Textatelier
BLOG vom: 02.07.2005

Bitte wieder ein bisschen mehr Charles Dickens!

Autor: Emil Baschnonga

Hier unternehme ich den Versuch, einen Jahrzehnte alten, längeren Essay in ein Blog umzuwandeln. Denn ich glaube, dass England seinen Charles Dickens heutzutage mehr denn je braucht, damit sich die liebenswerten Züge des Engländers wieder deutlicher von der Einmachglas-Kultur seiner amerikanischen Vettern abheben. Der Sommer ist wie geschaffen dazu, eines der Dickens-Bücher zur Hand zu nehmen, ob in der Originalsprache oder in deutscher Übersetzung. Vielleicht verhilft dieser Beitrag dazu, diesen Erzähler besser zu verstehen. Dies steigert den Lesegenuss – auch ausserhalb von England.

Dickens las ich als Knabe, nein, ich verschlang ihn. Jahrzehnte später lese ich ihn wieder, gleich schmunzelnd, gerührt und mitgerissen. Seit seinem Tod sind inzwischen bald 200 Jahre verstrichen.

Der äusseren Armut, in die Dickens hineingeboren wurde, entwand er sich schon als 20-Jähriger. Unter dem Decknamen ‚Boz’ erschienen seine ersten, dem Alltag abgeguckten Skizzen in der „Literary Gazette, und sie begründeten seinen Ruhm als Schriftsteller.

Vom Schicksal des Etikettenklebers in einer Londoner Schuhwichsefabrik, in die er als 12-Jähriger verdingt worden war, befreite er sich aus eigener Kraft und Geschicklichkeit und wurde zum Berichterstatter in Gericht und Parlament. Als flinker Stenograph berichtete er für den „Chronicle“ über Debatten zum Armenrecht und juristische Winkelzüge in Prozessen.

Seine Erfahrung aus jener Zeit finden sich in seinen Werken: Sie sind nicht polemisch-angriffig, sondern mitfühlend romantisierend festgehalten. Er war dem aufkeimenden Sozialismus ein gemütsvoller Wegbegleiter – kein militanter Vorkämpfer wie etwa Emile Zola. Der Mensch und sein Einzelschicksal lagen ihm am Herzen. Er stand abseits der Politik. Deswegen fand er Zugang zu den allerfeinsten Salons. Seine braunen Locken, zusammen mit seinem Witz und Sinn für Possen, nahmen alle für ihn ein.

An seinem 24. Geburtstag erschienen seine Skizzen in einem Sammelband – seiner 1. Buchpublikation. Dem folgte als Fortsetzungsroman „Die Pickwicker”. Als er den Diener Sam Weller – eine der ergötzlichsten Romangestalten seit „Sancho Pancho“ − in den Handlungsverlauf einflocht und dem Mr. Pickwick als Leibdiener und Reisebegleiter beigab, schnellte die Auflage des Blattes in die Höhe. Dickens konnte fortan von der Arbeit seiner Feder leben. Stracks ehelichte er Catharine Hogarth und gründete das traute Heim, das er als Kind vermisst hatte.

Wichtiger als die äusseren Begleitumstände seines Lebens sei hier vielmehr sein Wesen gewürdigt. 25 Jahre lang trug Dickens seine Kindheit tief in sich verschlossen, ehe er sich im „David Copperfield“ von ihr frei schrieb. In Mr. Micawber, der heiter und unbeschwert vom Borg lebte, porträtierte er seinen Vater, der stets bei guter Laune blieb, selbst im Schuld-Gefängnis. Dickens hat ihn weitaus liebevoller gezeichnet als die stets besorgte Mrs. Micawber, das Vexierbild seiner Mutter. Er hat es ihr schlecht verziehen, dass sie ihn seinerzeit für einen Schundlohn an den Schuhwichse-Fabrikanten verschachert hatte.

Das Erzählgeschick war ihm angeboren, und seine Fabulierlust wurde vom Lesestoff entzündet, den er – wie er selbst zugab – dem Spiel und der Sonne vorzog. Hinzu kommt, dass er aus eigenem Antrieb leicht lernte (etwa die Stenographie).

Angesichts der Werkfülle, die er uns hinterlassen hat, sucht die Neugier nach seinen Schöpferimpulsen. Dickens Epik überrascht in Bezug auf Umfang, Dichte und Fülle. Da wurde ein enormer Einfallsreichtum in die Seiten geschüttet, vortrefflich Lichtenbergs Aussage bezeugend: „Der Schriftsteller, der nicht zuweilen einen Gedanken, worüber andere Dissertationen geschrieben hätten, hinwerfen kann, unbekümmert, ob ihn der Leser findet oder nicht, wird nie ein grosser Schriftsteller werden.“

Wie vereinbarte dieser Erzählgigant seine Arbeit mit allen zeitaufwändigen Banketten und dem gesellschaftlichen Reigen, den er anführte? Laut verlässlichen Quellen stand Dickens mit dem Tag auf und werkte bis zur Nachmittagshälfte. Wer ihn dabei störte, dem zeigte er ein barsches Gesicht, dem war er nicht mehr der lustige Kumpan vom Vorabend!

Unter Zeitdruck schrieb Dickens oft an 2 Romanen zugleich, pendelte von einem zum andern. Dies erquickte ihn und verhinderte, dass er seine Einfälle auslaugte. So blieb des Verfassers Lust und Frische durch die 350 000 Wörter eines Bandes erhalten, die in den meisten Fällen eingehaltene Romanlänge. (Er schlug Vorschüsse von Verlegern nicht aus, und überverpflichtete sich dabei immer wieder.)

Gesichter, Physiognomien, getragen von Gebärden, waren die Blüten, aus denen Dickens seine Schaffensimpulse sammelte. Dem Widerspiel der Mienen galt sein Scharfblick. Weit über 600 Personen hat er zum Beispiel in die Pickwicks Papers eingeschleust. Sein Hang für Komik überbordete gern ins Burleske. Was das Leben ihm als Parade vorführte, dem baute er seine Kulisse. Am Skurrilen bleibt stets ein liebenswerter Zug haften wie auch dem Schelm und Spitzbuben. Es scheint, als nickte Dickens verständnisvoll zwinkernd über ihre Köpfe hinweg in den Zuschauerraum, zum Leser.

Entzündete sich Dickens an einem Stoff, scheute er keine Mühe, ihn sich selbst zu erschliessen, und er wappnete sich mit Einzelheiten, von einer Wahrheitsliebe getrieben, die nichts unbesehen übernahm. Ehe er „Nickolas Nickleby“ in Angriff nahm, suchte er die „Bowes Academy“ auf, eine Schule für Halbwaisen. Die Akademie wurde von einem Mr. Shaw geführt, dessen Profitgier nichts anderes für die Zöglinge übrig liess als ein kümmerliches Anstaltsleben bei spartanischer Kost. Eigens reiste Dickens in den industrialisierten Norden, zu den Hochöfen und Dampfmaschinen. Zutiefst aufgewühlt vom Anblick erbarmenswerter Kinder, die dort in Fabriken eingelocht bar jeder Kinderfreude schmachteten, vielfach krank und ausgemergelt, wurde er zu ihrem beredten Anwalt, der ihre Not an die Herzen seiner Leser bettet. „Harte Zeiten” heisst ein Roman aus jener Zeit.

Zuletzt aber bekannte er sich in seinem Alterswerk „Great Expectations“ wieder ganz zu seinem Naturell, liess alle Stimmungen nochmals aufleuchten, die uns sein erzählerisches Werk so nahe bringen: seine Liebe zum Menschen, die wunderlich verklärt und besänftigt, selbst dort, wo ein weniger begabtes Auge nur tristes Elend gesehen hätte.

1. 7. 1970, zum Blog umgegossen: 30. 6. 2005

Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Ruhebänke sind ein unverzichtbarer Erholungsort
Im Nebel auf dem Spürnasenpfad in Todtmoos
Schloss Beuggen und seine Baumveteranen
Blutreizker, Steinpilz und ein Riesenpilz
Foto-Blog: Pilze, Tollkirsche und ein Mäuschen
Blütenpracht: Inkalilie, Sonnenbraut, Akanthus
Weidbuchen sind bizarre Schönheiten
Kurioses und Witziges von der Fussball-EM
Faszination von Fotos bei Regen
Maiglöckchen: Wunderschön, aber giftig für Mensch und Tier
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein