Textatelier
BLOG vom: 26.09.2006

Tessin-Reise (4): Annäherungsversuch an Hermann Hesse

Autor: Walter Hess
 
„Nächst Büchern, Wein und Weibern weiss ich nur ein Vergnügen: Wandern.“
Hermann Hesse (1901)
 
„Das Leben hat soviel Sinn wie du selbst hinein gibst.“ Und wie war das beim deutschen Dichter Hermann Hesse (1877−1962), von dem dieses Zitat stammt? Von 1919 bis zu seinem Tod lebte er in Montagnola TI in der Nähe von Lugano, also die Hälfte seines Lebens. Dort gibt es im alten Camuzzi-Turm innerhalb des historischen Komplexes der Casa Camuzzi, laut Hesse die „Imitation eines Barock-Jagdschlosses“, ein kleines, aber höchst informatives Museum. Dort stehen der Schreibtisch und die Schreibmaschine Hesses; es gibt Briefe, Fotos, Texte und Malereien, welche das Leben und Denken dieser bemerkenswerten Persönlichkeit veranschaulichen. Die Malerei, die von allen möglichen Stilrichtungen geprägt und nicht immer höchstes künstlerisches Niveau erreichte, war für ihn eine Psychotherapie, eine Quelle von Heiterkeit und Ruhe.
 
Hesses Leben war ein ständiges Balancieren zwischen Geist und dem von der Natur geprägten Leben, ein Gegensatz, der irgendwie in eine Harmonie zu bringen war und der auch sein literarisches Schaffen prägte. Philosophie und Psychoanalytik mischten sich ein, weil Hesse ein recht eigenwilliger Mensch war und die daraus entstehenden Schwierigkeiten überwinden musste.
 
Wir begaben uns also auf die Spuren von Theodor Heuss, Thomas Mann und Bertolt Brecht, die Hesse in Montagnola ebenfalls besucht hatten. Das Museum, das im Juli 1997 eröffnet worden ist, befindet sich mitten im Tessiner Dorf, wo es genügend Parkplätze gibt. Dort ist auch das Herzstück des gut ausgeschilderten Hermann-Hesse-Wegs, der die wichtigsten Stationen von Hesses Tessiner Jahren erfasst.
 
Im Camuzzi-Komplex mietete Hesse im Alter von 42 Jahren eine bescheidene Wohnung, und hier begann er nach der Trennung von der Familie und den Wirren des Ersten Weltkriegs wieder zu schreiben, ein Zeichen des Aufblühens. Hesse: „Und Montagnola war damals ein Dörfchen, zwar kein ärmliches und geducktes wie manches andere in der Gegend, aber doch ein bescheidenes, kleines und stilles ...“ Im Camuzzi-Haus entstanden Werke wie „Klingsors letzter Sommer“, „Siddharta“, „Narziss und Goldmund“, „Der Steppenwolf“ und zahlreiche Gedichte, Erzählungen und Aquarelle. Die Wohnung war etwas klein und vielleicht auch feucht (ungesund), und so zog Hermann Hesse 1931 mit seiner 3. Frau Ninon aus dem engen Dorf an eine sonnige Lage, in die Casa Rossa, das rote Haus, dessen Fassade vom heutigen Besitzer weiss gestrichen worden ist.
 
in diesem roten Haus konnte er sich im Garten erholen, beim Jäten zu neuen Erkenntnissen gelangen, atmen, wenn er nicht ausnahmsweise im „Verenahof“ in Baden AG am Kuren war. Das Ausreissen von wildwachsenden Pflanzen („Unkraut“) erachtete er als ein sich ständig erneuerndes Ritual. Die vom Schreiben schwarzen Finger erhielten in der Natur rote oder blaue Färbungen. Das und die wunderschöne Landschaft der Collina d’Oro mit ihren einzigartigen Lichtverhältnissen und dem Blick bis nach dem italienischen Porlezza am nordöstlichen Luganersee-Ende befreiten seinen Geist, und unter solchen Bedingungen konnte auch sein reifes Alterswerk „Das Glasperlenspiel“ heranreifen (1943). Schreiben war für ihn Schwerarbeit, durch die häufige Verwendung impressionistischer Bilder ein Malen mit Buchstaben. Hesses Sprache ist schlicht, manchmal sentimental, und seine Texte sind von Lebensweisheiten durchdrungen.
 
Ich lese dieses vielschichtige, in verschiedenen Zeitaltern spielende Werk „Glasperlenspiel“ zurzeit gerade. Es ist Rückblick und Utopie, und ich erlabe mich daran, dass hier westliche und östliche Weisheiten vereinigt, ja vermengt sind; Hesse kannte Indien und China. Ob es in seiner scheinbaren Verworrenheit sein bestes Werk ist, weiss ich nicht; mir gefallen seine anderweitig niedergeschriebenen klaren Gedanken besser.
 
Wer das Abendland aus der Ferne, etwa aus der Sicht des Nahen und des Fernen Ostens, betrachtet und beurteilt, kommt zu vollkommen neuen Einsichten. Ich selber habe meine kritische Haltung gegenüber der überheblichen westlichen Kultur vor allem bei meinen vielen Reisen durch asiatische Länder gewonnen – es liegt nicht allein an der Distanz, sondern vor allem an den Vergleichsmöglichkeiten. Der Wert unterschiedlicher Kulturen zeigt sich erneut – weil nur dadurch eine vergleichende Betrachtung überhaupt erst möglich wird. Und die Unzerstörbarkeit des Geists, von der Hesse überzeugt ist, tröstet über die heutige Bildungsmisere hinweg. Vor einem stillen Geist kapituliere das ganze Universum, war seine Überzeugung.
 
Besuche waren für ihn ebenso störend wie Auszeichnungen mit ihren Festivitäten – an der Verleihung des Literatur-Nobelpreises am 19. November 1946 nahm er nicht teil. „Bitte keine Besuche“ stand an seinem Garteneingang, und einer seiner 3 inzwischen verstorbenen Söhne, Bruno, sagte einmal, die an sich erwünschten Besucher hätten sich davon abhalten lassen, die unerwünschten weniger. Insgesamt betrachtete der Schriftsteller die Menschheit als orientierungslos, dumm und gemein, wobei er aber die Tessiner Bevölkerung immer wieder zu loben pflegte. Ihm hatte es die konfuzianische Weisheit angetan, wonach das Leben jedes Menschen ein Weg zu sich selbst sein muss. Es geht um die Treue zu sich selber und um Güte zu anderen. Eine gewisse Verachtung für das Menschenverhalten beeinträchtigte sein moralisches Verhalten für diese Spezies nicht.
 
Wir hatten Glück, da zur gleichen Zeit wie wir gerade eine Gruppe von literarisch Interessierten im Museum war, die versierte Museumsmitarbeiterin Lucia Umiker das Leben Hesses vorstellte und freundlicherweise nichts dagegen hatte, dass wir ihr zuhörten. Sie erzählte unter anderem anschaulich, wie Hesse in seinem „Liebesmärchen“ auf die Dualität aller Dinge aufmerksam machte, dieses von ihm illustrierte Buch um 1923 wohl 100 Mal abschrieb und zeichnete, für 200 Mark das Stück verkaufte, an sich lauter Unikate. Er dachte viel über das Schreiben und das Lesen nach und plädierte für ein konzentriertes Lesen; denn ein gedankenloses Lesen sei wie das Spazieren mit verbundenen Augen durch die Landschaft. Er war ein leidenschaftlicher und aufmerksamer Spaziergänger und Wanderer.
 
Auf Wunsch kann im Museum auch der vergilbte, verblasste, aber dennoch sehenswerte Film „Ein langer Sommer“ von Werner Weick betrachtet werden, der tiefe Einblicke in die Mentalität Hesses gibt. So wollte Hesse selbstständig leben. Sätze, die mit „Du sollst ...“ beginnen, mochte er nicht hören. Er wollte selber entscheiden und war deshalb schon in jungen Jahren kaum zu führen – ein Unangepasster. Er lebte gern, vor allem für seine geliebte literarische Arbeit, und wollte gern sterben. Das ist gut so; denn man stirbt seiner Ansicht nach stückchenweise – jeder Zahn und jeder Knochen nimmt einzeln Abschied. Und am Morgen des 9. August 1962 stand er nicht mehr auf, ging nicht mehr zum Frühstück zu seiner Frau Ninon; er war an einem Hirnschlag gestorben; die eigentliche Ursache war meines Erachtens vielleicht ein Wassermangel im Körper, worauf auch der Todeszeitpunkt (frühmorgens) hindeutet. Von einer gesundheitsbewussten Lebensweise wusste er wenig.
 
Wir besuchten einige Stationen des Hesse-Wegs, blickten von der Ra Cürta zum San Salvatore und zu den dahinter gestaffelten Bergen und zum See, wie es Hesse häufig getan haben mag, wanderten der Casa Rossa entgegen, die heute in Privatbesitz ist und nur aus Distanz von unten betrachtet werden kann, vertieften uns in die stilvollen Schrifttafeln und durchstreiften den Wald mit seinen Kastanienbäumen, Platanen und Akazien an der Via ai Cavetti und landeten im einfachen Grotto ticinese „Circolo Sociale die Montagnola“, unmittelbar neben Hesses Lieblingsgrotto „Cavicc“. Dort, im weniger berühmten Gasthaus, das vor allem von Eingeborenen besucht wird, bestellten wir aus der Küche von Paola Codoro ein Steinpilz-Risotto, das in Bezug auf Frische, Duft und Geschmack sowie Pilzmenge die höchsten Ansprüche erfüllte. Dazu tranken wir einen weissen Merlot. In diesem ursprünglichen Restaurant mit den einfachen Tischen und Stühlen mit den gerundeten Lehnen sowie mit den rot karierten Wachstischtüchern erlebten wir ein Stück urtümlichen Tessins, wie es schon zu Hermann Hesses Zeiten gewesen sein mag – und wir hatten das Gefühl, etwas Gutes aus diesem Tag gemacht zu haben.
 
Abschliessend fühlten wir uns noch moralisch verpflichtet, auf dem Friedhof von San Abbondio/Gentilino gegenüber der Kirche mit den hohen, schlanken Zypressen die Grabstelle Hesses zu besuchen. Es ist einer jener protzigen Marmor-Friedhöfe, wie man ihnen oft auch in Italien begegnet. Einzelne Familiengräber sind zu monströsen Denkmälern ausgewachsen, und daneben deckt die Wucht von Marmorplatten jedes Leben zu. Da atmet wirklich nichts mehr. Ich ertrage diesen Geltungsdrang über den Tod hinaus nicht und erhalte unverzüglich Fluchtgedanken. Doch Hermann Hesses Grab ist nur von einem einfachen Granitstein gekennzeichnet, auf dem ausschliesslich sein Name, das Geburts- und Todesdatum stehen, umsäumt von üppig blühenden Sträuchern. Seitlich davor liegt, wie ein Türvorleger, die Grabplatte von Ninon. Wahrscheinlich ist ihre Rolle für das Wohlbefinden Hesses unterschätzt worden.
 
Hesse braucht kein Monument aus Stein. Sein Werk, in einer 20 Bände umfassenden Gesamtausgabe von Suhrkamp und Insel zusammengefasst, ist es, das ihn immer in Erinnerung ruft. Und das genügt vollauf und entfaltet genügend Wirkung.
 
Angaben zum Hesse-Museum in Montagnola
Eintrittspreis: CHF 7.50
Öffnungszeiten: Vom 01.03. bis 31.10. Montag bis Sonntag 10.00−18.30
Vom 01.11 bis 28.02. Samstag-Sonntag 10.00−17.30 Uhr
 
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