Textatelier
BLOG vom: 04.06.2005

Die Piazza del Campo in Biberstein AG ist eingeweiht

Autor: Walter Hess

Kann eine Strassenkreuzung an einem ziemlich steil abfallenden Hang ein richtiger Platz sein? In Biberstein AG (Schweiz), etwa 300 m vom Textatelier.com entfernt, gibt es solch eine Kreuzung, die als „Oberer Dorfplatz“ bezeichnet wird. Es handelt sich um eine abschüssige, von Asphalt dominierte Fläche, welche durch eine Brücke über den „Brusch“ (Dorfbach) von der nahen Unternbergstrasse (Kantonsstrasse Aarau–Rombach–Auenstein–Wildegg) abgetrennt ist.

Seit dem am 2. Mai 1977 erfolgten Abbruch eines zerfallenden Bauernhauses („S’Buure Hermanns“) im Dorfzentrum wirkt die Fläche noch grösser. Die Kreuzung platzt seither gewissermassen aus allen Nähten. Zwischen dem Oberen Dorfplatz und der nach 1979 gebauten Kantonsstrasse wäre sogar Platz für ein Gebäude vorhanden, das dem so genannten Oberen Dorfplatz zur Vervollständigung seines baulichen Rahmens verhelfen könnte. Doch hatte bisher niemand Lust, sich in diesem verstrassten Bereich baulich zu verunköstigen, und mag der Blick aufs nordseitige Schlossdach noch so verlockend sein. Die Ruderalfläche dient – wie könnte es anders sein? – als Autoabstellplatz. Davon kann man ja nie genug bekommen.

Der Obere Dorfplatz ist in den letzten Wochen mit Sinn fürs Detail neu gestaltet und am heutigen Samstag zu Alphornklängen aus einheimischer Produktion offiziell und feierlich eingeweiht worden. Gemeindeammann Peter Frei schilderte den „30-jährigen Leidensweg“ mit Sinn für lokalhistorische Zusammenhänge, ein Leidensweg, welcher ja höchstens ein vorläufiges Ende gefunden hat. Ein einfühlsamer Planer namens Buchmann oder so ähnlich aus dem Entlebuch benannte den Dorfplatz als das, was er war: eine Strassenkreuzung. Und als das Kind beim Namen genannt war, lag die Lösung auf der Hand. Der Planer brachte die kleinen, untergeordneten Strassen, die hauptsächlich dem Anwohnerverkehr dienen, in vernünftige Massstäbe. Die ursprüngliche Idee von einem ovalen Platz in Schräglage wurde aufgegeben.

Ein kleiner, gepflästerter Platz, der den Namen ausnahmsweise verdient, ist neben der Einfahrt zum Wohngebiet Buhalde entstanden: vor dem Gebäude Spittel mit der bemerkenswerten Fensteranordnung am nördlichen Abschnitt des Dorfplatzes. Dort ist der alte Brunnen durch ein neues Modell ersetzt und freigestellt worden, Brunnenmeister Alfred Zobrist drehte den Wasserhahn um Mittag auf. Und daneben war eine Linde aus der Baumschule mit einer tellerförmig erzogenen Krone gepflanzt, so dass der schirmförmige Baum das denkmalgeschützte Bauwerk nicht zu sehr verdeckt.

An der Einweihung der neuen Strassenkreuzung habe ich mich mit verschiedenen ortsansässigen Architekten und einem Philosophen (Urs Eggenschwiler, Peter Frei, Hansjörg Frischknecht, Walter Wehrli usf.) über den Unterschied von Kreuzung und Platz unterhalten, eine Frage, die gar nicht so einfach beantwortet werden kann, zumal der Übergang von einer breiten, ausgeweiteten Strasse zu einem Platz fliessend ist. Im Allgemeinen verstehen wir Menschen unter einem Platz eine ebene Fläche, die sich auch für grössere Veranstaltungen (wie eben Platz-Einweihungen . . .) geeignet ist. Selbstverständlich interpretieren Hunde das Wort „Platz!“ ganz anders.

Bei unseren lebhaften Diskussionen bestanden keinerlei Zweifel daran, dass es nicht nur waagrechte, sondern auch einige wenige bedeutende Plätze in Hanglage gibt, so etwa jenen vor dem Kloster Einsiedeln, den Regina Wirz, Anwohnerin am Bibersteiner Oberen Dorfplatz, erwähnte, und vor allem die Piazza del Campo in Siena (Toscana), wahrscheinlich ein ehemaliger Feld- oder Lagerplatz, worauf jedenfalls „Campo“ schliessen lässt. Das Lagern (diesmal von Autos) trifft wie die Schlagseite auch auf den Oberen Dorfplatz von Biberstein zu, so dass wir also auch unsere Piazza del Campo haben. Allerdings sprechen wir hier das Bibersteiner Deutsch, so dass der Name Obere Dorfkreuzung („Oberi Dorfchrüüzig“) eigentlich zutreffender wäre. Und den Leidensweg mit einer Kreuzung (nicht zu verwechseln mit Kreuzigung) abzuschliessen, würde in unserer Gemeinde wahrscheinlich auf nur bescheidene Sympathie stossen.

So haben wir nun einen Platz mit Laternen (Geschenke von der Stadt Aarau) und Linden, der eine Kreuzung und (wie die Alphornklänge auch) ein Symbol für die einheimische Bedächtigkeit ist.

Auch bei Kreuzungsverschönerungen wird bei uns nichts überstürzt, wie man sieht. Die Langsamkeit triumphiert. Hoffentlich auch bei Autofahrern. Die Dinge müssen reifen, wie wir alle auch. Und dabei findet man hinreichend Zeit zum Entscheiden, ob es abwärts oder aufwärts gehen soll.

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