Textatelier
BLOG vom: 16.03.2006

Unvollendetes: Das „Non-Finito“ und das „Incompiuta“

Autor: Emil Baschnonga, London
 
Viele zum Himmel strebende gotische Kathedralen sind unvollendet geblieben. Entweder versiegte das Geld oder es gebrach an der damaligen Bautechnik, um den gigantischen Turmaufbau nach Plan zu verwirklichen.
 
Ein berühmtes modernes Beispiel des Unvollendeten ist die Kathedrale „La Familia Sagrada“ in Barcelona, vom berühmten Baukünstler Antonio Gaudi 1882 in Angriff genommen. Als 20-Jähriger bewunderte ich dieses Bauwerk. Ich sollte es wieder aufsuchen, denn inzwischen wurde wacker weitergebaut. Die Bauarbeiten sollen sich bis ins Jahr 2041 erstrecken. Ich werde es dann nochmals als 100-Jähriger besuchen!
 
Alle Sparten der Kunst – Gemälde, Skulpturen, Musik und Literatur – kennen viele Beispiele des Unvollendeten und widerspiegeln damit auch das Non-Finito in unserem eigenen Leben. Wir sind bloss Fragmente des Möglichen geblieben. Ab einem gewissen Alter sehen wir ein, dass wir uns beschränken sollten. Aber einfach aufgeben? Nie!
 
Wenigstens will ich das, woran ich leidenschaftlich glaube, bis ins Unendliche weiterführen … Also fahre ich mit dem Schreiben fort: Der Glaube und der Wille, etwas zu vollenden, braucht Ausdauer. Der Wille mag noch so wollen, doch wenn die Ausdauer fehlt, bleiben wir jämmerlich stecken.
 
Mich rührt und bewegt das Unvollendete oft stärker als das in jede Einzelheit tadellos ausgeführte Meisterwerk.
 
Hier lasse ich von der Kunst und wende mich dem Alltagsleben zu, wo so viel Begonnenes unausgeführt liegen bleibt. Wir entlasten uns von vielen Pflichten mit der Rechtfertigung: „vergebliche Liebesmühe.“
 
„Ich bin doch kein Buchhalter“, schiebe ich ungehalten einen Stoss von Papieren in die Ablage und vergesse sie. Himmel, wie ich mich ärgere, wenn es Zeit wird, den Jahresabschluss vorzubereiten. Ich bin dazu gezwungen, das Vernachlässigte und Aufgeschobene nachzuholen – mit viel Ach und Krach und Zeitverlust. Bei einem solchen Schlamassel erfahre ich wieder einmal: „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“ Das hätte ich eigentlich längst wissen sollen, aus der Zeit der aufgeschobenen Schulaufgaben …
 
Nebenbei kann diese Volksweisheit auch positiv ausgelegt werden: Ich freue mich etwa auf einen Besuch oder einen Abstecher, aber etwas kommt dazwischen. Zum Trost lässt sich schliesslich mein Vorhaben verwirklichen. Dieses „Finito“ war mit wachsender Vorfreude verbunden.
 
Alle Jahre wieder, wenn das Gras im Rasen emporschiesst, zögere ich wochenlang, ehe ich den Mäher aus dem Schuppen hole. Kein Wunder, dass er aussetzt, entweder beim 1. oder letzten Viertel der Rasenfläche. Das störende Ergebnis ist ein „unvollendeter“ Rasen.
 
Vor einigen Jahren wollte ich den Rasen in eine Wiese verwandeln. So überliess ich ihn einfach dem Wildwuchs. Schliesslich sollen die Bienen, Hummeln, selbst Mücken und Ameisen daran ihre Freude haben, rieb ich mir vergnügt die Hände. Der Rasen verwilderte „vollkommen“. Von der Familie unter Druck gesetzt, konnte ich mich nicht länger drücken und musste einen Gärtner mit einem Riesenmäher kommen und aufräumen lassen.
 
Einem Steckenpferd widmen wir unendlich viel Zeit. Wir reiten auf ihm fort und weiter bis ans unabsehbare Ende. Aber dazwischen gibt es vollkommene Etappensiege.
 
Jetzt habe ich mit dem Wort Etappen den Rank gefunden, um dem Non-Finito beizukommen und beschliesse heiter diese Blog-Etappe für heute.
 
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