Textatelier
BLOG vom: 14.06.2005

Randnotizen aus Münster D – bis zum Ewigen Kalender

Autor: Emil Baschnonga

Genau vor einer Woche erreichte ich, dank eines Billigflugs, den Kölner Flughafen schon kurz nach 6 Uhr morgens. Es regnete Pfützen, als ich im Mietwagen Richtung Münster fuhr. Ich war geschäftlich unterwegs; zuvor hatte ich Münster schon mehrmals bloss „gestreift“. Diesmal hatte ich bis zum vereinbarten Treffen viel Zeit und beschloss, das Städtchen zu besichtigen.

In Basel gibt es ein Münster. Wie sieht es in einem Ort aus, der obendrein Münster heisst?

Zeitverluste machen mich immer zappelig. Zuerst musste ich wegen der vermaledeiten Tafel „Alle Richtungen“ den Flughafen umrunden, um die Ausfahrt zu erwischen . . . Nachher, auf der A1, steckte ich wegen der vielen Strassenarbeiten da und dort im Stau fest.

Geschafft, kurz vor 12 Uhr! Beim Bahnhof fuhr ich auf der dem Stadtbus vorbehaltenen Fahrspur bis zur Ecke. Netterweise hupte der Buschauffeur hinter mir nicht, als ich ihn beim Abbiegen aufhielt. Endlich wurde ich den „Karren“ (das Mietauto) und mein Gepäck im „Ibis“-Hotel los.

Jetzt konnte ich meine stillvergnügte Entdeckungsrunde in der Altstadt von Münster beginnen, vom Gespür geführt. Der kalte Wind riss Breschen ins Wolkenmeer: Blau blinzelte durch, und einige Sonnenstrahlen verscheuchten das Trübe. Ich ging unter den Lauben wie in Bern. Die arg vom Krieg zertrümmerte Stadt war sorgfältig restauriert worden, und die Altstadthäuser beginnen Patina anzusetzen. Meine Ohrmuscheln fingen einen Orgelschwall auf. Ich gab dem Bettler vor dem Haupteingang der Lambert-Kirche meinen Obolus und betrat das Münster.

Was spielte der Organist? Bach und andere Meister seiner Zeit hätte ich erkannt. Entweder übte er oder spielte etwas Modernes. Einige Touristen und ich auch liessen uns im Mittelschiff nieder, als der Organist eben innehielt. Plötzlich brauste die Orgel, aus allen Registern gezogen, auf. Der Organist griff mächtig mit Händen und Beinen in die Tasten und Pedale, produzierte spektakulär laute und abgehackte Akkorde, die im Gemäuer nachbebten. Ich glaubte mich in einem Himmelsschiff mitten im Orkan. Paulus wollte mich wohl loswerden . . . Ich hatte nichts dagegen, da ich nach diesem Ohrenschmaus meinen Magenschmaus haben wollte, in der „König Pilsener Stube“, gleich nebenan.

Viele Leute sassen dort schon beim Mittagstisch. Es ging um währschafte Gerichte, nicht um Snacks oder schlappe Sandwichs. Ich bestellte das Tagesangebot: ein grosses Schnitzel nach österreichischer Art, dazu Salat, Bratkartoffeln und ein Glas Weisswein. Nicht nur die französische Sprache, auch die deutsche kann sich im Menü wortgewaltig äussern. Ich kraxelte einige Notizen: „Junge dicke Bohnen mit Speck und ‚Mettendchen?’ (ich kann es nicht mehr entziffern), dazu Bratkartoffeln, Knochenschinken mit Rührei auf Bratkartoffeln, Taubenbrüstchen.“ Fürs Abendessen merkte ich mir jetzt schon „frische Leber auf Püree mit Röstzwiebeln und Apfelmus“ vor.

Nachher liess ich mich nach Lust und Laune weiter durch die Altstadt treiben. Das kann doch nicht wahr sein: So viele Apotheken und Brillenläden an jeder Ecke! Vielleicht brauchen die hiesigen Schlemmer viele Mittel gegen Magenbrennen und bessere Brillen, um die Menüs genauer zu studieren? Alt und jung radelt, die ganze Stadt radelt. Ich sah, dass es Radfahrerstreifen gab, auf denen ich nichts zu suchen hatte.

Auf dem Domplatz umringte eine Gruppe Priester in schwarzen Roben ihren „Ober“ mit Schubertbrille, der einen geschichtlichen Exkurs vom Stapel liess. Einer der Zuhörer gähnte herzhaft ansteckend. Also noch eine Kirche, meine 3. innerhalb von 3 Stunden, einfach, weil es der Dom war. Beim Eingang hing eine Tafel, ein Bruchstück aus der Kathedrale von Coventry (in England), die ebenfalls vom Krieg zerstört worden ist, mit einem auf den Frieden weisenden Sinnspruch beschriftet, nach der gemeinsam erlittenen Heimsuchung des 2. Weltkriegs.

Drinnen fuchtelte ein älterer Reiseführer mit einem roten Regenschirm vor der gewaltigen Uhr mit Glockenspiel, und war von betagten Ausflüglern förmlich belagert, wie er das komplizierte, geheimnisvoll hinter der Mauer versteckte Uhrwerk beschrieb. Ich lauschte mit und erfuhr, dass der ewige Kalender, mit Tag, Monat und Jahr, bis zum Jahr 2071 weiter läuft. Also eine begrenzte Ewigkeit. Was dann? Immerhin löste er auf Knopfdruck das Glockenspiel aus. Vielleicht spielt dieses ewig weiter.

Der freie Nachmittag verflog im Nu, mit eingeschobenen Kaffeepausen. Abends ging ich wie vorgenommen ins gleiche Lokal zurück − „zur frischen Leber“. Die Gaststätte war schon voll. Ich durfte mich zu einem Einheimischen setzen. Eine Viertelstunde später kamen wir ins Gespräch. Er wollte so viel von England wissen wie ich vom Münsterland, eine ausgeprägt landwirtschaftliche Region.

Mein geschäftlicher Auftrag hatte mit Puten, Hähnchen, Enten und Gänsen in verschiedenen Schlächtereien in der Umgebung zu tun . . . Sie werden verstehen, lieber Leser, liebe Leserin, warum ich die Leber vorzog und eine Betriebsbesichtigung rundweg ausschlug, denn es ging um die wirtschaftliche Seite der Unternehmungen, nicht um Anschauungsunterricht.

Ich bin froh um diesen Abstecher in Münster, abseits des Gefieders.

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