Textatelier
BLOG vom: 09.10.2006

Goldau SZ: Im Urwald mit den riesigen Nagelfluh-Blöcken

Autor: Walter Hess, Biberstein CH
 
Wenn die Folgen des Goldauer Bergsturzes vom 2. September 1806 nicht so dramatisch gewesen wären (457 Todesopfer in den 3 Dörfern Goldau, Busingen und Röthen – auch ein Teil von Lauerz wurde verschüttet, und 323 Stück Vieh kamen um; 14 Personen konnten gerettet werden), man müsste der Natur dankbar sein: Der Schuttwald im Bergsturzgebiet ist eine Natur-Urlandschaft, die überwältigende Bilder bietet. Wenn man das Gebiet als Friedhof bezeichnen wollte, wäre diese die grandioseste Ruhestätte, die ich je gesehen habe.
 
In diesem wilden, romantischen Wald liegen Nagelfluhbrocken, die so gross wie ein Einfamilienhaus, ja wie ein Mehrfamilienhaus sind. Sie schufen Geländekammern, Nischen, Höhlen, Unterschlüpfe für Wildtiere und sind zum Teil mit Farnen und Moos, aber auch mit Wegerich, Eibisch, Malve und Weissklee bewachsen. Dazwischen stehen Sträucher wie Brombeeren, Laub- und Nadelbäume, sogar Kastanienbäume. Die Bäume winden ihre Wurzeln um die Steine, um Halt zu finden, und Waldreben, die wie Lianen aussehen, vervollständigen den Urwald-Eindruck. Weiter oben dominieren Fichten (Rottannen) und Waldföhren, dann Wald- und Bergföhren das Bild. Der Wald ist manchmal dicht, manchmal licht. 1999 hat der Sturm „Lothar“ für weitere Belebungen wie Lichtungen und Totholz gesorgt. Bei unserer Exkursion drang gelegentlich die Sonne durchs Geäst. Die ständig wechselnden Lebensräume bieten mehr als 600 Pflanzen Existenzmöglichkeiten, sogar Orchideenarten wie Frauenschuh, Fliegen-Ragwurz und Langblättriges Waldvögelein.
 
Schutt mit Nagelfluh
Als Schutt wird nicht nur Abfall, sondern auch eine künstliche Aufschüttung, also das Aufgeschüttete, bezeichnet. Deshalb trägt der unterste Teil des Waldes im Bergsturzgebiet den Namen Schuttwald. Weil dort und wenig weiter oben die grössten Nagelfluhblöcke herumliegen, ist die eindrücklichste Felsen-Landschaft entstanden, die man sich denken kann. Aber auch weiter oben gibt es immer wieder Riesenbrocken (Blockschutt), die glücklicherweise während des Bergsturzes, der genau genommen ein Bergrutsch (ein Sturzstrom mit seinen enormen physikalischen Kräften) war, zum Stillstand gekommen sind. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 9. September 1806 beschrieb die bis dato grösste Naturkatastrophe der Schweiz wie folgt: „Viele centnerschwere Steine vor sich her durch die Luft (...) schleudernd, trieb der viele Ellen hohe Erdstrom mit Blitzesschnelle über die (...) mit Wohnungen übersäte Ebene an den gegenüber liegenden Rigi-Berg, drückte den Schutt mehrere tausend Fuss hoch den Berg hinauf, zersprengte da die dicksten Bäume in Splitter, weit herum alles verheerend und überschüttend.“ Im Lauerzersee wurde davon eine Flutwelle ausgelöst; rund 6,5 Quadratkilometer fruchtbares Land mit 102 Häusern, 220 Ställen und Scheunen sowie 5 Kirchen und Kapellen wurden unter den Schuttmassen begraben.
 
Die Nagelfluh, die im Bergsturzgebiet am Rossberg, der bis zu einer Höhe von rund 1500 m ü. M. hinaufreicht, wird auch als „natürlicher Beton“ bezeichnet. Sie ist nach der Auffaltung der Alpen entstanden, als Flüsse grosse Mengen von Steinen, Kies und Sand gegen das Mittelland verfrachteten. Als die Strömung nachliess, blieb das Gestein liegen. Das feine Material (Sand) füllte die Ritzen zwischen den Steinen, wurde allmählich hart wie Zement und verkittete die Steine zu Nagelfluh. Wenn Sand sehr stark zusammengepresst wird, entsteht bekanntlich Sandstein.
 
Der 10ni-Weg
Goldau ist als wichtiger Bahnknotenpunkt (der Bahnhof Arth-Goldau liegt im Dorfzentrum von Goldau) sehr gut mit der Bahn erreichbar; hier treffen die Linien Basel−Luzern und Zürich−Zug zusammen, die dann dem Gotthard zustreben. Wer mit dem Auto anfährt, kann das Fahrzeug beim Tierpark (für 50 Rappen pro Stunde) oder bei den nahen Sportanlagen an der Steinerbergstrasse abstellen. Östlich der Häusergruppe auf der gegenüberliegenden Strassenseite am Waldweg beginnt der auffällig gelb markierte 10ni-Weg, der ziemlich genau nordwärts in den Schuttwald und weiter hinauf ins Bergsturzgebiet führt.
 
Der 10ni-Weg ist wirklich „s’Zähni“, wie man in der Schweizer Mundart sagt – er ist die Zehn, also die Spielkarte mit den 10 Zeichen, das Nonplusultra. Er ist leicht begehbar, windet sich über und neben Stock und Stein. Und er ermöglicht viele Abstecher nach links und rechts, oft von Brombeerranken behindert, wo man neue Naturkulissen entdeckt. Man muss hier einfach die gebührende Vorsicht walten lassen. Ich brauchte am 28. September 2006 viel Zeit, blieb stehen, beobachtete Felsen, die manchmal in der Luft zu hängen scheinen, nahm Bilder in mich auf und setzte meine Digitalkamera in Betrieb. Die Arnika hatte gerade ihre Blütezeit, setzte goldgelbe Farbtupfer. Sie liebt harte Bedingungen auf steinigen Gebirgsböden; nach Unfällen leistet sie als Heilpflanze (Tinktur) beste Dienst, erleichtert den Überlebenskampf.
 
Grosse Teile des Bergsturzhangs sind seit dem 27. September 1965 im kantonal-schwyzerischen Pflanzenschutzgebiet; die Grenzen sind mit rot-weissen Pfählen bezeichnet. im oberen Bergsturzgelände ist 1996 ein 15 Hektaren umfassendes Sonderwaldreservat eingerichtet worden, Massnahmen, die sich geradezu aufdrängten.
 
Das Bergsturzgebiet von 2005
Beim Aufstieg auf den Zähniweg überquert man 2 Mal befahrbare Waldstrassen, die nach Osten in die Gebiete Untere beziehungsweise Obere Grisselen führen; auf die entgegengesetzte Seite steuern sie dem Weiler Härzig zu. Wir stiegen bis zu zur 2. Querstrasse auf der Höhe der Rossbergweid auf. Dort befindet man sich mitten im kleineren, aber immer noch ausserordentlich eindrücklichen Bergsturzgebiet vom 22. und 23. August 2005, als bis zu 150 000 Kubikmeter Fels und Schutt bis ins Tal gelangten; dieser Rutsch war nach einer längeren Regenphase überraschend niedergegangen. Hier liegen Felsenstücke, Steine aller Grössenordnungen auf lehmiger Erde (Mergel) und Sand, durchsetzt von abgestorbenen Bäumen und umflossen von klaren Bächen.
 
Man erhält hier eine kleine Ahnung davon, wie der riesige Rest des Bergsturzgebietes vor 200 Jahren ausgesehen haben mag, bevor der Bewuchs mit Pflanzen einsetzte – eine ungeordnete Steinbruch-Landschaft voller Wucht. Sie wird von Wissenschaftlern überwacht, damit möglichst rechtzeitig auf Gefahrensituationen aufmerksam gemacht werden kann.
 
Die Gefahrensituation erhöht sich jeweils nach andauerndem starkem Regen. So waren die Jahre von 1806 sehr niederschlagsreich gewesen, und während 2 Wochen hatte es fast ununterbrochen geregnet. An einem Regennachmittag gegen 17 Uhr begann das Debakel. Goldau und viele Bewohner wurden unter einer bis zu 100 Meter dicken Schuttmasse begraben. Schon in vorgeschichtlicher Zeit hatte es hier etwa 20 Abbrüche gegeben; die Abrissbänder befanden sich jeweils auf über 1000 Meter Höhe. Der erste historische Bergsturz am Rossberg soll sich 1222 zwischen Goldau und Steinerberg ereignet haben, wobei auch das Dorf Röthen zerstört wurde. Damals glitten ebenfalls Nagelfluhplatten auf einer glitschigen Mergelunterlage ab; der genaue Zeitpunkt lässt sich nicht mehr feststellen.
 
Der Natur- und Tierpark
Gegen Mittag waren wir hungrig im Dorf Goldau zurück. In der Pizzeria „La Calabrissella Tallarico“ an der Parkstrasse in der Nähe des Tierparks assen wir hausgemachte Gnocchi mit einer Gorgonzolasauce, die wirklich delikat schmeckten. Der Wirt stammt aus Kalabrien, seine nette Frau aus Serbien, und die beiden geben sich Mühe, die Gäste zufriedenzustellen.
 
So waren wir denn für den Besuch im Tierpark Goldau gestärkt, der nach der Besichtigung des Bergsturzgebiets eigentlich ein Muss ist (Eintrittspreis: 16
 CHF); der Park ist jeden Tag ab 9 Uhr offen. Denn hier, wo das Bestreben der Bildungsvermittlung offensichtlich ist, erhält man eine Fülle von grundlegenden Informationen über die Bergstürze, aber auch über die einheimische Geologie und die Tierwelt. Diesen Park gibt es seit November 1925 (4 Jahre vor der Gründung des Zoologischen Gartens Zürich) – damals wurde er mit 4 Hirschen aus dem Stadtpark Lugano eröffnet. 10 Jahre später war der Bestand auf fast 100 Tiere angewachsen.
 
Wir mischten uns also nach dem Waschbärengehege in der Freilaufzone unter die Sikahirsche, die den Rehen ganz ähnlich sind, innerhalb einer vom Bergsturz gestalteten Landschaft, einem geschickt belebten Naturjuwel. Der Tierpark befindet sich auf dem Bergsturz-Schuttkegel, der eine Ahnung an die gewaltige Schussenergie, wie sie Bergstürzen innewohnt, aufkeimen lässt. Die Parkanlage umfasst rund 17 Hektaren, später sollen es durch den Einbezug des Gebiets Grosswiyer 34 ha sein. Hier leben Wölfe, Bären, die demnächst im Rahmen der Erweiterung des Tierparks eine grosse gemeinsame Anlage bekommen sollen, sodann Hirsche, Luchse und Greifvögel wie Bartgeier und Schleiereulen, die aus nächster Nähe zu beobachten sind. Insgesamt sind es rund 1000 einheimische und europäische Wildtierarten, die möglichst artgerecht gehalten werden. Sogar an Mäuse und Insekten hat man gedacht – sie alle haben ihre Biotope erhalten (Asthaufen und Insektenhäuser mit vielen Hohlräumen), ein wirklich einzigartiger Erlebnisraum mit Weihern, Rastplätzen, einem Informationspavillon und einem Restaurant. Der neue Panoramaplatz mit dem Wasserspiel wirkt in dieser Urlandschaft etwas gekünstelt.
 
Das Bergsturzmuseum
In der Nähe des Tierpark-Eingangs an der Parkstrasse in Goldau ist das 1956 gegründete kleine, aber höchst informative Bergsturzmuseum, in dem neben vielen Fundgegenständen wie 3 Kirchenglocken viele Zeichnungen und Grafiken, Fotos, Zeitungsartikel, Bücher, Reliefs von Joseph Martin Baumann usf. studiert werden können. Der Bergsturz ist hier in einzigartiger Weise dokumentiert. Die nette reife Dame an der Kasse (3 CHF Eintritt, Kinder mit Erwachsenen gratis) war gern zu allen gewünschten Auskünften bereit, stempelte das Eintrittsbillett ab, weil dieses im Jubiläumsjahr einen Sammlerwert habe, wie sie sagte.
*
Der Exkursionstag hat alle meine hochgesteckten Erwartungen übertroffen. Goldau machte mir Eindruck. Einen bleibenden.
 
Literatur
Eine umfangreiche Bergsturz-Literatur enthält eine Fülle von Detailangaben zu Arth-Goldau SZ, zu den Bergstürzen am Rossberg. Für diesen Exkursionsbericht wurden folgende neue Publikationen zu Rate gezogen:
 
Hürlimann Markus: „Der Goldauer Bergsturz 1806. Geschichte der Naturkatastrophe und Betrachtungen 200 Jahre danach“, Schwyzer Hefte 89. Herausgeberin: Kulturkommission Schwyz 2006.
Schmid, Margrit Rosa: „Wenn sich Berge zu Tal stürzen. Der Bergsturz von Goldau 1806“, Verlag SJW, Schweizerisches Jugendschriftenwerk 2006.
Ortsplan „Arth/Steinen/Lauerz/Steinerberg“, Rigi Bahnen AG, Goldau www.rigi.ch
 
Dank
Der Organisation „Arth-Goldau Tourismus“ www.arth.ch (Silvia Brunner) danke ich für die wertvollen Unterlagen, die mir bei der Exkursionsplanung beste Dienste leisteten.
 
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