Textatelier
BLOG vom: 16.01.2007

In der Schweizer Nationalbibliothek Bern wird nur geflüstert

Autor: Walter Hess, Biberstein CH
 
Man kann der „Centralkommission für schweizerische Landeskunde“ postum gar nicht genug dafür dankbar sein, dass sie 1892 einen Antrag an den Bundesrat stellte, mit dem die Gründung einer eidgenössischen Centralbibliothek angeregt wurde. Daraus ist die Schweizerische Landesbibliothek SLB (www.nb.admin.ch) an der Hallwylstrasse 15 im vorderen Kirchenfeld in CH-3003 Bern entstanden. Das heutige Gebäude wurde zwischen 1929 und 1931 im Stil des „Neuen Bauens“ errichtet. Es ist ein schnörkelloser, symmetrischer Zweckbau mit der Dominanz des rechten Winkels unter Berücksichtigung der Achsenabstände der Bücherregale – und somit war es der damaligen Zeit weit voraus. In früheren Bibliothek-Bauten hatten die Architekten sogar darauf geschaut, dass die schwer beladenen Büchergestelle auf Trägern (Achsen) ruhten und damit gut abgestützt waren.
 
Die heutige Schweizerische Nationalbibliothek SNL, wie der neue Name lautet, lehrt schon durch ihren architektonischen Aufbau, wie eine Bibliothek grösseren Stils auszusehen hat: Eine klare funktionale Trennung zwischen Magazin und Verwaltungsteil und ein achtstöckiges Büchermagazin. Inzwischen wurde im Untergrund nach weiterem Platz für die Bucheinlagerung gegraben. Ein 2. Tiefenmagazin kann voraussichtlich 2009 in Betrieb genommen werden.
 
Das Schicksal einer jeden Bibliothek – so auch meiner eigenen – ist es, ständig zu wachsen und unter permanentem Platzmangel zu leiden. Denn immer neue Bücher und andere Dokumente wie Landkarten kommen hinzu (im Falle der NLB sind es 1,5 km), und man kann nichts wegwerfen, da bei wichtigen Werken der Wert mit zunehmendem Alter steigt. Zudem sind die älteren Bücher, nach handwerklicher Manier gedruckt und in wunderschönes Leder eingebunden, unersetzlich und Augenweiden obendrein.
 
Die NLB hat das Erhalten zuoberst auf ihre Fahne geschrieben; 3,7 Millionen Dokumente mit einem geschätzten Gesamtgewicht von etwa 1400 Tonnen haben sich inzwischen angesammelt. Doch geht es dort nicht einfach um eine reine Konservierung (beim Empfang habe ich eine 120 CHF teure Broschüre „Save Papers“ gesehen), sondern auch um das Vermitteln von dem, was in die Bücher eingebunden ist, sogar Alltagsproduktionen wie Zeitungen und Zeitschriften sind nicht unter der Würde der Beachtung durch die NLB. Zu ihr gehören dementsprechend eine Buchbinderei, ein Fotoatelier, ein Reprobereich (von vielen Werken kann man Fotokopien zu einem günstigen Preis selber anfertigen oder anfertigen lassen), eine Mikroverfilmungsstelle (fast alle grösseren Zeitungen der Schweiz werden mikroverfilmt) und Anlagen zur Papierentsäuerung gehören zu dieser Institution, die sich der Erhaltung des bisherigen und ständig neu entstehenden nationalen Kulturguts annimmt.
 
Es sind heilige Hallen des Geistes, in denen man sich hier bewegt. Kugelschreiber und andere Geräte zur Papierverwüstung darf man nicht bei sich tragen, und sogar den Jackett hat man im Entrée zu deponieren. Als ich in einem Lesesaal die nette und hilfreiche Beamte mit unterdrückter Stimme frage, ob ich hier einen Benützer-Ausweis erhalten könne, antwortete sie im Flüsterton: „Gleich um die Ecke.“ Für die Beschaffung dieses Ausweises muss man auf einem Formular allerhand Personalien eintragen und sich ausweisen können; ich hatte den Pass mitgenommen. Das geht schnell, unkompliziert und kostenlos. Dann kann man einen Leihschein für die Heimausleihe ausfüllen, wenn Interesse an einem bestimmten Buch besteht, oder es ist für entfernt Wohnende auch möglich, Bücher leihweise online zu bestellen.
 
Ich schaute mich in den Lesesälen, auch im laptopfreien Raum, um, was darin zu finden ist. Vor allem Nachschlagewerke und Karteien sind es, die man hier antrifft. Erstmals in meinem Leben habe ich hier die bisher vorliegende Gesamtausgabe „Schweizerisches Idiotikon“ gesehen – mit Ausnahme der neuesten Bände prachtvoll in Leder gebunden. Das Werk wendet sich nicht etwa an Idioten nach herkömmlichem Sprachgebrauch, sondern hat den Namen vom griechischen Begriff Idio = Eigenes, Mundart erhalten und listet minuziös die Regionalismen der 4 schweizerischen Landessprachen zusammen mit dem zugehörigen terminologischen Fachwissen auf. Dieses Regionalwörterbuch, an dem seit 1806 gearbeitet wird, umfasst inzwischen 15 Bände (2 Bände fehlen noch; sie sollen bis 2020 vorliegen). Ich habe von ihm schon immer geträumt, weil Mundartausdrücke oft treffender (träfer) als Wörter aus abgeschliffenen Sprachen sind. Nun bin ich diesem Riesenwerk wenigstens einmal physisch begegnet.
 
In den Lesesälen arbeiteten während meines Besuchs viele Leute jeden Alters an den Computern oder hatten transportrollerweise Bücher neben sich, aus denen sie fischten, was für ihr Thema nötig war. Niemand sprach. Ich war der einzige Mensch, der (möglichst unauffällig) in den Lesesälen und im Katalogsaal mit seinen Karteikästen und Büchern über Bücher herumstöberte. Das leise Quietschen der Gummisohlen meiner Schuhe auf den Kunststoffböden, wenn ich mich von einem Gestell zum anderen bewegte, erschien mir persönlich schon fast als unerlaubter Lärm. Vielleicht haben die anwesenden Forscher das als willkommene Belebung empfunden – man weiss es nicht, da, wie gesagt, nicht gesprochen wird.
 
Bibliotheken haben eine Tendenz zum Überquellen; ich spreche aus Erfahrung. Bei meiner eigenen Bücheransammlung äussert sich dies darin, dass Gestelle manchmal mit 2 oder 3 Buchreihen hintereinander belegt sind und auf den stehenden Büchern noch einige Exemplare flach herumliegen. Die Tendenz geht dahin, den vorhandenen Raum trotz der unterschiedlichen Formate möglichst gut auszunützen. Doch das geht dann auf Kosten der Übersicht, der Systematik.
 
Und Systematiker sind die Herren und Damen von der NLB offensichtlich. Sie haben ihre Sammlung intelligent und fein gegliedert, so dass man, sobald man die Systematik durchschaut hat, schnell zum Ziel kommt. Ich habe einem nach Gemeinden geordneten Karteikasten nach aufgelisteten Publikationen über die bündnerische Gemeinde Malix gesucht, hatte aber Pech: Die entsprechenden Karteikarten sind im hinteren Teil der Schublade. Und weil es sich beim entsprechenden Korpus um ein in der Ecke stehendes Möbel handelt, kam der Griff einer Schublade eines um 90 Grad gedrehten Nachbarmöbels in die Quere, und diese verhinderte ein weiteres, ausreihendes Öffnen. Ich hatte Lust, die Möbel mit meinen beachtlichen Leibeskräften etwas zu verschieben, doch überlegte ich mir messerscharf, dass das Möbelrücken wahrscheinlich eine lebenslängliche Besuchersperre nach sich gezogen hätte, auch wenn dieses im Merkblatt „Einführung in die Benutzung der Schweizerischen Nationalbibliothek (NB)“ nicht expressis verbis als verbotenes Tun erwähnt ist.
 
Mich interessierte, was ich selber denn in neuester Zeit alles an dickeren Publikationen geschrieben habe und fand im neuesten, zu einem dicken Buch ausgewachsenen Katalog „Das Schweizer Buch“ (2005), herausgegeben von der Schweizerischen Nationalbibliothek (801 Seiten, 3-spaltig in kleiner Schrift), die Werke Kontrapunkte zur Einheitswelt. Wie man sich vor der Globalisierung retten kann“ (10809) und die Broschüre „Lebensräume. Lebensträume“ (9171), die ich für die EGK Gesundheitskasse (www.egk.ch) geschrieben habe. Im Vorjahresverzeichnis sind auch die von mir verfassten Wegwarte-Büchlein (www.wegwarte.ch) „Luft zum atmen“ (die Kleinschrift erfolgte aus typografischen Gründen) und „Kiesel und andere edlen Steine“ erwähnt. Selbstverständlich sind diese Bücher auch im professionellen „Verzeichnis Lieferbarer Bücher“ (VLB-Katalog des Buchhandels) zu finden; die Verlage melden dort jeweils die Neuerscheinungen an. Allein in der kleinen deutschsprachigen Schweiz sind 2005 nicht weniger als 5855 (2004: 6331) Bücher erschienen; schweizweit beträgt das Total 10 128 (11 061) Werke, was erahnen lassen mag, was es braucht, um hier aufzufallen.
 
In der NLB sind nicht alle Räume zugänglich. Publikumsräume sind der Informations-, Lese- und der Zeitschriftensaal sowie die Freihandbibliothek Schweiz im Obergeschoss. Zur Bibliothek gehört auch die Graphische Sammlung (inkl. Karten und Atlanten, Musiknoten, Spezialsammlungen, Tondokumente, audiovisuelle Dokumente und Mikroformen sowie elektronische Publikationen). Selbstverständlich ist die Nationalbibliothek, wie sie heute heisst, auch online zugänglich.
 
Zuoberst im Haus gewährte mir eine nette französisch sprechende Dame Zutritt ins Schweizerische Literaturarchiv (SLA), und sie erklärte mir, was es damit auf sich habe. Es ist auf Anstoss von Friedrich Dürrenmatt 1991 eröffnet worden, der seinen literarischen Nachlass der Eidgenossenschaft unter der Bedingung vermachte, dass solch ein Archiv geschaffen werde. Das SLA sammelt laut offizieller Beschreibung „in den vier Landessprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch Dokumente sowie Materialien zu Literatur, die einen Bezug zur Schweiz hat, und zwar mit einem Schwerpunkt im 20. Jahrhundert. Es handelt sich dabei um Notizen und Entwürfe zu Werken, Werkmanuskripte, Korrespondenzen, Tagebücher, Zeitungsausschnitte, wissenschaftliche Sekundärliteratur, Bücher, Ton- und Videokassetten, Fotos, Gemälde und graphische Blätter sowie persönliche Gegenstände.“ Das SLA umfasst zudem rund 100 grössere Nachlässe und über 120 Teilnachlässe und Sammlungen, welche für wissenschaftliche, literarische oder publizistische Arbeiten und Studien kostenlos benutzt werden können. Bibliothek und Literaturarchiv wollen auch einen Beitrag zur sprachlichen Verständigung leisten.
 
Insgesamt hat sich in der NLB viel Material zusammengeläppert, und zweifellos ist diese Institution, was sie sein will: „Die Schweizer Landesbibliothek ist weltweit die wichtigste schriftliche Quelle für die Kenntnis und das Verständnis der Schweiz und der Schweizer Bevölkerung.“ Die Institution steht allen Einwohnern des Landes offen – und wer davon nicht Gebrauch macht, ist selber schuld. Man braucht kein Fachexperte im Bibliothekswesen zu sein, freundliches Personal (insgesamt rund 160 Mitarbeiter) hilft den Besuchern überall.
 
Nachdem mein Wissensdurst gestillt war, übermannte mich ein fürchterlicher physischer Durst, der mit viel Wasser zu stillen war. Die Räume sind den Büchern zuliebe klimatisiert, und der Betonbau, in dem eine Betontreppe mit Betonabschrankung die einzelnen Etagen verbindet, strotzt nicht eben vor baubiologischen Grosstaten. Doch haben sich hier zuerst einmal die Drucksachen wohlzufühlen, und sie haben gegen Faraday-käfig-ähnliche Zustände mit ihrer Abschirmwirkung nichts einzuwenden.
 
Hinweis
Internet: www.nb.admin.ch
Eine Übersicht über das Führungs- und Schulungsangebot findet sich auf der erwähnten Webseite www.nb.admin.ch (Dienstleistungen, Angebote in der Bibliothek). Dort können auch die „Wegweisungen zur Benutzung der Schweizerischen Nationalbibliothek“ (allgemeine Sammlung) eingesehen werden (Online-Katalog Helveticat).
 
Die Broschüre „Die Schweizerische Landesbibliothek in Bern“ von Monica Bilfinger, der einige Angaben für dieses Tagebuchblatt entnommen sind, kann in der NB für 6 CHF gekauft werden.
 
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