Textatelier
BLOG vom: 17.11.2005

Das sog. „Völkerverbindende“ am Sport: Türkei–Schweiz

Autor: Walter Hess
 
Sport wirke völkerverbindend, überwinde politische Grenzen und helfe, Vorurteile abzubauen, sagt man. Ich habe diesen abgedroschenen Spruch rund ums Barrage-Rückspiel Türkei–Schweiz um die WM-Qualifikation (2006 in Deutschland) vom Mittwochabend, 16. November 2005, überprüft. Kommentatoren bezeichneten es als „Höllenspiel“. Für Adolf Ogi, Sonderberater der Uno und immer auf positiv gestimmt, ging damit gar das Tor zum Paradies auf.
 
Eine Barrage ist im Französischen was zur Abdämmung, Sperrung, ein Staudamm. Oft wird im Sport auch der Begriff Relegation gebraucht, wenn es um Abstiegsrunden geht, was auch Verweisung von der Hochschule bedeuten kann. Die Schweizer Barrage hat in Istanbul trotz der 2:4-Niederlage gehalten – der Zugang zur WM ist offen. Und die Türken sind von der WM-Meisterschaft ausgeschlossen. Das brachte sie in Rage. Allerdings war der Zorn auf die Schweizer schon vorher zu spüren gewesen.
 
Am Montag war die Schweizer Nationalmannschaft auf dem Flughafen Istanbul nach dem Überwinden der CH-Grenzen eingetroffen, wo die Mannschaft ausserordentlich unfreundlich empfangen wurde. Sie wurde über 2 Stunden beim Gepäckempfang festgehalten; Flughafen- und Zollbehörden schikanierten sie. Völkerverbindend ... Und in der Stadt wurde der Teambus mit allerlei Gegenständen beworfen. Das stärkt die Freundschaft, fördert Sympathien.
 
Auf dem Fussballplatz ging es am Mittwochabend dann wie auf einem Schlachtfeld zu; nicht nur der Ball wurde getreten. Verletzte. Das türkische Publikum schien mir auch nicht sehr gastfreundlich zu sein. Die Völker stehen ja immer hinter ihren eigenen Mannschaften; das hat mehr mit Nationalismus (übersteigertem Nationalbewusstsein) als mit einem Näherkommen von Volk zu Volk zu tun. Da wird gefightet, wie die Reporter sagen. Die 42 000 fanatisierten türkischen Zuschauer verlegten sich zeitweise auf Beschimpfungen ausländischer Spieler; das Fernsehen zeigte kaum etwas davon. Und nach dem Spielende mit dem 4:2, das der Schweiz den Zugang zur WM ermöglichte, mussten die Schweizer fluchtartig aus dem Stadion davonrennen, um Wurfgeschossen und Schlägereien zu entgehen.
 
Schweizer Spieler und Trainer (wie der Torwart-Trainer Erwin Burgener) wurden in den Katakomben attackiert und geschlagen, offenbar auch von türkischen Spielern, wie Medienchef Pierre Benoit sagte. Auch dabei sollen 2 Spieler verletzt worden sein. Sportlichkeit. Die Schweizer bangten, ob sie heil aus dem Stadion herauskommen würden. Es kam zu einer befristeten Ausgangssperre; die Schweizer, die sich nicht ungebührlich verhalten hatten, durften das Stadion nicht verlassen – aus Sicherheitsgründen. SF 2 zeigte nichts von den Stunden nach dem Spiel, diesem merkwürdigen „Happy End“. Das Fernsehen war hier nicht mehr dabei. Die TV-Macher vertrödelten die Zeit mit Rückblenden, und die Reporter lenkten ab, sobald die Rede auf die Ausschreitungen kam.
 
Die offiziellen Kommentatoren spielen solche Begebenheiten herunter, was nicht ihre Aufgabe wäre. Emotionen und Aggressionen müssten von ihnen ebenso wie die Tore wahrheitsgetreu geschildert werden, wenn man im Übrigen schon grosse Sprüche über die Bedeutung des Sports zu reissen pflegt. Der bescheidene, sympathische CH-Trainer und Volksheld Köbi Kuhn erwähnte immerhin noch das Einfangen von Schlägen am Spielereingang. Ein Spieler (der Ersatzspieler Stéphane Grichting) musste offenbar in ein Spital eingeliefert werden, weil er beim Eingang einen Tritt in den Unterleib erhalten hatte.
 
Wahrscheinlich müsste man die Verherrlichung des Sports und das Ausblenden der Schattenseiten allmählich beenden, um der Ehrlichkeit willen. Aber die Angst ist unterschwellig verbreitet, der Spitzensport könnte dann auf die bescheidene Bedeutung zurückfallen, die ihm an sich zustünde. Zu viele Geschäfte und persönliche Interessen sind mit ihm verbunden.
 
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