Was mich auf der Fahrt durch Deutschland beeindruckt hat
Autor: Walter Hess
Wegen privater und geschäftlicher Verpflichtungen war ich soeben 2 Tage in Deutschland unterwegs, von Basel bis Kassel, Göttingen und Bad Gandersheim, auf der Strasse A7 bis in den Raum Schweinfurt/Würzburg, und auf der Rückreise entdeckten wir noch das Bijou Ladenburg. Natürlich haben wir in dieser kurzen Zeit praktisch nichts von Deutschland gesehen – ich kenne zum Glück viele Teile davon von anderen Reisen her – vom Schwarzwald bis an die Nordsee.
Von unserer neuesten Reise habe ich wiederum ausschliesslich positive Eindrücke mit nach Hause in die Schweiz genommen: Deutschland ist, auf einen knappen Nenner gebracht, ein grosses, schönes, gepflegtes Land mit liebenswürdigen, rücksichtsvollen und hilfreichen Menschen. Was als Verallgemeinerung daherkommt, bedarf der Erläuterung: Die Mentalität der Deutschen offenbart sich bereits im Strassenverkehr, der uns manchmal fast an ein Formel-1-Rennen erinnert, der aber wirklich fliesst und mir trotz der hohen Geschwindigkeiten als nicht gefährlicher als unser zähflüssiger Schweizer Verkehrsstrom erscheint. Wir fuhren in der Nähe von Frankfurt am Main einmal auf der 4. Spur der A5, die wegen einer Baustelle in die 3. hinübergeleitet wurde; die Strasse verengte sich also um eine Spurbreite. Die Benützer der 4. Spur konnten so problemlos einfädeln, dass sie schneller vorankamen als die Fahrzeuge auf den übrigen Spuren. Das war für mich bezeichnend für die tolerante Fahrweise der Deutschen, Angehörige einer Autonation, die wirklich exzellente Autofahrer sind und für die Rücksichtsnahme kein Fremdwort ist. Ich fahre tatsächlich gern auf deutschen Autobahnen und fühle mich dort trotz der „Raserei“, als die wir Schweizer mit unseren auf 120 km/h limitierten Autobahnen den deutschen Fahrstil zu bezeichnen pflegen, sicher und gut aufgehoben. Vielleicht wird angesichts unseres CH-Schilds manchmal auch ein Fahrerauge zugedrückt. . . Es gibt an den Schnellverkehrsstrassen viele Parkplätze und Raststätten, ein willkommener Komfort auf weiten Reisen. Die gegenüber der Schweiz höheren Benzinkosten werden dadurch etwas kompensiert (CHF 1.45 gegenüber umgerechnet zirka CHF 1.90 pro Liter bleifreies Superbenzin in Deutschland).
Abgesehen vom Benzin, sind die Preise in Deutschland im Vergleich zu unseren eigenen immer anständig. Die Hotels sind preiswert und sauber, die Relation Preis/Leistung stimmt. Das Essen ist deftig und gut, nicht immer von bester innerer Qualität; aber das ist heute überall der Fall. Der Vormarsch der rationalisierten Nahrungsproduktion hinterlässt seine Spuren. In Bad Gandersheim (Niedersachsen, Regierungsbezirk Braunschweig) empfing uns eine nette ältere Dame mit einer hausgemachten Sauerrahm-Mandarinen-Torte, die so schmackhaft und saftig war, dass wir sie nicht so schnell vergessen werden. Sie diktierte uns sogar das Rezept. Der Tisch war mit einer wunderschönen Tischtuch-Stickerei gedeckt, das Porzellan von erlesener Qualität. Die Deutschen haben ein enormes Talent zum Backen – auch köstliche, handwerklich hergestellte Brote nehmen wir von jeder Deutschland-Reise in die Schweiz mit und erlaben uns jeweils noch tagelang daran.
Nördlich von Frankfurt am Main, wo die Landschaft hügeliger wird und Windräder geduldig ihre Runden drehen, beeindruckten mich die schönen Landschafts- und Ortsbilder. Die Wohnsiedlungen in Hessen bestehen meist ausschliesslich aus Satteldächern, die mit Ziegeln in unterschiedlichen Rottönen gedeckt sind und die als kompakte Siedlungen zu einem geschlossenen, harmonischen Landschaftsbild beitragen. Da gibt es kaum Bauklötze mit Flachdach, die wie eine Faust aufs Auge wirken. Die handwerkliche Kultur scheint noch intakt zu sein. Müssen wir Schweizer bald nach Deutschland fahren, um uns zu einer einfühlsameren, in die Landschaft integrierbaren Architektur inspirieren zu lassen?
Letzthin hat sich mir gegenüber eine Österreicherin zu Recht enttäuscht darüber gezeigt, dass selbst in ausgesprochenen, berühmten Touristenorten wie dem Nationalheiligtum Zermatt am Fusse des Matterhorns im Wallis das Dorfbild durch überhitzte und rücksichtslos-klotzige Bauweise verschandelt wurde. Es gibt viele solcher Beispiele, die mir Leid tun, weil das Ansehen der Schweiz darunter leidet. Wir müssen dem Landschaftsschutz wieder mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen.
Sieht man sich die deutschen Dörfer von innen an, erkennt man auf den ersten Blick, mit wie viel Liebe zum Detail die Fassaden, Strassen- und Gassenbilder sowie die Plätze hergerichtet sind. Mit historisierenden Anstrengungen wird offensichtlich versucht, Traditionen und damit die „gute alte Zeit“ wieder aufleben zu lassen, womit eine Zeit der Zerstörungen ausgelöscht werden soll. Vielerorts ist das recht gut gelungen, auch dann, wenn neue Bausubstanz auf alte Grundmauern gepflanzt wurde. Das neue Leben, das aus den Ruinen blüht, verbreitet Zuversicht.
Auf der Heimfahrt verliessen wir die Hafraba (HaFraBa, A5), wie man die Autobahn zwischen Hamburg, Frankfurt und Basel früher nannte, zwischen Mannheim und Heidelberg, weil es Zeit zum Mittagessen war. Irgendwie sprach mich das Wort „Grünprojekt“ im Zusammenhang mit Ladenburg an. Hier, im Nordwesten Baden-Württembergs, entdeckten wir ein filigranes Städtchen, das uns sofort bezauberte. Da wurde alte Bausubstanz zur schönsten Blüte gebracht, und es gibt üppig begrünte Innenhöfe mit Natursteinmauern, die einen kaum noch loslassen. An der Peripherie, zwischen Stadt und rechtem Neckarufer, wird ein naturnaher Lebensraum gestaltet, wodurch der Ort seine Anziehungskraft zweifellos noch erhöhen wird.
Wir schätzen unsere schöne Schweiz, deren Vorzüge ich keineswegs heruntermachen möchte. Doch es ist gut zu wissen, dass es im Norden ein Nachbarland gibt, das sich aufrafft, seine Schönheiten zu erhalten, herauszuputzen, um sich wohnlich einzurichten.
Die deutschen Dimensionen sind ganz anders als die unseren, und sie färben auf den Lebensstil ab, vor allem bei der Befriedigung des Zirkulationsbedürfnisses. Dennoch lebt jeder Mensch vor allem innerhalb eines kleinen, überschaubaren Umfelds, das nichts mit der Grösse eines Landes zu tun hat. Und das Bestreben ist diesseits und jenseits der Grenze offensichtlich, diesen Wohnbereich wohnlich zu gestalten; dafür wird kein Aufwand gescheut. Dann fühlen sich auch die Gäste wohl, daheim. Und Nachbarn können sich diesbezüglich gegenseitig Impulse vermitteln.
Es ist immer angenehm, gute Nachbarn zu haben.
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