Textatelier
BLOG vom: 23.05.2006

Montenegro abgetrennt und EU-reif: Jugoslawien zerstückelt

Autor: Walter Hess
 
Montenegro hat sich am Wochenende verselbstständigt, das heisst von Serbien abgelöst, womit Serbien zum Binnenland geworden ist – es hat keinen Zugang zum Mittelmeer mehr. Diese Ablösung besiegelt den vom Westen aktiv unterstützten Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens.
 
Der Name Jugoslawien entstand 1929. Er bezeichnete die 1918 aus den Königreichen Serbien und Montenegro sowie Teilen der ehemaligen österreichisch-ungarischen Donaumonarchie und des Osmanischen Reichs proklamierten Staat, in dem Menschen aus 10 unterschiedlichen Nationalitäten lebten. Der von Josip Broz Tito aus dem Widerstand gegen die deutsche Besetzung zusammengefügte Nachfolgestaat nannte sich nach dem Zweiten Weltkrieg „Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien“. Er umfasste die 6 Republiken Slowenien, Kroatien, Bosnien-Hercegowina, Serbien, Montenegro und Makedonien sowie innerhalb Serbiens die beiden autonomen Provinzen Vojvodina und Kosovo.
 
Der Name Jugoslawien (heute: Ex-Jugoslawien genannt) stand für ein Völkergemisch, insbesondere aus Serben, Kroaten und Slowenen, mit mindestens 5 Sprachgruppen und 3 Religionsgemeinschaften (Orthodoxe, Katholiken, Muslime) und 2 Schriften (Kyrillisch und Lateinisch). Tito gelang das Kunststück, diese Multikulti-Gesellschaft zusammenzuhalten; seine Staatsform wurde als „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ charakterisiert. 1989 übernahm Slobodan Miloševic das Präsidentenamt mit dem Ziel, ein starkes Gross-Serbien aufzubauen. Wieso es unmittelbar darauf zum Zerfall dieses Staates kam, ist schwer auszumachen – zu widersprüchlich sind die Darstellungen der Separierungswünsche und deren Folgen, vor allem in Bosnien und Kroatien. Jedenfalls hatten die Westmächte ihre Hand im Spiele, zumal sich Miloševic den Diktaten von Weltbank und IWF (Internationaler Währungsfonds) nicht beugte und dafür selbstverständlich bestraft werden musste, wie alle anderen Unangepassten ebenfalls.
 
Der bewaffnete Konflikt begann 1991, als sich Slowenien verselbstständigen wollte und gegen den Mutterstaat aufstand, jugoslawische Grenzsoldaten (an der Grenze zu Österreich und Italien) wurden getötet; auch in Kroatien kam es zu solchen sezessionskriegerischen Attacken. Die Serben waren zum Widerstand aufgerufen. Die Rolle westlicher Länder bei der Vorbereitung dieser Vorgänge wurden in den Medien immer einseitig kontra-serbisch dargestellt, ganz im Sinne der damaligen Aufteilung von Gut und Böse. Zudem wurde schon bei (oder sogar vor) dem Krieg ausgerechnet von Deutschland und vom Vatikan zur Anerkennung von Bosnien und Kroatien als freie Staaten aufgerufen. Jedenfalls schien es so, als ob von westlicher Seite die Abspaltungstendenzen aktiv gefördert würden. Und Miloševic und seine Generäle zeigten sich nicht eben von der zimperlichen Seite, ähnlich wie Wladimir Putin den Tschetschenen gegenüber.
 
Ähnliche Abläufe gab es mit einiger Zeitverzögerung im Kosovo. Dort entstand ab 1996 in Gestalt der UCK, eine albanische paramilitärisch-freischärlerische Terror-Organisation, die Geld aus Deutschland erhielt, eng mit der Nato zusammenarbeitete, militärisch aufrüsten konnte, sich zunehmend Gefechte mit den serbischen Einheiten lieferte. Diese antworteten mit einer teilweise brutalen Unterdrückung auch der zivilen Bevölkerung.
 
Statt beschwichtigend und vermittelnd einzuwirken, nahmen die Nato-Staaten das Vorgehen der serbischen Sicherheitskräfte zum willkommenen Anlass, militärisch in diesen Konflikt einzugreifen. In der bewährten Manier flogen Nato-Flugzeuge, die endlich einmal (erstmals) zu einem richtigen Kriegseinsatz kamen, zwischen dem 24. März und dem 8. Juni 1999 nicht weniger als 31 800 Angriffe auf militärische, infrastrukturelle und zivile Ziele – ohne Rücksicht auf Verluste. Bei dieser Ausbreitung von Bombenteppichen aus sicherer Distanz wurden auch Zivilisten getötet und verwundet, etwa 5000 Menschen sollen ums Leben gekommen sein. Die serbischen Truppen zogen sich am 10. Juni 1999 auf Anordnung von Miloševic aus dem Kosovo zurück.
 
Dafür rückte die USA als eine der Kolonialmächte in den Kosovo ein und errichtete südlich von Priština den seit dem Chemiekrieg gegen Vietnam grössten Militärstützpunkt, ganz zufällig an der Route der Erdöl-Pipeline vom Schwarzen Meer (beim kaspischen Öl) zu den Mittelmeerhäfen von Albanien. Wie der Zufall so spielt ...
 
Die westlichen Systemmedien waren selbstverständlich ganz auf der Seite der Abtrünnigen und malten eifrig mit den schwärzesten Farben am Bild des Schurkenstaats Serbien. Jedenfalls hatte ich nie das Gefühl, ehrlich und einigermassen objektiv informiert zu werden. Die Krönung des Ganzen war dann des „Internationale Tribunal für Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien“, ein Schauprozess ohne jede juristische Legitimation. Dabei verteidigte sich Miloševic selber; aber über die Verhandlungen erfuhr man über die Westmedien eigentlich nichts; der Schriftsteller Peter Handke verglich den abgeschlossenen Gerichtssaal mit einer „Camera obscura“. Daraus ist zu erkennen, dass dort Fakten aufgetischt wurden, die nicht ins Konzept der US-Amerikaner und ihrer Vasallen (Koalition der Willigen) passen und nicht ans Licht der Öffentlichkeit gelangen sollten.
 
Man kann davon im Buch „Die Zerstörung Jugoslawiens. Slobodan Miloševic antwortet seinen Anklägern“ mit einem Vorwort von Klaus Hartmann (Zambon-Verlag, Frankfurt am Main 2006 (ISBN 3-88975-135-0) nachlesen. Dabei liegt es mir fern, dem am 11. März 2006 in seiner Zelle im Haager Gefängnis tot aufgefundenen Miloševic jedes Wort zu glauben; ich bin nach allen Seiten kritisch. Ich bin bloss erschüttert über das Verhalten beziehungsweise die Berichterstattung der Mediengemeinschaft; denn es gehört zu anständigen juristischen Gepflogenheiten, dass sich ein Angeklagter verteidigen darf und Gehör finden soll.
 
Literaturnobelpreisträger Harold Pinter stellte zu diesem Gerichtsverfahren, das den Namen nicht verdient, fest: „Das US-NATO-Gericht, vor dem Slobodan Miloševic angeklagt ist, war schon immer völlig illegal. Es konnte nie ernsthaft als Institution der Rechtsprechung bezeichnet werden. Miloševics Verteidigung ist kraftvoll, überzeugend, beweiskräftig und unmöglich zu ignorieren.“ Doch das Unmögliche wurde einmal mehr möglich. Miloševic erhielt kein Geld und keinen Computer oder gar einen Internetzugang  für seine Verteidigung, und auf der anderen Seite gab es beliebig viele Zulieferer aus Geheimdienstkreisen und Geld in Fülle. Der deutsche Völkerrechtler Norman Paech sprach angesichts dieser Waffenungleichheit treffend vom „Rechtsstaat auf seinem niedrigsten Niveau“. Es ging um einen Schauprozess bei vorgefasster Verurteilung, nicht ums Recht. Klaus Hermann bezeichnete das Gericht als „Kolonialbehörde zur permanenten Erpressung des in Stücke geschlagenen ehemaligen Jugoslawiens“. Dass sich unsere Schweizerin Carla del Ponte für so etwas hergab, ist auch gerade noch eine nationale Schande.
 
Der Schriftsteller Peter Handke, der sich in Haag persönlich kundig gemacht hatte, wurde von den Medien, die sich ausschliesslich mit offiziellem Material abspeisen liessen und alles für bare Münze nahmen, fast gelyncht. Selbstverständlich habe ich deshalb auch Handkes Werke gelesen, etwa den SV-Sonderdruck (Suhrkamp) „Rund um das Grosse Tribunal“, um mich von den Einflüssen medialer Gehirnwäschen und Vorurteilen zu befreien. Die Erkenntnis: Es war höchst unfair, den Serben alle Schuld an dem Bürgerkrieg zuzuweisen. Die Vorgänge verdienten eine sorgfältigere Betrachtung, wie dies Jürgen Elsässer im Buch „Kriegslügen. Vom Kosovokonflikt bis zum Miloševic-Prozess“ (Kai Homilius Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-89706-884-2) versucht hat.
 
Und nun hat sich das letzte Überbleibsel des ehemaligen Vielvölkerstaats Jugoslawien, Montenegro (650 000 Einwohner), soeben für die Unabhängigkeit entschieden – es ginge also auch so, auf demokratische Weise. 55,4 % der Teilnehmer an der Volksabstimmung (86,1 %) haben für die Loslösung von Serbien gestimmt − und damit genau 0,4 Prozentpunkte mehr als nötig (bzw. von der EU vorgeschrieben, eine frei erfundene Limite: 55 %), dem Krümmungswinkel von Bananen nicht unähnlich. Serbien, das viel Unrecht erlitten hat, ist wieder einmal frustriert, verständlicherweise.
 
Das ehemalige Fürstentum von Montenegro war auf dem von Fürst von Bismarck einberufenen Berliner Kongress 1878 von den europäischen Grossmächten für souverän erklärt worden. Und nun ist es wieder so weit. Es war der freie Entscheid der Bewohner, die Unabhängigkeit zu wählen. Solche Aufsplittungen passen an sich nicht zur Tendenz zur Einheitswelt; nur in Schurkenstaaten sind sie erwünscht, weil diese dadurch an Gewicht und Kraft verlieren.
 
Aber es wird sich alles schon noch zum Guten wenden: Montenegro wird zweifellos demnächst in die EU eingebunden und hat dann wieder einen netten und erst noch viel grösseren Überbau. Ich wünsche dem jungen Staat unter dieser neuen Herrschaft viel Vergnügen.
 
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