Textatelier
BLOG vom: 01.12.2006

Ein Besuch im Emmental: Milch und Käse bis über die Ohren

Autor: Walter Hess, Biberstein CH
 
Selbst in der Schweiz ist das Emmental vor allem wegen des Emmentalers bekannt, einem heute grosslöchrigen Käse, der je nach Reifegrad von mild bis rezent schmeckt. Genau so wie man diesen weltberühmten Käse, der erst am Ende des 19. Jahrhunderts zu seinen Löchern kam und bis dahin kaum vom Greyerzer zu unterscheiden war, gelegentlich geniessen sollte, müsste man es eigentlich auch mit der Hügellandschaft des Emmentals tun.
 
Der Emmentaler Käse, wie es ihn schon im 13. Jahrhundert gegeben haben soll, wird in aller Welt nachgeahmt; aber das Emmental als Landschaft in den Talböden der Ilfis und der Emme nachzukonstruieren, ist unmöglich. Dafür brauchte es einst riesige Gletscher und Bäche, und Bauern wirkten dann zusammen mit ihrem Vieh und den Meistern im Holzbau als Kosmetiker.
 
Der Schweizer Käse wurde ursprünglich lange ausschliesslich auf den Alpen hergestellt, um die Milch, die selbst die wackeren Sennen nicht restlos selber trinken konnten, haltbar zu machen. Die erste Talkäserei entstand 1813 in Kiesen (nordwestlich von Thun), wo heute das Nationale Milchwirtschaftliche Museum untergebracht ist.
 
Wir sind am Freitag, 24. November 2006, letztmals durchs Emmental gefahren, von Langenthal über Huttwil in Richtung Affoltern i. E. und haben uns an dieser urtümlichen, silofreien Landschaft mit ihren markanten Häusern und Dörfern und häufigem Blick auf Voralpen und die nahen Berner Alpen erlabt. Auch wenn hier die Zeit nicht stehen geblieben ist, spürt man doch noch einen Hauch der Zustände, wie sie Jeremias Gotthelf beschrieben hat, zum Beispiel in seinem um 1850 entstandenen humorvollen Werk „Die Käserei in der Vehfreude“ mit der besonderen Berücksichtigung der Vorgänge in den Käsereien. Denn das Emmental ist ein Milchland geblieben; Viehfreunde und Viehfreuden und -leiden gibt es dort heute wie damals.
 
Originalton Gotthelf im 2. Vehfreude-Kapitel über die „Naturgeschichte der Käsereien“: „Mit den Kühen mehrte sich die Milch, denn es greift alles ineinander und eines entsteht aus dem Andern auf gar seltsame Weise und oft so fein, dass das menschliche Auge die Fäden nicht einmal sieht, viel feiner als Kühe und Milch. Man butterte auf Leib und Leben; aber die Butter wurde damals nicht wie jetzt nach Holland ausgeführt, eingesalzen als Schiffsanken gebraucht. Wie wenig die Butter galt, bezeugt der Vers an einem Türli: ‚O Mensch, fass in Gedanken, drei Batzen gilt ds Pfund Anken!’ Man hatte Milch bis über die Ohren, manches Weib ertrank fast darin, manches Weib schüttete so viel ins Mistloch, dass wenn es sie im Fegefeuer hätte, es manches Jahr seinen Durst ziemlich löschen könnte. Händel wie damals von Michelstag bis Fastnacht, wo die anständigen Schweine aus bessern Häusern fast von lauter Nidle (Sahne) lebten, werden sie kaum mehr kriegen, solange das Pfund Anken mehr als drei Batzen gilt.“
 
Die behäbigen, in warmen Zeiten mit üppigem Blumenschmuck eingefärbten Bauernhöfe, Ausdruck von Wohlbehagen und Gemütlichkeit, sowie die Käsereien sind Zeugnisse für diesen Milchreichtum – und die wohlgenährten, stämmigen Menschen sind es auch. Die Milch ist noch heute das wichtigste landwirtschaftliche Erzeugnis der Schweiz; jährlich werden den Kühen davon 3,8 Milliarden Liter weggenommen; davon wird etwa die Hälfte in Käse umgewandelt, an dem keinerlei Mangel besteht.
 
Wer auf seine Pfunde, ja Kilos schaut, der macht gescheiter einen Umweg ums Emmental herum. Das Essen ist dort nämlich üppig, die Portionen sind riesig. Besonders die voluminösen luftigen und leichten „Ämmitaler Merängge“ (Meringues), die zusammen mit den Dreitausernden ähnlichen Bergen von frisch geschlagenem frischem Rahm serviert werden und nicht klebrig sind, sind ein wuchtiger Aspekt der gastronomischen Emmentaler Gemütlichkeit und des Wohlbehagens. Sie bestehen aus 2 Teilen Eiweiss und 1 Teil Zucker und werden bei niedriger Wärme etwa 3 Stunden gebacken, bis sie fest sind. Man kann dann die Restwärme nach dem Brotbacken noch ausnützen.
 
Im Landgasthof „Hirschen“ an der Strasse Affoltern i. E.−Burgdorf in CH-3413 Kaltacker (www.hirschenkaltacker.ch) haben meine Frau und ich zusammen 1 Portion bestellt, ein weisses, zerfurchtes Bergmodell mit exotischen Früchten wie blauen Trauben und der orangefarbenen Andenfrucht Physalis in ihrem aufgeblasenen Fruchtkelch schön garniert. Die Physalis wirkt ja schliesslich gegen Rheumatismus und Gicht – den Folgen einer Übermast mit tierischen Eiweissen ... Dieses Dessert war exotisch-urchig wie die Lamas und die Wasserbüffel, die ebenfalls ihren Weg ins Emmentalerland gefunden haben.
 
So wissen sich also die weltoffenen Emmentaler immer zu helfen. Am Nebentisch im „Hirschen“ klopften 3 ältere, gemütlich paffende Männer jenseits des blöden Rauchverbots in Landbeizen im Pensionsalter bei einem Glas Wein (und nicht etwa Milch) einen Jass; eine Mitspielerin aus ihrer Generation hatte etwas Alkoholfreies bestellt. Die Dame sass etwas schräg im Stuhl und streckte das linke Bein von sich; wahrscheinlich machte ihr das Biegen des Knies Mühe. Aber aufmerksam und klar im Kopf war sie. Als einer der Jasser das Banner einmal versehentlich mit 20 statt 10 Punkten zählte und von 56 auf 76 sprang, griff sie sofort berichtigend ein. Der Fehler war behoben. Und der Zähler nahm einen Schluck Weissen aus dem Stielglas.
 
Besuch in der Schaukäserei
Die Emmentaler sind zur Exaktheit erzogen. Die Milch muss gut und sauber sein, und das Käsen ist eine Kunst, die eine ausserordentliche Sorgfalt erfordert. Wir hatten das soeben in der Emmentaler Schaukäserei in CH-3416 Affoltern gelernt. In einem nach traditionellem Baustil errichteten Landwirtschaftsgebäude ist diese moderne Käserei untergebracht, in der täglich frische Milch aus der Region zu Käse und Butter verarbeitet wird.
 
Die Schaukäserei ist jederzeit frei zugänglich, 365 Tage im Jahr. Der Besucher kann sich zuerst bei einem Film in die Geheimnisse der Käseherstellung einweihen lassen, und von einer Galerie aus darf er anschliessend mit Kennermiene die Käseherstellung mitverfolgen. Er erlebt das beruhigende Drehen der Rührwerke in der frischen Rohmilch, die mit Wasser, Speisesalz, Lab und ausgewählten Bakterienkulturen versetzt ist und allmählich zu Käse wird, und dann von einer rotierenden Käseharfe bespielt wird. Zusatzstoffe wie Konservierungsmittel sind ebenso verboten wie gentechnisch veränderte Organismen. Das imponiert mir. Und zudem dürfen die Kühe nicht mit Silofutter oder Tiermehl gefüttert werden.
 
Bei der Fahrt durchs Emmental war mir aufgefallen, dass es bei keinem Bauernhof ein Futtersilo gibt; auch lagen keine der in weissen Plastik verpackten Siloballen herum – ein Gewinn auch fürs Landschaftsbild. Erst gegen Heimiswil−Burgdorf (südwestlich der Lueg) tauchten solche auf. Wenn ein Tropfen Silomilch versehentlich in ein Käsekessi kommen würde, wäre die gesamte Milchmenge für die Käseherstellung unbrauchbar; es käme zu einem Aufblähen, zu Fehlgärungen. Die Löcher würden zu Höhlen.
 
In einem uralten Nachbarhaus, dem Küherstock von 1741, geschieht die Käseherstellung über dem offenen Feuer, und etwas Flugasche trägt zum Geschmack des Produkts bei; hier entsteht der Stöcklikäse, an dessen Produktion sich auch Besucher unter kundiger Führung beteiligen können. In den niedrigen Wohnräumen erlebt man, unter welchen Umständen man einst lebte.
 
Auch in der Schaukäserei sind alte Gerätschaften wie Zentrifugen, Gebsen (grosse runde Schalen aus Holz und mit Holzreif oder Aluminium) und alte Holzmodelle für die Käse- und Butterherstellung zu sehen: Milchmeichter, Labhäfen, Schlagflügel fürs Butterfass usf. Wir waren dann überrascht, dass in einem Untergeschoss noch Buttermödeli mit Gewichtsangabe und Blumenschmuck (ein Flachrelief) mit Hilfe einer Holzform von Hand hergestellt und ebenso verpackt wurden. Wir haben von dieser ausgesprochen butterig schmeckenden Delikatesse eine gehörige Portion heimgenommen und erfreuen uns noch täglich daran. Im Laden der Schaukäserei mit professioneller Beratung kann man die Käsesorten degustieren und kaufen.
 
Zum Käsekaufen kann man sich von Gotthelf ausbilden lassen, auch wenn die alten Verkäufertricks ausgestorben sind und im erwähnten Laden alles redlich zugeht. Blicken wir nochmals zurück in die „Vehfreude“:
 
„Indessen, die Käshändler sind sozusagen auch Menschen und dazu eben nicht dumm. Sie meinten nicht, dass man das, was man aushöhne, als könnte man Misthaufen und Jauchelöcher vergiften damit, ja selbst junge Zürcher unter zwanzig Jahren, ganz von der Hand weisen müsse, wenn irgendwie Vorteil daraus zu ziehen sei. Sie bohrten hier und da mit ihren Instrumenten einen der Käse vorsichtig an, betrachteten, ob er Löcher hätte, kosteten unter schrecklichen Gebärden ein kleines Stücklein, spuckten es dann klafterweit vom Leibe, liefen eilends zum nächsten Brunnen, um das Leben zu retten, und überliessen den Käsbauern die Mühe, den Zapfen sorgfältig wieder ins Loch zu schieben. Um die Käse zu probieren, bohrt man nämlich einen Zapfen heraus, an demselben sieht man Farbe und Löcher, die Spitze haut man ab und versucht den Geschmack, den Rest stösst man wieder ins Loch, so dass der Käs wieder ganz wird. Die Käsehändler haben ihre eigenen Bohrer und bohren, wo sie wollen, denn sie kennen den Kniff gar zu gut, in magern Käse Löcher zu bohren, sie dann mit Zapfen von fettem Käse auszufüllen, beim Verkauf dann mit kundiger Hand die fetten Zapfen aus den magern Käsen zu ziehen und sie auf diese Weise für fett zu verkaufen, wie es von den mit Käs im Lande Herumhausierenden oft zu geschehen pflegt. Hier und da nahmen sie fast wie um Gottes willen und um schlechten Preis einzelne Käse ab, etwas wurde mit Angst und Not Wirten im Lande abgesetzt, den Rest konnte man selbst essen.“
 
Heute sind die Preise in der Schaukäserei kaum noch verhandelbar. Zu dieser Touristenattraktion mit Realitätsbezug gehört ein gutes Restaurant, das viel Käse weiterverarbeitet, aber auch andere einheimische Spezialitäten zu anständigen Preisen zubereitet. Man kann dort einen heissen Käsekuchen mit einem Vollkornteig oder sogar einer grillierte Emmentaler Käsewurst neben viel anderem wie einem „Suure Mocke“ (Rindfleisch von der Schulter aus eine Rotwein/Rotweinessigmarinade) geniessen, ohne den Tisch hungrig verlassen zu müssen.
 
Gleich nebenan ist gleich der Mätteli-Beck. Dort liess ich mich dazu hinreissen, einen riesigen Nussgipfel mit einer üppigen Haselnussfüllung für 8,50 CHF zu kaufen, der über ein Pfund schwer ist (typisch Emmental) und den wir in tagelanger Dessert-Schwerarbeit genüsslich bewältigt haben. Wir haben das andere Ende gestern erreicht.
 
Auf der Lueg
Ein Verdauungsspaziergang auf die Lueg (887 m ü M.), dem Burgdorfer Hausberg auf Boden der Gemeinde Affoltern im Emmental, drängt sich dann förmlich auf. Dabei erhält man einen physisch spürbaren Eindruck von den oft stotzigen Hängen.
 
Auf der Lueg steht eine wuchtige Steinsäule (wiederum) mit Flachreliefen für die 1918 an der Spanischen Grippe gestorbenen Berner Kavalleristen. Sie ruhen im Emmentaler Frieden. Die Lueg war ein Mobilmachungsplatz für die Emmentaler und Oberaargauer Soldaten. Von dort oben ist die Aussicht übers Emmental und die Alpen prächtig, ein Aspekt zur Stärkung der Vaterlandsliebe und damit des Verteidigungswillens.
 
Während unserer Kurzwanderung lag ein bläulicher, leicht milchiger Dunst über der spätherbstlichen Landschaft. Genau wie es sein muss. Wir folgen dem Wanderweg ostwärts zuerst durch den Luegwald oberhalb Heiligenland bis zum einsamen Hornusserplatz, drehten nach Süden und wanderten zum Junkholz hinunter und fanden dann auf dem unteren Luegweg mitten durch eine belebte Viehweide zurück zum Parkplatz unterhalb der Lueg. Eine schwarz-weiss gefleckte junge Kuh des aus Nordamerika eingekreuzten Holstein-Typs, der mein Hemd im Blau, wie es für Älplerblousen üblich ist, offenbar über alle Massen gefiel. Das hochgewachsene, schlank anmutende Tier, begleitete mich, wollte mit seiner rauen Zunge an mir lecken; ich empfand das als etwas aufdringlich, was ich ihm denn auch unverblümt ins Gesicht sagte. Die Kuh drehte sich beleidigt um, und ich durchschritt das Gattertor, ohne ihr etwas nachzutragen.
 
Auskünfte (und Dank für Unterlagen)
Pro Emmental (Tourismus- und Wirtschaftsorganisation für das Emmental)
Schlossstrasse 3
CH-3550 Langnau im Emmental
 
Emmental Tours AG
Pfarrgässli 3
CH-3454 Sumiswald
 
 
Hinweis auf weitere Ausflugsberichte von Walter Hess
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst
Altes Giftbuch entdeckt – Wurde Mozart vergiftet?