Textatelier
BLOG vom: 24.06.2011

St. Galler Impressionen: Die Stiftsbibliothek als Kopieranstalt

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Die Statistik ist eindrücklich genug: Der Inhalt der Stiftsbibliothek St. Gallen zählt zirka 160 000 Bücher mit dem einzigartigen Schatz von mehr als 2000 Handschriften, von denen rund 400 vor dem Jahr 1000 geschrieben wurden, also vor mehr als 1000 Jahren, und eine Sammlung von mehr als 1000 Wiegen- und Frühdrucken aus dem 14. Jahrhundert. Solche Kostbarkeiten erwecken bei allen Besuchern ein Staunen. Dies Gefühl verstärkte der Führer Edi Brun am 18.06.2011 noch, indem er kundtat, dass er während vieler Tage über diesen Reichtum und die Klostergeschichte erzählen könnte. Er wies auf einige wichtige und besondere Details aus der Kultur- und Geistesgeschichte hin, die vom Benediktinerkloster St. Gallen in alle Welt ausstrahlten und es wohl immer noch tun. Auf mich entfaltet dieser Raum eine geradezu magnetische Anziehungskraft, und dass wir diesmal zu solch einem mitreissenden und kompetenten Führer, der noch im Pensionsalter die hebräische Sprache und die Gregorianik studiert hat, um seinen Besuchern vielfältiger und überzeugter aus dem Mittelalter zu berichten, überbot meine kühnsten Erwartungen. Unsere Begeisterung potenzierte sich: Hie und da fügte Herr Brun bei (es tönte fast wie eine Entschuldigung): „Das musste ich Ihnen halt auch noch sagen“ .... „Nur noch das – das müssen Sie wissen“ ... Zum Erklären der Bücher und Wertsachen kommt an der einen oder ander Hintergrundbemerkung nicht vorbei.
 
Stiftsbibliothek-Eingang
Über dem festlich-barocken, von 2 marmorierten Säulen flankierten, doppelflügligen Portal, das in den weltberühmten Barocksaal mit den Buchkostbarkeiten im Westflügel des Klosters St. Gallen führt, befindet sich, umrahmt von einem goldenen Rankenwerk, die griechische Inschrift „Psychaehsiatreion“, was Heilstätte der der Seele oder „Seelenapotheke“ bedeutet, irgendwie ein nostalgisch verheissungsvoller Willkommensgruss.
 
Die Besucher mussten ihre Füsse und Schuhe in braunen Filzpantoffeln unterbringen, wie von Thomas Hürlimann, der als Knabe beim Anziehen helfen musste und Einblicke in die Damenrock-Unterwelten erhielt, im Roman „Fräulein Stark“ beschrieben, und sie bewegen sich ab jetzt schlurfend. Das schont und poliert die wunderschönen Intarsienböden. Steht man dann in der durch 5 Joche (durch 4 Stützen gebildete Einheiten) gegliederten Wandpfeilerhalle unter der schwingenden Galerie, in der auch gerade noch Tausende von Buchrücken den Besucher entzücken, wird jeder Besucher „übergeheilt“. Selbst die Gemälde von Josef Wannenmacher, 1762/63 entstanden, befassen sich mit den Wissenschaften, mit denen sich die Benediktinermönche in diesem Kloster befasst haben, und dazu gehörte die Gesundheitslehre.
 
Hieroglyphen
Die Malereien sind mit opulenten grünlichen, gebrochen weissen Stuckaturen im Rokokostil von Johann Georg und Matthias Gigl umrankt (die Benediktinerfarben waren Grün, Blau, Gelb und Rot und wechselten von Kloster zu Kloster). Und die mumifizierten, sterblichen Überreste von Schepenese neben ihrem äusseren und inneren Sarkophag, die um 650 bis 610 vor unserer Zeitrechnung in Ägypten lebte und in der Stiftsbibliothek ihre letzte Ruhestätte fand, wäre sicher viel älter geworden, hätte sie zu ihrer Zeit etwas von der Heilkraft der Bücher (die tatsächlich oft auch einen heilkundlichen Inhalt aufweisen) mitbekommen. Die Särge sind mit der ägyptischen Bilderschrift, den Hieroglyphen, bemalt. Sie ist eine der ersten Schriften der Menschheit und Symbol der ägyptischen Hochkultur. Also hat auch diese Mumie mit dem Schreiben zu tun und passt somit durchaus in diesen ehrwürdigen Raum.
 
Pergament
Zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert wurde vor allem auf Pergament geschrieben. Im 9. Jahrhundert war die Stiftsbibliothek im weitesten Sinne ein Abschreiberaum (Kopierraum). Die Schreibstube war eine Etage tiefer unten. Abgeschriebene Bücher bezeichnet man als Unikate, und sie sind auch, wenn sie schon 1000 Jahre alt sind, keine Originale. Oft dauerte die Abschrift eines Werks bis über 10 Jahre, weil die Mönche nicht nur schreiben durften, sonders sich auch den Aufgaben des Ordens zu widmen hatten.
 
Das Pergament der Bücher in des Stiftsbibliothek St. Gallen besteht fast ausschliesslich aus Schafshaut, nur in wenigen Fällen aus Ziegenhaus. Für ein Buch, etwa im Umfang der Bibel mit altem und neuem Testament, wurden die Häute von etwa 300 Schafen gebraucht.
 
Pergament muss sehr sorgfältig gelagert werden; schützt man es nicht vor Licht und Feuchtigkeit, wird es gelb bis schar und kann Einzelstücke (Fragmente) zerfallen.
 
Das Kloster St. Gallen war eine Lehranstalt fürs Schreiben. In St. Gallen wuchsen immer wieder talentierte Lehrkräfte heran. Wenn ich an meine eigene Schul- und Ausbildungszeit im Toggenburg und an der Gewerbeschule St. Gallen denke, bin ich noch heute von den grossartigen Lehrern (auch im Fach Chemie) beeindruckt. Die Bildungskultur und -beflissenheit ist wohl nach wie vor intakt, und St. Gallen, aus der Galluslegende herausgewachsen, ist ein Kulturzentrum von kontinentaler Bedeutung geblieben.
 
Der König, der Schreiben liess
Das Thema Schreiben hat in meinem Leben schon fast von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt, und dementsprechend bin ich sehr empfänglich für Informationen aus diesem Zusammenhang. So vernahm ich in der Stiftsbibliothek, dass der Franken-König Karl der Grosse (geboren 747 oder 748, gestorben 814) nicht schreiben, jedoch Latein sprechen und lesen konnte. Karl der Grosse konnte die Finger nicht biegen! So regierte er wohl lieber als sich mit dem Schreiben abzumühen.
 
Das Reich der Franken war damals riesig, bestand aus ganz Gallien und ganz Germanien (es wurde unter seinen Enkeln in 2 Frankenreiche aufgeteilt, wobei das Ostreich zum Reich der Deutschen wurde). Karl liess schreiben und wollte nicht sein eigener Arbeiter sein, und zudem hatte er anderes zu tun. Laut Karlheinz Deschner (in Band 4 seiner „Kriminalgeschichte des Christentums“) hat Karl sein ganzes Leben lang Kriege geführt – und „er tat nichts lieber“.
 
Das passt ins bekannte Bild: Karl ist durch seine Rücksichtslosigkeit bekannt und brachte als grausamer Kriegsherr die idealen Voraussetzungen mit sich, als Beschützer der Christen- und Papsttums auserwählt zu werden. Karl wurde vom ihm ergebenen Papst Leo III. an Weihnachten 800 zum Kaiser gekrönt, wodurch das Frankenreich in ein „römisches“ verwandelt wurde¸ein merkwürdiges Gebilde; die fränkischen Kaiser erschienen fortan als Rechtsnachfolger der antiken Imperatoren.
 
Notenschriften
Zum Schreiben der gregorianischen Choräle gehört auch das Notenschreiben, jedoch ohne Notenlinien, die erst anfangs des 11. Jahrhunderts von Guido von Arezzo eingesetzt wurden. Die Melodien der gregorianischen Gesänge (einstimmiger, offizieller Gesang der katholischen Kirche für die liturgischen Texte) wurden in frühmittelalterlicher Notenschrift, der Neumennotation, als Gedächtnisstütze aufgezeichnet. Zu dieser Gesangsart gehören neben den Liedern aus der Liturgie auch Loblieder und Kehrverse (Antiphone). Augustinus sagte einmal: „Wer jubelt, braucht keine Worte mehr!“
 
Der Klosterplan (Idealplan einer karolingischen Klosteranlage)
In einem gewissen Sinne kann auch ein Plan (wie eine Notenschrift) etwas mit der Schriftlichkeit zu tun haben. Der älteste Architekturplan des Abendlands stammt aus dem Jahr Bauplan Europas ist ebenfalls in der Stiftsbibliothek St. Gallen in der Gestalt des generellen Klosterplans, eigentlich ein Orientierungsplan zirka aus dem Jahr 825 und ist ebenfalls in der Stiftsbibliothek zu sehen. Auf ihm sind etwa 50 Gebäude festgehalten. Der Plan ist eigentlich der Richtplan für die Benediktinier-Abteien, der im Auftrag des Kaisers Ludwig dem Frommen, dem Sohn Karls des Grossen, im Kloster Reichenau geschaffen und durch Abt Heito dem Vorsteher des Klosters in St. Gallen, Abt Gozbert, zur Verfügung gestellt wurde.
 
Der Bibliotheksraum
Zu den faszinierenden Seiten der St. Galler Bibliothek gehören die meist in Nussbaum ausgeführten Holzbauarbeiten von Gabriel Loser, einem Mönch, dem die hauseigenen Werkstätten zur Verfügung standen und der die Technik der Furniere bereits kannte, damals eine ausserordentlich aufwendige und schwierige Angelegenheit. Die Galerien dürfen wohl aus Sicherheitsgründen bei Führungen nicht mehr begangen werden, da die Geländer nicht genügend stabil sind.
 
Die Putten in den Nischen
Eine Besonderheit sind die 20 in Nischen platzierten, aus Holz geschnitzten Putten, welche nicht einfach als geschlechtslose Wesen herumhängen, sondern Wissenschaften, Künste und Handwerkssparten verkörpern, sich eher scheu zurückziehend. Hier versammeln sich der Dichter, der Arzt, der Botaniker, der Zimmermann, der Apotheker, der Glockengiesser, der Geschützgiesser, der Goldschmied, der Flötist, der Sänger, der Maler, der Bildhauer, der Gärtner, der Komponist, der Kaufmann, der Geograf, der Architekt, der Astronom, der Mathematiker und der Orgelbauer. Sie dienen der zusätzlichen Verschönerung und Belebung des barocken Interieurs der Stiftsbibliothek.
 
Die kulinarische Seite von St. Gallen
Nach dem Konsum dieser erdrückenden Wissensfülle begaben wir uns in die profane Welt hinaus, ohne uns ganz von der Kultur zu lösen: Eine gastronomische Kultur gibt es in St. Gallen nämlich auch, und dazu gehört für mich immer der Verzehr einer Olma-Bratwurst (160 g) mit einem knusperigen und innen feuchten Bürli (Brötchen) in der Metzgerei Schmid. Bei etwas eingeengten Platzverhältnissen kann man sie direkt im Verkaufsraum an der St.  Jakobsstrasse 48 essen, wobei aber die Gastlichkeit nicht zu den Kernkompetenzen dieses etwas eingeengten Haues gehört – umso besser sind die Produkte. Wir – meine Familienangehörigen und ich – begaben uns diesmal gleich nach der morgendlichen Ankunft in die Metzgerei, nahmen die Würste in Empfang und wechselten zur gedeckten Rampe der gegenüberliegenden Schützengarten-Brauerei. Es regnete stark, auch als wir uns gestärkt zur Stiftsbibliothek aufmachten. Die Überdachung kam uns sehr gelegen.
 
In St. Gallen war gerade das Eidgenössische Musikfest ausgebrochen, und in der beflaggten Stadt herrschte Hochbetrieb. Fürs Mittagessen in der familiären Runde hatte ich Plätze im Restaurant „oPremier“ im Hotel Metropol direkt beim Bahnhof reserviert. Wir erhielten den besten Tisch in der Ecke hinter der Vollverglasung auf der Höhe der Trolleybus-Leitungen und konnten uns nach Lust und Laune köstlich verpflegen: Kräutersuppe (mit Milken oder Pouletspiessli) als Vorspeise, Lamm, Rind oder eine Fischsuppe. Die Speisekarte ist übersichtlich, hervorragend assortiert. Und als ich neben einem Sancerre mit Rücksicht auf die begeisterten Hackbraten-Freunde noch einen ausgesprochen fruchtigen, von einer barocken Duftfülle gezeichnete Chaminé aus der portugiesischen Region Alentejo, wo auch die Korkeichen für die Zapfenherstellung wachsen, bestellte, war mir die volle Sympathie des portugiesischen Chefs de Service, Aderito dos Santons, sicher. Er bediente uns zusammen mit Ruben Azevedo und Christian Örtle mit voller, höchst beeindruckender Aufmerksamkeit. Der Mitinhaber Rico Bloch stellte sich als „Gruss-August“ vor, begrüsste uns persönlich und nahm unser ausschliesslich hervorragendes Urteil für diese Essen entgegen (Küchenchef: Christian Burri).
 
Begegnung mit Frau und Herr Merz
Ich war dank des „Guide Schweiz 2011“ von GaultMillau auf dieses Restaurant aufmerksam worden, dem 14 Punkte verabreicht sind. Etwa 3 Tische von uns entfernt sassen alt-Bundesrat Hans-Rudolf Merz und seine charmante, sympathische Frau, die sich schon immer im Hintergrund hielt. Da ich den Magistraten im Blog vom 15.07.2010 („Halten Sie noch etwas durch, Bundesrat Hans-Rudolf Merz“) lobend behandelt habe, erlaubte ich mir, mich den beiden vorzustellen und dem ehemaligen Finanzminister mein Kompliment für die kompetente Führung des nationalen Finanzhaushalts zu machen, was ihn offensichtlich freute. Bei der rundum katastrophalen Schuldenwirtschaft, die im Einsturz des globalen Finanzgefüges enden muss, das schon schwere Schlagseiten hat, war das eine erstaunliche Leistung. Bei unserem Gespräch erfuhr ich noch, dass Herr Merz häufig im oPremier einkehre, das nach längerer Schliessung seit 2002 wieder offen ist. Es sei Nummer 1 in der Stadt, vertraute mir der Ostschweizer Hans-Rudolf Merz an, der Zeit seines Lebens in Herisau AR wohnte und wohnt, aber Bürger von Beinwil am See im Aargau ist.
 
In jenes Appenzellerland mit seiner geradlinigen, urchigen und tüchtigen Bevölkerung reisten wir gleich weiter. Darüber werde ich in einem separaten Blog berichten. Schliesslich sind die Appenzeller als letztes Urvolk der Schweiz etwas derart auffällig Ausgefallenes, dass man sie nicht beliebig mit anderen Themen vermischen darf – und schon gar nicht mit dem Kloster St. Gallen. 
*
Dank
Für die kritische Durchsicht der Ausführungen über das Kloster St. Gallen danke ich Edi Brun, Teufen AR, bestens. Hier einige seiner Berufspersonalien: Er war Primarlehrer, schulischer Heilpädagoge an der Universität Fribourg, Erwachsenenbildner SAKAES und Theologe an der Theologischen Hochschule in Chur (THC). Das Studium an der THC wählte er wegen der Kirchengeschichte, betrifft doch die frühmittelalterliche Geschichte des Klosters St. Gallen auch das Bistum Chur.
 
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