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BLOG vom: 03.01.2016

Meinrad Inglin – Spiegel seines Jahrhunderts

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH


Zum Inglin-Sammelband „Kurz nach Mittag aber lag der See noch glatt und friedlich da“ – Neue Studien zu Meinrad Inglin, hrsg. v. Christian von Zimmermann und Daniel Annen, erschienen bei Zürichs Chronos-Verlag. Meinrad Inglin, 1922 mit einem sog. Schlüsselroman „Die Welt in Ingoldau“ furios gestartet, gehört zu den Klassikern der Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts. Zu seinen schönsten Erzählungen, ein Jagd- und Bergmotiv betreffend, gehört die Meistererzählung „Die Furggel“. Anliegen des Sammelbandes ist eine breitere Neurezeption des ersten Innerschweizer Literaturpreisträgers. Zu dessen Preisnachfolgern gehören unter anderen Hans Urs von Balthasar, Hans Küng, Peter von Matt, Thomas Hürlimann und Textatelier-Autor Pirmin Meier.

Es ist verdienstvoll, dass der Kanton Schwyz im Herbst 2011 einen Inglin-Kongress veranstaltete und diesem weitere Anlässe folgen liess. Im Februar erscheint eine grössere Broschüre über Meinrad Inglins Namensvetter Meinrad Lienert. Beide Autoren waren einst für die Schweiz repräsentativ. Inglin hat mit dem „Schweizerspiegel“ 1937 ein Jahrhundertwerk der Literaturgeschichte unseres Landes vorgelegt, wiewohl bei einem umstrittenen deutschen Verlag erschienen, nämlich Straackmann (Leipzig), wo auch Alfred Huggenberger (1867 - 1960) seine Volkserzählungen und Romane publizierte.

Die nun als Ertrag vorliegenden Beiträge dürfen literarhistorisches und in nicht wenigen Fällen auch zeitgeschichtliches Interesse beanspruchen. Gemäss den Ausführungen von Landammann Walter Stählin zur Vorstellung des Textbandes hat es, zum Bedauern der Schwyzer Regierung, eine auf Kontinuität angelegte Erforschung des Werkes von Meinrad Inglin bis anhin nicht gegeben.

Sofern aber die im Zürcher Chronos-Verlag erschienene Sammlung von Vorträgen mehr bleibt als eine blosse Episode, wäre diesem Mangel abgeholfen. Die erweiterten Vortragstexte bringen über die Geschichte des Tourismus in literarischer Spiegelung (Cordula Seger, Dominik Müller), über schweizerische Literaturpolitik in der Zeit des Dritten Reiches (Oliver Lubrich) wie zur literarischen Einordnung von Inglins Schaffen in einer Frühphase der Globalisierung (Christian von Zimmermann) Neues, und zwar so, dass sich die Fortsetzung der präsentierten Forschungsansätze aufdrängt. Nicht zu unterschätzen sind nebst Arbeiten von Forschern, die sich neu mit Inglin befasst haben, weiterführende Beiträge von Beatrice von Matt und Daniel Annen, welche schon vor Jahrzehnten eine erste Basis für die heute betriebene Inglin-Rezeption legten. Der mit eindrucksvollen Fotos illustrierte Band belegt eine auf eine wünschbare Fortsetzung hin angelegte aktuelle Auseinandersetzung mit Leben und Werk des Dichters.

Im Herbst 1953 gab es für Meinrad Inglin einen Termin, der für ihn fast noch wichtiger war als die für ihn fast heilige Jagdsaison. Zum ersten Mal nämlich wurde von der Innerschweizer Kulturstiftung der Innerschweizer Kulturpreis verliehen. An diesen 60. Jahrestag hat der Urner Regierungrat Beat Jörg aus Anlass der Verleihung des diesjährigen Kulturpreises an die Künstlerin Maria Zgraggen erinnert. Meinrad Inglin erfuhr ein ehrenvolles Gedenken. „Allererste Wahl“ in jeder Bedeutung dieses Wortes war der Dichter aus Schwyz. Der ehemalige Kollegi-Schüler und Verfasser des im hiesigen Flecken spielenden Skandalromans „Die Welt in Ingoldau“ hätte sich 1922 eine solche Ehrung gewiss nicht träumen lassen. Wie der Aargau etwas später den Reigen seiner Literaturpreise mit dem Bildungsaristokraten, Historiker und Literaten Jean-Rodolphe von Salis eröffnete, war Inglin zur Zeit der Stiftung des Kulturpreises ein bestmöglicher Repräsentant der bildungsbürgerlichen Elite.

Ein kleiner Unterschied wurde erst durch die Biographie von Beatrice von Matt bekannt: Nämlich dass das Haus „im Grund“ in Schwyz, wo Inglin von 1922 bis zu seinem Tode wohnte, weder über Zentralheizung noch Badewanne verfügte. Und dass Inglin, der wie sein Verlagskollege beim Leipziger Verlag Staackmann, der dichtende Bauer Alfred Huggenberger, wegen der deutschen Katastrophe im 2. Weltkrieg für seine Büche nur noch wenig Geld gelöst hatte, sich 1946 zusammen mit Josef Maria Camenzind, Emanuel Stickelberger, Emil Ermatinger und den Erben von Maria Waser bei Philipp Etter beim Alliierten Kontrollrat um Unterstützung in Sachen Verlagsrechte bemühen musste. Dass Tausende von Büchern Inglins, Huggenbergers und anderer Schweizer bei der Bombardierung von 1943 vernichtet wurden, gehört mit zu den kulturellen Nebenfolgen des 2. Weltkrieges. Eine Bücherverbrennung der 2. Art. Der Schweizerspiegel, das ist nicht uninteressant, gehört in diesem Sinn zu den meistverbrannten Schweizer Büchern der europäischen Literatur.

Dieser zeitgeschichtliche Gesichtspunkt wird in unserem Band in einem Beitrag von Oliver Lubrich zumindest angedeutet. Inglin gehörte nämlich zu jenen Autoren der damaligen Zeit, welche sich dem Zwiespalt des Publizierens in deutschen Verlagen aussetzten, weil sie sonst 90 Prozent einer möglichen Leserschaft nicht erreicht hätten, so etwa mit der Meisternovelle „Die Furggel“, welche 1943 beim deutschnationalen Verlag „Staackmann“ in Leipzig erschien. Der Befund, dass sich Inglin des besagten Zwiespaltes bewusst wurde, erhält in der Fassung der Novelle „Eine missglückte Reise nach Deutschland“ von 1943, noch einmal überarbeitet für den Erstdruck in den Schweizer Monatsheften 1963, ein zunehmend kritisches Profil. Nichtsdestoweniger stellt sich die Frage, wie weit diese Kritik zum Zeitpunkt der geschilderten Reise, also im Vorfrühling 1940, in diesem Ausmass schon ausgebildet war.

Hier müsste über Lubrichs Ansätze hinaus mit vergleichbarer Akribie vorgegangen werden, wie es Mario König – selbst er noch mit erheblichen Lücken – in der mit Rea Brändle verfassten bedeutenden Studie „Huggenberger – Die Karriere eines Schriftstellers“ (Frauenfeld 2012) geleistet hat.

Was sich aus Lubrichs Analyse nicht ergibt, ist folgendes: Es gab im nationalsozialistischen Deutschland, wie Reinhold Schneider und Jochen Klepper es kritisch ausdrückten, einen geduldeten bürgerlichen Kulturbetrieb, den sogenannten „christlich-bürgerlich-nationalistisch-snobistischen Kulturbetrieb“. An diesem Betrieb hatten, mit einem unterschiedlichen Grad der sogenannten Infizierung, auch Schweizer Kulturschaffende ihren Anteil. So zum Beispiel Alfred Huggenberger und aus dem Kanton Schwyz der Musiker Othmar Schoeck sowie der Schriftsteller Meinrad Inglin Anteil. Das alles ist ungenügend erforscht, braucht zusätzliche Recherchen; wird jedoch, das bleibt mein Kompliment, durch den Aufsatz von Oliver Lubrich angeregt.

Verdienstvoll am vorliegenden Band sind weitreichende Querbeziehungen, so der Vergleich Inglins mit dem Westschweizer Schriftsteller Guy de Pourtalès bei Beatrice von Matt, in dessen Werk „Wunderbarer Fischzug“ (1920) bereits eine Debatte geführt wird, die an die innerbürgerlichen Spannungen im „Schweizerspiegel“ erinnert. Beatrice von Matt und Daniel Annen erweisen sich mit ihren parallelen Würdigungen von Inglins letzter Novelle „Wanderer auf dem Heimweg“ als vorzügliche Literatur-Erzähler, unweit der Qualitäten, die wir bei Peter von Matt schätzen. Eine hochinteressante Parallelisierung bringt überdies Nina Ehrlich (Bern) Der Erste Weltkrieg war nämlich auch in der dänischen Literatur im Hinblick auf die Identität des Landes ein gewaltiges Thema. In Ehrlichs Aufsatz wird der Familienroman Jörgen Stein von Jacob Paludan (1933) mit dem „Schweizerspiegel“ verglichen.

Zu den lesenswerten spannend geschriebenen Aufsätzen gehören das Katastrophenmotiv bei Inglin (Christian Utz, Lausanne) und die Interpretation der Adoleszenz-Erzählung „Die entzauberte Insel“ aus der Feder des Germanisten Christian von Zimmermann, dessen Bekanntschaft für mich bei der Buch-Vernissage unter der Rubrik „Bedeutende Entdeckungen“ zu verbuchen war. Das Motiv des Kulturwandels, etwa am Beispiel des Baues eines Staudammes in „Urwang“ verweist darauf, wie sehr wir es bei Inglin keineswegs bloss mit einem „erratischen Block“ der Literaturgeschichte zu tun haben. Eher schon mit einem Wegweiser in eine Zukunft, der er mit einer von Skepsis durchtränkten Hoffnung entgegenblickte.

 

Zimmermann, Christian v.; Annen Daniei: „Kurz nach Mittag lag der See noch still und friedlich da.“ Neue Studien zu Meinrad Inglin. Chronos-Verlag, Zürich 2013

 
 
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