Textatelier
BLOG vom: 16.09.2006

Ein Befreiungsschlag: Der Hamster im Gartenschuppen

Autor: Emil Baschnonga, London
 
Dieser Hamster bin ich, stelle ich fest, wie ich in meinem Gartenschuppen wühle, grabe und ausmiste. Was sich da nicht alles angesammelt hat, das ich schon seit Jahren nicht vermisst habe!
 
Zwischen Spinnennetzen stosse ich auf viele meiner alten Projektberichte, mitsamt allen dazu gehörigen Unterlagen, worunter Teemarktstudien (Schwarz- und Kräutertee), die „Kräuter- und Gewürzdynamik auf dem europäischen Markt“, desgleichen über „Pot noodles“, Fertiggerichte, Snacks, Sossen, Suppen usf. Und dies alles soll ich jetzt in die Abfalltonne schmeissen? Ich zögere, denn fast jede Studie beschwört Erinnerungen herauf. Da und dort blättere ich ein wenig und werde richtig stolz darauf, was ich nicht alles während der letzten 15 Arbeitsjahre geleistet habe … Also weg damit!
 
Hinzu kommen unzählige Stapel von Kunst-&-Antiquitäten-Magazinen und Auktionskatalogen. Ich bündle sie für John. Er kann alle mitnehmen, soweit sie Platz in seinem Auto finden. Natürlich habe ich sie einst gelesen und dabei vieles gelernt und auch wieder vergessen.
 
Halt, diese muss ich behalten: eine Sammlung von alten „New Yorker“-Magazinen, allein schon wegen der schönen Titelillustrationen, die 1. „Cosmopolitan“-Ausgabe vom März 1972, die Lily in meinem Schuppen und unter vielen „Marie Claire“-Modejournalen eingelagert hat. Letztere verschwinden in der Tonne. Diese behalte ich wiederum: eine Sammlung von „Ridendo – Revue gaie pour le Médecin“, „La Vie Parisienne“, „Le Rire“ – alle aus den 20er- oder 30er-Jahren, artig bis pikant von bekannten Illustratoren aus der Zeit bebildert.
 
Auch habe ich viel zu viele Bücher gehamstert. Auf den Büchergestellen hat es einfach keinen Platz mehr. Sie jetzt in diesem Anlauf zu sortieren, frisst zuviel Zeit. So bleiben sie vorderhand dort liegen, wo sie sind.
 
Alte Bilderrahmen sind ebenfalls hoch gestapelt – jene, die ich eigentlich restaurieren wollte und nicht dazu gekommen bin. Nein, diese darf ich auf keine Fälle wegwerfen. Vielleicht gebe ich sie John mit.
 
Kreuz und quer auf den Gestellen finde ich altes Geschirr, darunter vieles aus dem 19. Jahrhundert. Einiges davon werde ich wohl wieder dort, wo ich sie gefunden habe, loswerden – und zwar auf dem Flohmarkt. Sie sind in der Zwischenzeit wertvoller geworden. Das will ich diesen Samstag tun, sofern es nicht regnet. Anderes kann ich im Ebay loswerden. Damit gewinne ich Taschengeld für „trouvailles“.
 
Auf Blachen auf dem Rasen habe ich das, was viele Leute verächtlich alten Kram nennen würden, ordentlich nach Kategorien aufgeteilt: 1. Zum Behalten, 2. Zum Verschenken. Die 3. Kategorie („Zum Wegwerfen“) hat schon eine Tonne überfüllt.
 
„Aha, was finde ich hier?“ bin ich schon wieder abgelenkt. Meine Sammlung von alten Kupferstich-Druckplatten, fein säuberlich verpackt, wie es Lily nur fertig bringt. Eigentlich habe ich sie nicht vermisst, aber ich rette sie dennoch ins Haus zurück, einfach weil sie mir noch immer gefallen. Nur werde ich Lily bitten, sie nicht wieder im Schuppen zu versenken, mit dem Hinweis, dass Kupferplatten keine Feuchtigkeit vertragen.
 
In einem Aktenschrank stosse ich auf viele meiner Manuskripte, die in meiner tiefen Pultschublade keinen Platz gefunden haben. Jetzt darf ich keinesfalls innehalten, sonst werde ich mit meiner Räumarbeit nie fertig. So lasse ich sie halt ungelesen im Schrank liegen. Ich werde sie gewiss herausfischen und während Winterabenden sichten, nehme ich mir vor. Aber bis dann habe ich wohl meinen Vorsatz vergessen. Ein „Schreiberling“, gleichwertig mit dem „tapferen Schneiderlein“, schreibt und schneidert weiter und lässt sich nicht zu sehr von seinen alten Texten (oder Stoffresten) ablenken. Hoffentlich enden sie nicht dereinst in der Tonne!
 
Zum Glück habe ich meine „Schätze“ auch mit Blachen abgedeckt. Schon seit 2 Tagen entladen sich nachtsüber gewaltige Gewitter. So sind sie einigermassen trocken geblieben.
 
Heute bin ich etwas besorgt. Wie viel davon kommt wieder in den Schuppen zurück? Ich muss hart mit mir sein, sonst wäre der Zweck der Übung umsonst. Eine weitere bange Frage: Wie lange wird es dauern, bis der gewonnene Freiraum wieder gefüllt ist? Ein Hamster wie ich kann vom Hamstern nicht lassen.
*
Ich muss mir schon etwas Selbsttherapie verschreiben, um wenigstens meine Hamsterexzesse einzudämmen. Gelingt mir das, wird Lily riesenfroh sein.
 
Das Internet hat schon einen gewaltigen Vorteil. Man stöbert dort viel Wissenswertes, das man braucht, schnell und einfach auf. Dazu braucht man nicht in alter Fachliteratur zu stöbern. Die wichtigsten Nachschlagwerke sind bei mir ordentlich unter Dach und Fach, worunter solche, die man im Internet nicht findet.
 
So vieles, das man einst als wichtig hielt, verblasst mit der Zeit. Das scheint mir ein gutes Richtmass zu sein, um sich von unnötigem Ballast zu befreien.
 
Die Retrospektive ist gewiss im Leben wichtig, solange sie nicht ausartet. In meinem Schuppen hat sich zu viel angesammelt, das zur überflüssigen Retrospektive verführt. Meine Geschäftsstudien wurden schliesslich bezahlt und nützen mir mit ihrer Vergangenheit nichts. Gegenwartsprobleme anzugehen, neue Kurzgeschichten und Aphorismen, sogar Romane zu schreiben ist viel unterhaltsamer, wiewohl auch dort ein gewisses Mass von Retrospektive mithält.
 
Dieses Blog habe ich geschrieben, obschon ich eigentlich weiter im Schuppen aufräumen sollte. Aber heute habe ich dazu einfach keine Lust. Es klingelt eben. John erscheint und wird seinen Teil aus den Blachen holen und wegkarren. So ein Fortschritt, verbunden mit dem Gefühl der Erleichterung.
 
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