Gedankenblitze auf einer Velofahrt durch Zürich
Autorin: Rita Lorenzetti
Heute Morgen fuhr ich an den Stadtrand am Fuss des Uetlibergs ins Altersheim Laubegg. Es lief vieles wie geschmiert. Es begann mit der Geste eines Automobilisten, der die schleichende Kolonne anhielt und mich die Hardturmstrasse passieren liess. „Kundendienst“ las ich auf seinem Gefährt.
Danke schön!
Halb 9 Uhr, der Morgenverkehr in vollem Gang. Vor mir ein Auto aus dem Fürstentum Liechtenstein mit FL-Kennzeichen.
FL sind die Initialen meiner ältesten Tochter. Ich denke an sie. Wie geht es ihr? Was macht sie gerade jetzt?
Ich fahre auf dem schmalen Velostreifen, der neuerdings auch von Fussgängern reklamiert wird. Wenn jetzt vorwurfsvolle Blicke auf Velofahrende geworfen werden, genügt ein Blick auf die gelben Markierungen im Asphalt. Alles klar. Die Zweiräder dürfen hier durchkommen.
Manchmal möchte ich diesen jungen Leuten erzählen, wie es früher war. Aber mehr noch möchte ich in solchen Momenten unserem ehemaligen Stadtrat Ruedi Aeschbacher für die Velowege danken. Er hat sie realisiert. Immer wieder blitzt sein Name auf, wenn ich den Raum, der uns Velofahrern zugesprochen ist, diskussionslos einfordern darf.
Escher Wyss-Platz. Tramdepot, Bluewin-Tower (nachts wie ein blauer Edelstein leuchtend), KV-Business-Schule, Brücke nach Wipkingen. Auf der Westtangente-Hochstrasse über uns die donnernde Verkehrslawine.
Bevor ich an der Ampel anhalte, spielen meine Augen ein Spiel. Das Logo auf den bluewin-Autos im Fokus. Hinsehen und aus dem Leerraum der Buchstaben u und w und mit dem Zusatz von zwei Querstrichen, die am w angehängt sind, das weisse e hervorzaubern. Macht Spass (Bluewin = Schweizer Internet Provider).
Ampel auf Rot. Warten. Konzentration auf Licht und Strasse. Trommelnde Hände auf dem Steuer eines Autofahrers neben mir.
Los! Autos springen an, rasen davon. Erschreckend rücksichtslos. Auf der Limmatstrasse wird es ruhiger. Die Akazienallee in der Röntgenstrasse erwacht langsam aus dem Winterschlaf.
Wann blüht ihr wieder?
Vom Turm der Kirche St. Josef läutet eine einzige Glocke und begleitet mich bis zur Langstrassenunterführung mit ihrer Kunst am Bau. Aus einer gefürchteten Unterführung ist ein farbenfroher Durchgang geworden. Auf- und absteigende Elemente strecken einem die Regenbogenfarben hin. Über uns die Züge, die in Zürich ankommen, oder den Hauptbahnhof verlassen.
Diesen Farbklang hab ich gern. In der Erinnerung sehe ich die damalige Stadträtin Ursula Koch, wie sie diesen Durchgang nach der Eröffnung abschritt und schmunzelte.
Mein Weg führt weiter über die Lagerstrasse. Mit Blick zur Sternwarte.
Stehen die Sterne gut für den heutigen Tag?
„City-Kirche“ St. Jakob. Tramstation Stauffacher. Wissen alle Schweizer, wer (Werner) Stauffacher war? Mitbegründer der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Teilnehmer am Rütlibund.
Gedankenblitz zu St. Jakob: Brot holen.
In diesem Umfeld befindet sich das Behindertenwerk mit der Bäckerei St. Jakob. Eine Erfolgsgeschichte. Brot und Backwaren sind stadtbekannt. Der Andrang gross. Auch heute. Wir stehen in 3 Reihen vor der Verkaufsvitrine. Langweilig ist es nicht. Die seitliche Glasfront erlaubt einen weiten Blick in den Backstuben-Vorraum, wo gerade Fruchttörtchen glasiert werden. Hier finden Menschen mit einer Behinderung Arbeit und Geborgenheit, Führung und Mitmenschlichkeit und die Kundschaft Qualität.
Brot und Kuchen verschwinden in der Velotasche. Weiter gehts.
Stauffacher-Brücke. Einfallstor aus dem Sihltal. Hier steht das Glashaus der Tamedia (Tages-Anzeiger). Stau. Auch die Velofahrerin muss warten.
Ich nehme ein lauschiges Plätzchen mit modern zugeschnittenen Buchsbäumchen wahr. Eine kleine Insel. Noch nie bemerkt!
Ich überquere die Stauffacher-Brücke und fahre dem Ufer entlang.
Hallo Sihl! Bei Dir kann ich tief einatmen. Du bist noch da. Du hast noch nicht aufgegeben, trotz brutalem Schicksal, das Dir die Last der Sihlhochstrasse aufgebürdet hat. Eine Autobahn, abgestützt in einem Flussbett! Waren die, die das entschieden, noch bei Trost? Und der Spazier- und Veloweg an deinem Ufer heisst immer noch grosssprecherisch Sihlpromenade.
Ja, es gibt auch Bäume hier. Viele Platanen und einen kleinen Wald und Vögel, die unbelastet singen. Das Areal der ehemaligen Bierbrauerei Hürlimann liegt auch an diesem Weg. Auf ihrem frei gewordenen Areal sind neue Wohnhäuser entstanden. Direkt an den Linien Üetliberg- und Sihltalbahn und neben der Autobahn.
Ein Kinderspielplatz, schon etwas grün überwachsen, versprüht Optimismus. Vermutlich ist dieser Ort für Kinder trotz allem lebensfreundlicher als jener meiner Enkelin am Fusse von Montmartre in Paris.
Diese Gedanken werden sofort beschnitten, wenn der Manesseplatz überfahren werden muss. Kein Ort zum Träumen.
Zu Fuss bergan. Dann bin ich am Ziel.
Besuch bei einer Verwandten. Mit der Atmosphäre dieses freundlichen Heims bin ich gut vertraut. Eine Pensionärin will mir etwas aus der Zeitung vorlesen als ich sie im Treppenhaus grüsse. Die Verwandte Celeste begleite ich seit Jahren, bin ihre „Seggredärin“ (Sekretärin), wie sie sagt. Ich besorge ihr die administrativen Arbeiten, kaufe ein für sie, versuche, ihre Wünsche zu erfüllen. Heute schneide ich ihr die Zehennägel und nähe abgefallene Knöpfe am Bettanzug an. Und sie berichtet alles, was sie bewegt. Ich könnte ein Buch darüber schreiben.
Wenn ich jeweils das Heim verlasse, kreisen meine Gedanken um letzte Lebensjahre. Jeder Besuch fügt der Leidensgeschichte ein neues Kapitel hinzu.
Was steht mir noch bevor? Ich möchte eher helfen, als dass mir geholfen werden muss. Ich möchte nicht sehr alt werden, möchte nicht zur Karikatur meiner selbst werden, möchte unabhängig bleiben, möchte niemanden mit meinen Macken belasten.
Abfahrt. Es läuft von selbst. Die Strasse führt abwärts. Eine Weile bin ich leer. Dann blitzt wieder etwas auf, das mich zu fein verästelten Gedanken verleiten will.
Es ist ein Wunder, dass wir gleichzeitig Neues aufnehmen und Altes damit verknüpfen können, ohne vom Weg abzukommen oder verkehrswidrig zu handeln. – Solange wir noch gesund und nicht zu alt sind.
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