Textatelier
BLOG vom: 22.04.2006

Rich List: Die Olympiade der Grossverdiener in England

Autor: Emil Baschnonga
 
Alle Jahre wieder wird von der „Sunday Times“ die „Rich List” als separates Magazin veröffentlicht – ungefähr um die gleiche Zeit wie der Londoner Marathon stattfindet.
 
Im Vorfeld wurde am Mittwoch, 19. April 2006, im „Evening Standard“ auf die Superreichen britischen Asiaten, hauptsächlich indischer oder pakistanischer Herkunft, hingewiesen. 10 von diesen Preisträgern wurden mit Fotos vorgestellt. Zusammen sind sie 3 Milliarden Pfund wert. Diese geschäftstüchtigen Empire-Erbauer gewannen ihre Reichtümer aus der Herstellung von Kosmetika, Arzneimittel, Stahl und anderer Metall-Legierungen und Elektronik. 3 von ihnen sind Hoteliers. Sie schüren viel Neid. Sie sind von unersättlichen Machtgelüsten getrieben. Sie gedeihen in einer Gesellschaft, die ausser Profitzahlen wenig andere Werte mehr kennt und würdigt.
 
… und der Familiendoktor hält mit
Wer hätte gedacht, dass sich jetzt auch der schlichte Familiendoktor zum Spitzenverdiener hochgeschwungen hat? Die erwähnte Schlagzeile mit Bild bezieht sich auf Dr. Sanjiv Gupta, dessen Praxis ein jährliches Einkommen von £ 270,000 abwirft. „Wie viel ich verdiene, das geht niemand etwas an“, äusserte er sich.
 
Inzwischen gräbt sich die NHS (National Health Service) tiefer ins Defizit-Loch. Die englische Regierung hat ein Quotensystem gutgeheissen, wonach jede noch so kleine ärztliche Leistung äusserst grosszügig innerhalb von leistungsbezogenen („performance-related“) Verträgen honoriert wird. Der Doktor legt sein Stethoskop aus der Hand und wird zum Statistiker in eigener Sache. So wird ein einst bewundertes nationales öffentliches Gesundheitswesen verhunzt.
 
„Wenn das Geld im Kasten klingt …
... die Seele in den Himmel springt“. So oder ähnlich hat es die Kirche einst gehalten und gegen Spenden die Sünder springen lassen. „Cash for honours“ wird heute in England dieser Unfug genannt: Die Spender erhalten den Herrschaftstitel „Lord“ und dürfen ihren Sitz im altehrwürdigen „House of Lord“ (Oberhaus der Regierung) beziehen.
 
Dieser wiederum von der Regierung angezettelte Missbrauch unter Missachtung des Gesetzes wirbelt gegenwärtig viel Dreck auf und wird jetzt von der Justiz aufgegriffen. Daraus wird klar ersichtlich, wie viele der eingangs erwähnten Grossverdiener darauf aus sind, Ruhm und Ansehen zu kaufen. Ob dieser Riesenskandal Tony Blair den Kopf kosten wird oder nicht, bleibe dahingestellt. (Er hat die für Politiker wichtige Gabe, seinen Kopf immer wieder aus der Schlinge ziehen zu können.) Inzwischen wurde der ehemalige Regierungsberater (Des Smith), der die Spender köderte, bereits verhaftet.
 
In diesem Zusammenhang wurden potenzielle Spender eingeladen, ihr Scherflein einem weiteren Steckenpferd des Ministerpräsidenten (Tony Blair) beizutragen, d. h. zu Gunsten der kontroversen Reform des Erziehungswesens in „Academies“. Die Höhe der Spende bestimmt das Adelsprädikat, vom OBE bis zum Lord. Bereits haben 8 Spender ihren Sitz im House of Lords auf diese Weise erkauft.
 
Das einst vorbildliche Erziehungssystem ist längst verschrottet – die Überbleibsel sind einige wenige „Grammar Schools“, die früher weitverbreitet vielen Schülern aus ärmlichen Verhältnissen eine gute Ausbildung gesichert hatten.
 
Ein Freipass gegen Geld
Tony Blairs finanzieller „Fixer“ Lord Levy, auch „Lord Cashpoint“ genannt, wird jetzt unter die Lupe genommen, nachdem er gegen Beiträge zum „Millennium Dome“ (ein kostspieliges Fiasko) Pässe freigab, worunter auch an die stinkreichen indischen Hinduja-Brüder Srichand und Gopichand gegen einen Beitrag von 1 Million Pfund. Übrigens wurde ihr 1. Pass-Antrag im Jahre 1990 verworfen.
 
Fazit: „Cash for honours“ kommt der Privatisierung durch die Hintertüre gleich. Der „Rat der Weisen“ im House of Lords wird von den Eigeninteressen der neuen Spenden-Lords zersetzt – ein weiterer Abstrich innerhalb der arg angeschlagenen Demokratie. Das alles stinkt zum Himmel, so sehr, dass ich jetzt zur Abwechslung ein löbliches Thema einschieben will.
 
Vorbildliche Arbeitgeber
Jeweils im Frühling erscheint ein weiteres „Sunday Times”-Magazin mit einer Rangliste der vorbildlichen Arbeitgeber – von kleineren bis zu grösseren Firmen.
 
Dazu ein Beispiel: Data Connection (DC) entwickelt Software und wurde mit dem 5. Rang ausgezeichnet. Dieses Software House beschäftigt 286 Mitarbeiter und hat einen Umsatz von £ 38 Millionen. DC würdigt den Einsatz seiner Mitarbeiter mit einem jährlichen Geschäftsausflug, das letzte Mal nach Rom. Ungleich wichtiger bietet DC der ganzen Familie des Angestellten eine private Krankenversicherung und obendrein eine Pensionskasse, ohne Mitarbeiterbeiträge zu verlangen. Die Arbeitsplätze sind gesichert. Neues Personal wird sorgfältig in die Aufgaben eingeführt. Die Vorgesetzten unterstützen es persönlich mit bis zu 50 Arbeitstagen im 1. Jahr der Anstellung.
 
Die Firma erwartet nicht, dass ihre Mitarbeiter masslos „freiwillig“ Überstunden leisten. Nur 5 % der Mitarbeiter wechseln jährlich die Stelle. Die Leute arbeiten motiviert und identifizieren sich mit ihren Aufgaben. Dies alles laut Aussagen der Arbeitnehmer selbst. Ausserdem gehen 2 % des Gewinns an die Wohlfahrt.
 
Ich selbst hatte das grosse Glück, für verschiedene aufgeschlossene Firmen zu arbeiten, worunter auch das damalige Stanford Research Institute (heute SRI-International). Kein Wunder, dass ich SRI während 14 Jahren die Treue hielt. Ganz besonders schätzte ich auch meine Kollegen aus aller Welt. Wir kamen ausgezeichnet miteinander zurecht und lernten viel voneinander. Mein Missbehagen schlich sich erst ein, als im Europa-Sitz in Croydon (Vorort von London) die „Anglosachsen“ uns verdrängten und sich zunehmend mit den Amerikanern in Menlo Park (Kalifornien) anbiederten.
 
Zweierlei Opfer
Hunderte von unschuldigen Gefängnisinsassen, die nach erfolgreicher Kassationsbeschwerde freigesprochen wurden, erhalten keine oder eine arg gekürzte Kompensation. Sie sind Opfer der Fehljustiz. Die Opfer von zu Recht verurteilten Kriminellen sollten dafür mehr Entschädigung erhalten. Ich bin ganz dafür, doch nicht auf Kosten der zu Unrecht Verurteilten. Entweder ist jemand schuldig oder nicht – halbschuldig ist für mich kein Rechtsbegriff (ausser als mildernde Umstände im Gerichtsverfahren anerkannt). Daraus ist ersichtlich, dass ich kein Jurist bin.
 
Stellen Sie sich vor, jemand wie Angela Canning darbte 20 Monate im Kittchen, aber wurde nachträglich vom Mord ihrer 2 Söhne vom Appellationsgericht (Berufungsgericht) freigesprochen. Sie ist ein Opfer wie alle anderen auch und hat einen rechtmässigen Anspruch auf  Wiedergutmachung. Sie wartet noch immer auf Entschädigung, weil ihr Leben, wenn nicht verpfuscht, so doch stark belastet ist. Wer in einer solchen Situation eine Freiheitsstrafe absitzt, verliert sein Einkommen, seine Stelle und sein Ansehen (denn nach einer Verurteilung – selbst als Unschuldiger – bleibt immer etwas kleben).
 
Der Innenminister („Home Secretary“) Charles Clarke will jetzt £ 8 Millionen von der Kasse für die unschuldig Verurteilten abzweigen, um sie an die Opfer von Verbrechen zu verteilen. Diese merkwürdige Praxis heisst nach meinem Begriff: „To rob Peter to pay Paul“ (Peter zu berauben, um Paul zu bezahlen).
 
„Grünes“ organisches Essen: wachsende Vorliebe der Konsumenten
Auf Zwang der Konsumenten liegt jetzt mehr und mehr Bio-Kost auch in den Supermärkten in England auf. Gemüse, Früchte, Fleisch usf. stammt aus biologischem Anbau im Land selbst. Heute geben 5 von 8 Käufern dieser gesunden Kost den Vorrang – verglichen mit nur 2 im Jahr 2003. Schrittmacher dieses Siegeszugs gesunder Kost sind die Ketten „Waitrose“ und „Marks & Spencer“. Damit haben sie einen Marktvorsprung gewonnen und können sich, zusammen mit anderen Anbietern, ins Fäustchen lachen.
 
Alles hat seinen Haken. Vor Jahren kaufte die Hausfrau Gemüse und Früchte, die auf die Saison abgestimmt waren, vorwiegend auf dem Markt von Kleinanbauern, die ihre Scholle pflegten. Heute kosten organische Produkte bedeutend mehr als die aus intensivem Anbau stammenden: 2 kg organisch kultivierte Kartoffeln kosten £ 2.59 (nicht organische £ 0.89), 1 Pfund Karotten £ 0.79 (£ 0.41). Diese Preisunterschiede beginnen allmählich zu schmelzen, weil sich der Wettbewerb verschärft und damit auch Käufer mit kleinem Haushaltsbudget gewonnen werden. Schliesslich geht es alle Mal um eine Umsatzsteigerung.
 
Ich wünsche uns allen eine weiterhin rasche Preis- und auch Schneeschmelze, damit endlich wieder gesundes Grünzeug auf den Markt kommt.
 
Hinweise auf weitere Blogs zum Leben in England
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst
Altes Giftbuch entdeckt – Wurde Mozart vergiftet?