt weiterhin stumm.
Eine Zeitungsente? Das Foto zeigt einen jungen Mann von rund 25 Jahren mit blondem, hoch gebürstetem Haar, der gar verloren und traurig in die Welt blickt. Der Hinweis auf den Film „Shine“ (worin der Pianist David Helfgott, dank dem Piano seine Geistesgestörtheit überkam) war beiläufig im Artikel eingestreut.
Aber die Geschichte muss doch stimmen, dachte ich, denn sonst hätte die Zeitung nicht an die Hilfenummer des „National Missing Persons Index“ verwiesen.
Meine Fabulierlust ist angekurbelt: Wie wäre es, wenn ich mir abhanden käme – ganz absichtlich und zum Plausch? Nur muss so etwas gut vorbereitet werden. Angenommen, ich sei ein Computer-Spezialist, der den ganzen Tag programmiert und nach und nach darüber die Alltagssprache verliert . . . Eines Abends schere ich aus meinem üblichen Heimweg aus, verliere mich irgendwo in der Landschaft, tieftraurig und bestürzt, dass ich an meinem Leben vorbei gelebt habe. Was dann? Ich bleibe in meiner Vorstellung stecken. Das wäre gewiss kein Plausch mehr, sondern abgrundtiefes Elend. Diesen falschen Start verfolge ich zu meinem Seelenheil lieber nicht weiter.
Dabei kommt mir ein langer hagererer Mann in den Sinn, den ich früher oft im Pendelzug zwischen Wimbledon und Croydon gesehen habe. Er fiel mir auf, weil er seine Brieftasche eng quer haltend an sich presste. Welches schützenswerte Geheimnis trug er darin so besorgt verborgen? Einige Monate später erschien er nicht mehr im Zug; aber ich erblickte ihn regelmässig, wie er im Vorhof der Bahnstation von Wimbledon wie ein verlorenes Schaf hin und her ging, seine Brieftasche an sich gepresst, hilflos gequält lächelnd, als sei alles in bester Ordnung.
Dieser arme Mensch muss seine Stelle verloren haben, spekulierte ich. Tagtäglich ging er zur festgesetzten Zeit zu seiner Arbeit und zurück. Plötzlich, nach Jahren auf die Strasse gesetzt, aus seinem Trott gerissen, mochte er sich selbst und seinen Nachbarn vorgeben, dass er nach wie vor seinem geregelten Erwerb nachging.
Irgendetwas kann am mysteriösen Zeitungsartikel nicht stimmen, komme ich zum Schluss. Man kommt sich selbst nicht so leicht abhanden, wie eine Sache. Vielleicht ging es beim Pianospieler um einen stellenlosen Künstler, der sich diese Geschichte eingefädelt hat, um ans Publikum zu gelangen.
Von der Neugier „gestupft“, habe ich eben den „newsroom“ vom „Evening Standard“ angerufen. Der Bericht, wie geschildert, stimmt, und meine Annahme, es handle sich um ein Musterbeispiel von britischem Humor, war eben falsch. Sehe es mir die werte Leserschaft bitte nach, wenn ich meinem Blog dennoch treu bleibe!
Ein Folgeblog ist in der Warteschlaufe und folgt, sobald ich mehr über den kuriosen Pianomann erfahre.
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