Textatelier
BLOG vom: 08.05.2006

Muss man die Einheits-Glarner jetzt vielleicht bevormunden?

Autor: Walter Hess
 
Mit Verlaub: Die spinnen wirklich, jene Glarner, die der Gemeinde-Radikalkur zugestimmt haben: Eine knappe Mehrheit des Stimmvolks hat an der Landsgemeinde am Sonntag, 7. Mai 2006, offenbar aus einer spontanen Laune heraus, beschlossen, die Zahl der Gemeinden von 25 auf 3 zu verringern. Noch fortschrittlicher wäre es zwar gewesen, den Kanton zu einer einzigen Einheitsgemeinde zu vereinen und deren Verwaltung gleich in die Kantonsverwaltung einzugliedern. Am rationellsten wäre es, die Schweiz zu einer einzigen Gemeinde zu fusionieren, die ohnehin überflüssigen Kantone abzuschaffen und die Verwaltung der Gemeinde Schweiz gleich der Bundesverwaltung zu übertragen. Das würde Kosten sparen. Wir sind gerade unterwegs dorthin.
  
Die Glarner Regierung und das Kantonsparlament wollten aus den 25 Gemeinden zwischen Walensee und Tödi deren 10 machen. Diese bereits sehr weitgehende „Gemeindereform“ wurde von einem Vertreter der Jungsozialisten, Sergio Haller aus Glarus, als überflüssigen Zwischenschritt bezeichnet; es sei sinnvoller, sich gleich auf 3 Einheitsgemeinden zu beschränken, die den 3 Regionen des Kantons mit seinen total 38 000 Einwohnern entsprechen. Ein anderer Redner schlug auch gleich die konkrete Aufteilung des Kantons vor: Glarus Mitte soll aus den Gemeinden Glarus, Riedern, Netstal, Ennenda und Mitlödi bestehen. Glarus Nord fasst die Gemeinden nördlich dieser Einheit und Glarus Süd jene südlich davon zusammen. Jede der 3 Einheitsgemeinden würde 10 000 bis 16 000 Einwohner umfassen.
 
Zugegebenermassen hat der kleine Kanton zurzeit überaus komplizierte Strukturen, die eine gewisse Vereinfachung durchaus ertragen. Das glarnerische Wirrwar an Verwaltungseinheiten ergibt sich aus der Unterteilung in 25 Ortsgemeinden, 9 so genannten Tagwen (Bürgergemeinden), 20 Schulgemeinden und 16 Fürsorgegemeinden. Damit kommen jährlich rund 65 verschiedene Gemeinderechnungen zu Stande. Solche Zustände müssten von unten angegangen werden; so etwa soll das Sozial- und Vormundschaftswesen zum Beispiel Sache der kantonalen Behörden werden. Auch Zusammenlegungen von Kleinstgemeinden können sinnvoll sein; doch müsste die Initiative dazu aus den betreffenden Gemeinden kommen und nicht als Dekret von oben.
 
Die freisinnige Glarner Regierungsrätin Marianne Dürst sprach am Sonntagabend in der „Tagesschau“ des Schweizer Fernsehens von einer „historischen Sensation“. Glarus habe sich mit seiner neu beschlossenen Gemeindeorganisation an die schweizerische Spitze gebracht, sagte die Innendirektorin. Pole-Position. Ich persönlich würde eher von einem „historischen Blödsinn“ sprechen. Die Gegner des Vorschlags, darunter Gemeindepräsidenten, sprachen zutreffend von „Zwangsfusionen“, „unnötigem Aktivismus“ und einer „Retortenlösung“, die nicht nachvollziehbar sei. Am weitesten ging René Brandenberger, der die ganze Übung im Alpenkanton als Albtraum bezeichnete. Er sprach sich gegen „türkische Verhältnisse, wo die Väter bestimmen, wen die Töchter heiraten sollen“ aus. Das Bild ist verantwortbar. Vielleicht wollen die Glarner bevormundet werden. Polit-Masochismus.
 
Ich hielt bisher viel auf der Einrichtung von Landsgemeinden, eine sehr direkte demokratische Form in Kleinkantonen. Doch hatte ich offenbar übersehen, dass sich dabei auch gruppendynamische Prozesse entwickeln können, die mit den Gesetzen der Massenpsychologie zu begründen sind. Besonders gefährlich wird dieser Umstand, wenn es um kaum oder nur verschleiert diskutierte und damit noch nicht ins Bewusstsein gekommene Geschäfte wie die Globalisierung geht, deren Verhängnis erst mit Verspätung erkannt wird.
 
Die Einheitsgemeinden sind zweifellos ein Bestandteil der globalisierten Einheitswelt, auf die alles zustrebt, auch das Bildungswesen, über dessen Vereinheitlichung das Schweizervolk am 21. Mai 2006 abzustimmen hat, und es ist anzunehmen, dass es auch auf diesen neoliberalen (rein auf Geschäftemachereien ausgerichteten) Trick hereinfallen wird. Es geht immer um die Erschwerung und Abschaffung des Volkseinflusses, damit zentral gelenkt und vereinheitlicht und internationalisiert werden kann. Dieser Prozess kommt in den Systemmedien, die ihrerseits in Bezug auf Aussehen und Inhalt ebenfalls bereits stark vereinheitlicht sind und als Vereinheitlichungs-Posaunen die Gehirne ihrer Nutzer schädigen, dann unter Modewörtern wie Verschlankung, Vereinheitlichung mit Kosteneinsparungseffekten, Kantönligeist – das Wort Gemeindeligeist muss noch erfunden werden –, Fortschritt, Zukunftstauglichkeit und dergleichen daher.
 
Die desinformierten Bürger werfen ihre demokratischen Einflussmöglichkeiten wie ausrangierte Kleider weg, ersetzen massgefertigte Leinenhemden durch Billig-Massenware wie rote Kunststoff-T-Shirts ab Stange und spüren erst hintendrein, wie ungemütlich und ungesund das Leben geworden ist.
 
Den uniformierungsanfälligen Glarnern hätte ich mehr Willen zur Individualität, zur Eigenständigkeit zugetraut. Der heiliggesprochene Fridolin, Alemannen-Missionar und Schutzpatron des Kantons Glarus, scheint am Landsgemeindesonntag gerade in Bad Säckingen Urlaub gemacht zu haben. Er wird in der Ikonographie meist zusammen mit einem Skelett dargestellt, weil er einen toten Bauern zum Leben erweckt haben soll. Vielleicht findet das Skelett nun auch Eingang ins Wappen des kommunal komplett abmagernden Kantons Glarus. Die allerheilige Globalisierung wird ihn leider kaum zum Leben erwecken.
 
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