Textatelier
BLOG vom: 03.04.2007

Sihlcity in Zürich: Wo Dauershopping zum Lebensinhalt wird

Autor: Walter Hess, Biberstein CH
 
Sihlcity! Ich habe en passant kurz dort angehalten. Von der ehemaligen Papierfabrik Sihl, die zwischen 1836 und 1990 in Betrieb war und auch Spezialpapier für Banknoten, Landkarten und Wertschriften herstellte, ist neben 4 Altbauten (2 Backsteinbauten von 1835, das ehemalige Ausrüstungsgebäude von 1911 und das Lagerhaus) noch der schöne, aus orangefarbenen Kaminbausteinen als runder und mit Eisenbändern befestigte Turm stehen geblieben. Wo man noch die Geschichte spürt, ist für mich der gemütvollste Teil der Anlage, die in einer vierjährigen Bauzeit entstanden ist. Die umgebenden modernen Bauten sind einfühlsam geformt, zweckbestimmt und gut in die rundum begrenzenden bestehenden Verkehrsanlagen integriert. Als da sind: die Autobahn nach und von Chur, die Geleise der Sihltalbahn und das Flüsschen Sihl, welches in Zürich-Brunau bis ins Sihlhölzli seit 1974 unter einem 1494 m langen Baldachin aus massivem Beton nach mehr Licht lechzt. Darüber befindet sich der Stadtautobahnstummel, der Sihlhochstrasse, die zur A3 führt.
 
Im Einkaufszentrum, das zur Mall geworden ist, sind 77 bekannte Namen wie ein Charles Vögele, Coop, Feldpausch, Kuoni Reisen, Marinello, Media Markt, Ochsner Sport usw. anzutreffen, auf einer 40 000 m2 umfassenden Verkaufsfläche, verteilt auf 3 Etagen (die Sihlhochstrasse überdeckt vergleichsweise 55 000 m2). Der Bau ist im Zentrum offen, ein Lichthof unter 3 Glaskuppeln, beschwingt, elegant. Die Komma-förmigen Kunststoffsitzbänke klappen in die Höhe, wenn sie unbenützt sind. Nur das Angebot in den Läden ist immer und überall dasselbe und deshalb langweilig. Ein Konsumtempel mehr. Neu sind Shirt Factory und Palmers. Der Verkauf ab Hof bei einem Biobauern ist für mich spannender.
 
Zudem haben sich in dieser „kleinsten Grossstadt“, wie der etwas banal geratene Werbeslogan heisst, 13 Gastrobetriebe angesammelt. Ich ging ins Hong Kong Food Paradiese, probierte Frühlingsrollen und Dumplings mit Rindfleisch (Gi-Guan-Gin), die mit guten Saucen perfekt stilvoll serviert wurden und als kleine Zwischenmahlzeit meine Hongkong-Erinnerungen wiederbelebten.
 
Im Zentrum des Gebäudekonglomerats ist der Kalanderplatz als Freiluftanlage. Der Name ist von einer Maschine mit grossen Walzen zum Glätten und eventuell Prägen von Papier und Bodenbelägen abgeleitet. Bei gutem Wetter kann man hier herumsitzen, sich überlegen, was man an weiterem Angebot noch nutzen soll, etwa einen der 10 Kinosäle mit Knutschlogen. Mr. Bean verbrachte in einem davon gerade seine Holidays und führte vor, was den Mitgliedern der Freizeitgesellschaft blühen kann. Es gibt eine Disco, einen Papiersaal, in dem fast täglich Aufführungen (Events) veranstaltet werden, sodann eine ausgewachsene überkonfessionelle Kirche, in der keine Gottesdienste veranstaltet werden, eine Pestalozzi-Bibliothek usf. – alles, was man zu Leben braucht, wie die Werbung verheisst, die zudem weiss: „Hier macht man gern Überstunden.“ 100 000 Quadratmeter sind überbaut, was auch gewisse Wandermöglichkeiten gewährleistet. Viele Mütter mit Kindern sind hier, die nach dem Schoppen die Kleinen ins Shoppen einweihen.
 
Für mich ist hier viel mehr vorhanden als ich zum Leben benötige. So brauche ich keine Kirche, keine Disco, keine Rolltreppen, und sogar ohne Frühlingsrollen komme ich zur Not aus. Dafür fehlen mir in Sihlcity aber ein paar Naturäusserungen. Zwar sind an der Allmendstrasse neben dem Freizeitparadies exotische Zürgelbäume (Celtis australis und Celtis occidentalis) und Eschen gepflanzt worden. Und beim Eingangsbereich sind auch einige schlanke Baumgruppen ums Anwachsen bemüht; die Stämme sind noch mit Bandagen eingewickelt. Das Klima mit all den Abstrahlungen von Asphalt und Beton sowie der Mithilfe der Klimaveränderungen dürfte hier exotisch sein. Solche Überlegungen wurden also einbezogen – aber schliesslich geht ja, wer Natur sucht, nicht unbedingt ins Shoppingcenter beziehungsweise ins Urban Entertainment Center für Freizeitbeschäftigungen und Unterhaltung. Einschliesslich Wellnessbereich und 16 Wohnungen.
 
Die Besitzer von Sihlcity sind die Swiss Prime Site AG und die Credit Suisse CS, die für all das etwa 620 Millionen CHF locker machten. Theo Hotz wirkte als talentierter Architekt, der nicht einfach alles durchstylte, sondern einen ausgesprochenen Sinn für ein lebendiges urbanes Gefüge hat, das ja nicht nur aus Stereotypien bestehen sollte, die ans Zeitalter des Klonens erinnern. Der eingangs erwähnte Einbezug alter Bauteile kann nicht hoch genug eingeschätzt werden – meistens wird bei solchen Gelegenheiten ja gleich Tabula rasa gemacht. Sogar 2 Sichtbetonbauten mit ihren Glasbausteinbändern aus den 1950er-Jahren sind noch da.
 
Hier also soll das Einkaufen zum Erlebnis werden. Meines Erachtens ist das Einkaufen heute ohnehin bereits Erlebnis genug, besonders wenn man das Kleingedruckte liest. Ich kann dazu ein Beispiel liefern: Im Sihlcity-Coop wollte ich einen Grenadinesirup kaufen. Ich nahm an, er sei aus Granatäpfeln hergestellt. Doch das Studium der Zutatenliste auf der Flasche mit der Flüssigkeit von leuchtender, blutroter Farbe verriet, dass da überhaupt keine Früchte drin waren, nicht einmal Johannisbeeren, Himbeeren oder Brombeeren. Das war für mich eines der Einkaufserlebnisse, die das Leben schreibt; selbstverständlich ist es nicht Sihlcity-typisch. Und das reicht mir eigentlich.
 
Also machte ich mich auf den Heimweg, vorbei an Shop Ville–RailCity, Zürich, vorbei am Letzipark Zürich und vorbei am Shoppi & Tivoli, Spreitenbach. Und den Media Markt Dietikon ZH hatte ich ebenfalls passiert. Vorbei.
 
Weitere Konsumtempel mit einer Verkaufsfläche von total 275 000 m2 – etwa 40 Fussballfeldern – sind in der Schweiz im Bau oder geplant. Ich bin überfordert, kann mit dem besten Willen nicht mehr essen und nicht mehr nonfooden, nur weil es immer mehr Malls gibt.
 
Ich passe nicht mehr ganz in diese Shopping-Gesellschaft und bin nur noch ein bedingt brauchbares Konsumobjekt. Ich beschränke mich zunehmend auf das Nötige. Wenn das alle so halten würden, könnte der Einkaufscenterbau nicht ewig weitergehen. Und was dann?
 
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