Textatelier
BLOG vom: 13.04.2007

Aarefahrt Solothurn–Biel: Vom Sumpf nur noch eine Spur

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
32 km lang ist die Strecke Solothurn–Biel auf der Aare. Und die Schifffahrt dauert knapp 3 Stunden. Hinter diesen statistischen Angaben verbirgt sich ein eindrückliches Landschaftserlebnis. Die Aare, die im Rahmen der beiden Juragewässerkorrektionen beruhigt worden ist, durfte noch einige Mäander behalten. In Altreu grüssen die Störche vom Dach der Storchenstation, zahlreiche niedere Brücken werden unterquert. Büren an der Aare hat den Zauber des liebevoll erhaltenen Antiquierten. Und am Ende, bei Port, erlebt der Wasserfahrer beim Wehr mit integrierter Schleuse die Zentrale zur Bändigung der Natur, insgesamt eine technische und landschaftsgestalterische Grosstat, die man ablehnen kann oder aber man mag ihr mit Verständnis gegenübertreten. Sie ist von der Linth-Korrektion inspiriert worden; viele äussere Umstände waren einander ähnlich (siehe Blog vom 19.3.2007: Aspekte der Geradlinigkeit: Linthebene und Linthkanal heute).
 
Zum Solothurner Hafen
Doch wäre es schade, die Aarefahrt Solothurn–Biel auf ein paar Stichworte zu reduzieren, lebt sie doch von Tausenden von Einzelheiten, an denen sich der Betrachter nach Belieben gütlich tun kann. Wir starteten in der wunderschönen Barockstadt Solothurn, wobei ich zuerst einmal überlegen musste, wo denn eigentlich der Hafen sei. Obschon ich den Solothurner Aareraum ziemlich gut kenne, war mir dort noch nie eine Hafenatmosphäre aufgefallen. Im Rahmen der alljährlichen Schweizerischen Gesundheitstage (GHT), die jeweils im Oktober von der EGK-Gesundheitskasse veranstaltet werden, bin ich schon einige Male mit einem Ponton zwischen dem Landhaus und dem Alten Spital zu Wasser gefahren, um eine andere Perspektive von der Stadt zu erhalten, die sanft zur französischsprachigen Westschweiz hinüber leitet, diesen sympathischen Kulturraum zumindest antönt. Aber von einem Hafen war da in Soleure nichts zu sehen.
 
Steuert man, vom Bahnhof Solothurn her kommend, auf die Bahnhofbrücke und die Altstadt zu, weist ein Wegweiserschildchen am südlichen Brückenkopf den Weg zu einem stilisierten Schiff auf Wellen. Man unterlässt das Überqueren der Brücke und dreht vor ihr nach links (aareaufwärts) ab, folgt dem Aareufer bis zum Kulturzentrum „Altes Spital“ bei der Wengibrücke. Man umrundet diesen markanten, gepflegten Komplex und erreicht den krummen Turm, der von geometrischen Regelmässigkeiten nichts hält, sondern geradezu dagegen rebelliert. Dieser Turm, eine Abwandlung des Schiefen Turms von Pisa, wurde zum Schutz gegen Angriffe von Land und Wasser zwischen 1459 und 1463 erstellt. Die Bösen dürften vor allem einmal irritiert gewesen sein. Das Dach des Turms hebt sich aus einem Fünfeck empor, wodurch der Spitzhelm auf 50 m Höhe schief erscheint. Der krumme Turm ist nur in seiner Symmetrieachse gerade.
 
Das Motorschiff „Siesta“
Der Solothurner Hafen neben dem krummen Turm, schlicht als „Landeplatz für die Aareschifffahrt" bezeichnet, ist weit weniger spektakulär als seine Umgebung. Er besteht aus einem Abgang und 5 eingerammten Baumstämmen zum Festbinden allfällig ankommender Schiffe, eine geradezu spartanische Anlage. Als wir am Ostermontag, 9. April 2007, kurz vor 11 Uhr dort eintrafen, wartete das Motorschiff (MS) Siesta der Bielersee-Schifffahrts-Gesellschaft AG BSG www.bielersee.ch dort bereits fahrplanmässig – von Mittagsruhe keine Spur.
 
Das 1991 gebaute Semikatamaranschiff gilt als das BSG-Flaggschiff und hat sehr gute Flachwassereigenschaften (1,3 m Tiefgang). Dieser Schiffstyp wird häufig auf Kanälen eingesetzt. Die Steuerkabine kann mitsamt dem Kapitän bis auf die Höhe des Oberdecks wie ein Lift abgesenkt werden, wenn es niedrige Brücken zu unterqueren gilt. 500 Personen würden darauf und darin Platz finden; doch wurden nur etwa 10 % des Fassungsvermögens ausgenützt. Die Fahrt nach Biel kostet 40 CHF; mit Halbtaxabo die Hälfte. Zwar war der Tag sonnig; doch der Fahrtwind auf dem offenen Oberdeck wurde als kühl empfunden, auch wenn die Geschwindigkeit 15 km/h nie überschreiten darf. Zum Glück waren die dunkelbraun gebeizten Holzbänke schön warm – solarenergetisch beheizt.
 
Start mit Schwung
Nach der pünktlichen Abfahrt in Solothurn fielen mir die vielen Privatboote und die zugehörigen Einrichtungen für Wassersportler auf. Betrieb herrschte beim Haus des Solothurner Ruderclubs, wo ein schnittiges Boot herumgetragen wurde, und etwas weiter oben ist am rechten Ufer das Haus der Solothurner Kajakfahrer. Man sah eine ganze Wohnwagenstadt und erfreute sich beim und nach dem Halbbogen ums Aarefeld auf der Höhe von Nennigkofen/Lüsslingen zunehmend an einer Natur, die vom Fluss aus wie eine auf den Uferstreifen beschränkte Auenlandschaft aussieht. Ein ursprüngliches Wachstum findet sich vor allem beim Inseli, das von der Aare eingerahmt ist. Auch die Strecke oberhalb von Altreu mit dem Archer Inseli und dem Eichacher, ein Auengebiet von nationaler Bedeutung, ist ein Erlebnis für jeden Naturfreund. Im Übrigen wäre im Kanton Solothurn nach Aargauer Vorbild noch einiges an Auenrenaturierungen zu leisten; entsprechende Einsichten und Bestrebungen sind vorhanden.
 
Sandbänke mit Schilf zogen vorbei – der Film einer lieblichen Naturlandschaft mit dem Jurahügelzug im Dunstschleier im Hintergrund, dann wieder monotone Uferverbauungen mit lockeren Kalksteinen, eine Landschaft ab Reissbrett. Die Aare hat eher den Charakter eines stehenden Gewässers denn eines Flusses. Der Übermut wurde ihr ausgetrieben. Die schmalen Auen-, Bruch- und Feuchtwaldkomplexe überzogen sich gerade mit einem frisch-grünen Schleier zum Auftakt der Frühlingshochzeit, insbesondere die Baum- und Strauchweiden, aber auch die vereinzelten Erlen und Eschen.
 
Bei den Weissstörchen
Altreu (Selzach): Hier legte unser Schiff erstmals an, direkt vor der Storchenstation, die Max Blösch (Bloesch) eingerichtet hat und die sich zu einem vollen Erfolg entwickelte – in der Witi (die Aareebene zwischen Grenchen, Rüti bei Büren und Altreu bis nach Solothurn) hat der Weissstorch dank Blöschs Anstrengungen wieder einen Lebensraum gefunden, nachdem er um 1950 in der Schweiz ausgestorben war. Der Storchenvater hatte im Jahr 1955 Jungstörche aus Algerien einfliegen lassen, die sich über alle Kulturbarrieren hinweg setzten und sich wunschgemäss vermehrten. Heute soll es in der Schweiz wieder etwa 170 Brutpaare geben.
 
In ihren Nestern auf dem Dach der Storchenstation standen 3 Storchenpaare, die sich in gemeinsamen Anstrengungen am Nestbau und am Brutgeschäft zu beteiligen pflegen und unser Schiff mit lebhaftem Interesse betrachteten, das sie in grosser Schrift zur Siesta aufrief. Hoffentlich nahmen die Meister Adebare diesen Hinweis aufs süsse Nichtstun in Sachen Vermehrung nicht allzu ernst. Horste gibt es auch auf Bäumen, und während der Weiterfahrt via Grenchen nach Büren war sogar auf dem Mast einer Elektrizitätsleitung an der Aare eine luftige Behausung für eine gegen Elektrosmog resistente Storchenfamilie auszumachen.
 
Für etwas Verschmutzung sorgten bloss die vielen Kleinflugzeuge, die rund um den Regionalflugplatz Grenchen, der auch der Militärpilotenausbildung dient, schwirrten. Gelegentlich wurde ein Segelflugzeug in die Höhe geschleppt. Vielleicht schauen die Konstrukteure einmal bei den Störchen von Altreu nach, wie man das Aufsteigen in die Höhe aus eigener Kraft und ohne Erdöl bewerkstelligen könnte. Es muss an der Konstruktion der Flügel und deren Beweglichkeit liegen.
 
Büren an der Aare
Die mittelalterliche Altstadt von Büren an der Aare BE ist ein kompaktes Gesamtkunstwerk, das einen förmlich von den Schiffsbänken reisst. Sie ist wie geschaffen als Objekt fürs Bundesinventar für Kulturgüter und ein Touristenmagnet. Ein Schloss, das Rathaus, schöne Häuser mit Lauben usw. sind hier zu einer Augenweide versammelt. Die mächtige Holzbrücke wurde nach dem Brandanschlag von 1989 2 Jahre später wieder aufgebaut, und unser Schiff musste sich bei der Weiterfahrt etwas einziehen, damit hier nicht noch einmal Schaden angerichtet wurde.
 
Im Raume Büren begegnete uns das 1973 in Betrieb genommene MS „Stadt Solothurn“, das von 2 GM-Dieselmotoren angetrieben wird und mit zahlreichen fröhlich winkenden Menschen mit Sonnenbrille und Feldstecher besetzt war.
 
Man durfte genau hinschauen: Alles machte einen schmucken Eindruck; das Aarewasser war sauber, und auch an den Ufern war kein Abfall zu sehen. Im blitzblanken Pissoir des MS Siesta verrichtete neben mir einer der Schiffsoffiziere im Rang eines Oberstleutnants sein Geschäft. Und ich sagte zu ihm in dieser Phase erlösender Entspannung, die Aare sei so sauber, dass ihr wahrscheinlich sogar die Toilettenabwässer aus dem Schiff vorenthalten würden. Der Flussfahrtexperte bestätigte dies lebhaft: „Ja, ja, alles andere wäre nicht erlaubt. Alles Abwasser wird auf dem Schiff gesammelt und in Biel oder Solothurn in die Kanalisation gepumpt.“ Schweizer Präzision.
 
Der Nidau-Büren-Kanal
Die Aare wird dann, abgesehen von einigen sanften Biegungen, zum schnurgeraden Nidau-Büren-Kanal. Nördlich von diesem befindet sich, gleich anschliessend an Büren a. A., das von einer eingeknickten Altaare-Schlaufe umfasste Naturschutzgebiet Häftli, das man von einem Beobachtungsturm aus überblicken kann. Doch unsere „Siesta“ machte keine Pause, gab den Blick auf solche Naturschönheiten nur beschränkt frei und liess auch die Seeländer Gemeinde Meienried links liegen, die von den Hochwassern vor den Juragewässerkorrektionen jeweils besonders stark betroffen gewesen war. Der 12 km lange Kanal wurde im Rahmen der 1. Juragewässerkorrektion zur Vergrösserung des Abflussvolumens aus dem Bielersee erstellt.
 
Regulierwehr und Schleuse Port
Damals wurde ein provisorisches Absperrwerk gebaut, welches 1885 bis 1887 durch das noch immer bestehende Regulierwehr zwischen Port und Brügg aus den Jahren 1936 bis 1939 ersetzt worden ist, über das auch die Strassenverbindung zwischen diesen beiden Ortschaften führt. In dieses Wehr, Kernstück der ganzen Juragewässer-Regulierungstechnik, ist die 12×25 m grosse Kammerschleuse mit den Umlaufkanälen integriert, auf die wir nach einem Blick zur Klosteranlage Orpund und einem Halt in Brügg zusteuerten. Durch das Heben und Senken von Wehrschützen wird dort dafür gesorgt, dass der Wasserhaushalt im Dreiseengebiet und der Aare in einem tolerierbaren Rahmen bleibt, das heisst dass Fluss und Seen nicht zu tief abfallen oder zu hoch ansteigen, wodurch die Natur, die keine Katastrophen kennt und in der Überschwemmungen zur Normalität gehören, überlistet wird. In die Regulierungstätigkeit werden sogar die Niederschlags- bzw. Wasserverhältnisse im gesamten Gebiet inklusive Brienzersee und Thunersee einbezogen.
 
Die Siesta fuhr zentimetergenau in die Schleuse Port ein, und das Schleusentor, eine dicke Schiebetür, schloss sich. Einströmendes Wasser hob das Schiff und uns mit ihm um 9 Meter in die Höhe – auf Bielerseehöhe, um genau zu sein. Schleuse und das aus schön behauenen Bruchsteinen gefertigte Wehr machten mir Eindruck, ein handwerkliches Meisterstück, wie ich es mag.
 
Das Solarboot im Hafen Biel
Der Rest der Schifffahrt ist bald erzählt: Kurzer Halt in Nidau und Einfahrt in den Bielersee beim Strandbad Nidau und in den Hafen von Biel mit der Rolex-Reklame oben an einem Hochhaus. Der richtige Zeitpunkt ist wichtig: Zufälligerweise kam das Solarboot MobiCat fast gleichzeitig mit uns kurz vor 2 Uhr nachmittags an. Dieser Katamaran (Boot mit doppeltem Rumpf) wurde 2001 gebaut und fährt ausschliesslich mit Sonnenenergie (Solarzellenfläche: 180 m2, 2 Batterien zu 4000 kg). Es handelt sich dabei um das grösste solarelektrisch energiebetriebene Passagierschiff der Welt (Fassungsvermögen: 150 Personen), bei dem nur der Wellenschlag an den Schiffsrumpf zu hören ist. Die Höchstgeschwindigkeit dieses zukunftsweisenden Boots liegt bei 15 km/h, was bei unseren schweizerischen kleinräumlichen Verhältnissen vollauf genügt. Der Triumph der Langsamkeit, der Beschaulichkeit.
 
Schifffahrtsgeschichte
Im Bieler Hafen herrschte ein reger Betrieb wie eigentlich schon immer. Zwar hatte auch auf der Aare die Schifffahrt ab dem 13. Jahrhundert eine bedeutende Rolle gespielt; wegen der grösseren Wasserfläche war diese auf den Jurarandseen entsprechend grösser. Der Wasserweg von der Romandie über die Juraseen, Aare und Rhein verband den Mittelmeerraum mit den Metropolen Nürnberg, Augsburg, Ulm und Memmingen. Vor allem wurden Wein, Getreide und Salz transportiert, wobei wegen durstiger Schiffsleute unterwegs viel Wein verloren ging ... Deshalb gibt es an den Juraseen noch die umschreibende Bezeichnung „Il a chargé pour Soleure“ für einen Beschwipsten. Ich übersetze in vollkommener künstlerischer Freiheit: Er hat sich für Solothurn einen geladen – genauer: Er hat für Solothurn geladen.
 
Auf dem Neuenburgersee begann die Schifffahrt am 10. Juni 1826 mit dem Stapellauf des Dampfschiffs „Union“, und 1834 gesellte sich das Dampfschiff „Industriel“ (des Industriellen Philippe Suchard) dazu, das alle Juragewässer befuhr. Es wurde vor dem Aufkommen der Sonderbundswirren an die 1847 gegründete „Société des bateaux à vapeur du lac de Neuchâtel“ verkauft. Allmählich wurden von dieser Gesellschaft weitere Schiffe angeschafft. Und sie fusionierte mit der Solothurnischen Dampfschifffahrtsgesellschaft, die nach der Eröffnung der Bahnverbindung Solothurn–Biel (1. Juni 1857) unrentabel wurde. Der Bahnbau war eine zunehmende Konkurrenz für die Schifffahrtsunternehmen, besonders die Linie Yverdon–Vaumarcus–Neuenburg –La Neuveville. Der Güterverkehr hatte jetzt einen schnelleren und wohl auch eleganteren Weg. Die Rettung für die Schiffsbetreiber konnte nur noch von den Ausflüglern kommen; der Tourismus setzte ab etwa 1950 ein. Heute ist er der Futtertopf für die Schifffahrt auf den Juragewässern (Neuenburger, Murten- und Bielersee) und auf der Aare bis Solothurn, wie man sah.
 
Der unvollendete Kanal
Die 1. Juragewässerkorrektion war die Grundlage für eine etwas umfangreichere Schifffahrt auf der Aare, die schon seit dem frühen Mittelalter eine bedeutende Verkehrsachse war und, mit dem Canal d’Entreroches zwischen dem Neuenburger- und Genfersee, einen weit überregionalen Charakter erhalten hatte; 1638 wurde mit dem hindernisreichen Bau dieses Kanals begonnen, und zwischen 1639 und 1829 gab es eine beinahe durchgehende Schifffahrt zwischen Cossonay VD, der Ebene von Orbe, Yverdon, dem Neuenburger- und Bielersee sowie der Aare. Doch geriet das Unternehmen wegen des Teilstücks Cossonay zum Genfersee in den Ruin. Der Kanal hatte dann nur lokale Bedeutung.
 
Wegen des grossen Gefälles wären 40 Schleusen nötig gewesen. Und die Güter mussten trotz des Kanals am Hang zum Genfersee ein Stück weit auf der Strasse befördert werden. Als dann 1838 zu all dem Elend noch eine Kanalbrücke eingestürzt war, wurde das Projekt aufgegeben. Heute besteht nur noch ein 5 km langes Erinnerungsstück an diese ruinöse Vision von der durchgehenden Schifffahrt zwischen Rhein, Aare und Mittelmeer.
 
Mittagessen bei Windstille
Im Siesta-Restaurant hätten wir auch essen können; doch dafür fehlte mir während der Fahrt die Zeit. Also holten wir das Verpflegen im Bieler Hafen-Restaurant Joran nach – und zwar im Freien, trotz des Namens: Mit Joran bezeichnet man nämlich den aus Westen bis Nordwesten wehenden kalten Bergwind am Südosthang des Jura-Hügelzugs. Dieser Wind tritt im Winter vor allem im Zusammenhang mit Kaltfronten auf, die den Hügel überqueren; im Sommer wird er oft von lokalen Gewitterherden hervorgerufen – und er fege dann die Gäste aus dem Gartenrestaurant, sagte unser Kellner.
 
Wir wurden vom Joran in Ruhe gelassen; der Fahrtwind war weg und die Temperatur auf 20 °C geklettert. Wir wählten fritierte Fische (Zander) und panierte Krustentiere in Körbchen, die zu einem vergorenen Apfelsaft hervorragend schmeckten: Finger-Food zu einer pikanten Tartaresauce und zu einer süss-scharfen asiatischen Sauce.
 
Schloss Nidau
Das war die Stärkung vor dem Marsch zum nahen Schloss Nidau. Dieses wurde von den Grafen von Neuenburg erbaut und war ursprünglich eine Wasserburg mit einem rund 40 m hohen Bergfried und Rundtürmen aus dem 13. Jahrhundert. Die opulente Anlage steht heute im Trockenen und ist von einem grossen Park umgeben, in dem die Gänseblümchen üppig blühten.
 
Der derzeitige Baubestand geht im Wesentlichen auf die Jahre 1627–1936 zurück, insbesondere der von einem Krüppelwalmdach bedeckte vierstöckige, nach Norden sechsseitige Treppenturm. Darin sind verschiedene Verwaltungsabteilungen wie das Regierungsstatthalteramt Nidau, das Handelsregisteramt Berner Jura-Seeland, das Kreisgrundbuchamt Biel Nidau usf. festlich untergebracht; aber hier wohnt kein eigentlicher Vogt mehr. Schöne Holzkonstruktionen wie eine Treppe und Veranda dekorieren die Aussenmauern im Eingangsbereich. Es empfiehlt sich, das Schloss in der Parkanlage zu umrunden und seine mit Eleganz verbundene Wucht auf sich wirken zu lassen.
 
Geschichte der Juragewässer-Korrektion 
„Wenn früher ein Mensch und ein Sumpf zusammenkamen,
verschwand der Mensch, jetzt der Sumpf.“
Otto Neurath
 
Als wir uns dem Eingang des Schlosses Nidau näherten, öffnete sich das Tor wie von Schlossgeisterhand, und wir befanden uns in der Ausstellung „Vom Sumpfland zum Gemüsegarten: Die Geschichte der beiden Juragewässerkorrektionen“. Sie trägt die Handschrift von Matthias Nast, Historiker; er hat auch allgemeine Ökologie studiert und kennt sich also auch in solchen Belangen aus, die in diesem Zusammenhang beinahe wichtiger noch als die geschichtlichen sind. Viele Schautafeln, Karten, Fotos und sogar Fundstücke lehren, dass das nunmehr entsumpfte Seeland nicht immer so grün und fruchtbar wie heute war: „Über Generationen hinweg wurde die Region der drei Juraseen immer wieder von schweren Hochwasserkatastrophen heimgesucht. Die Fluten vernichteten regelmässig Ernten, rissen Brücken weg und überschwemmten Häuser und Ställe. Lange Zeit waren die Menschen diesen Wassermassen schutzlos ausgeliefert. Mit den Juragewässerkorrektionen gelang es, die Hochwassergefahr zu bannen. Diese Werke verwandelten das einst unfruchtbare Gebiet in eine blühende Landwirtschaftsregion. Die Juragewässerkorrektionen stehen symbolisch für die Durchsetzungskraft einzelner Menschen, die an ihre Visionen glaubten und sich weder von politischen Querelen und Intrigen noch von angeblich fehlenden Finanzen beirren liessen.“
 
Wie die Linth aus dem Glarnerland, so führte auch die Aare im Seeland eine grosse Fracht heran – aus Saane, Zulg, Kander und unzähligen Wildbächen. Das Geschiebe blieb von Lyss bis Büren liegen, und der Schuttfächer staute die untere Zihl. In Luterbach bei Solothurn, wo die Emme die Aare erreicht, wurde die Aare ebenfalls aufgestaut. Und auch in diesen Gegenden waren es (wie im Glarnerland) Waldrodungen, welche die Erosion beschleunigten. Das Rekordhochwasser von 1651 führte zu einem einzigen See zwischen Biel und Solothurn, dem so genannten Solothurnersee. Massnahmen zum Hochwasserschutz gab es hier deshalb schon immer, etwa in Gestalt einer Abtragung von Kiesbänken. Und ab dem Beginn des 18. Jahrhunderts kam es zu ersten Korrekturvorschlägen, das heisst zur Idee von grossen Eingriffen ins Naturgefüge.
 
Die Ausstellung im Schloss Nidau gibt einen Überblick über die Juragewässerkorrektionen, stellt die Initianten und Schöpfer dieses Werks vor und zeigt die Auswirkungen auf Menschen und Natur. Daraus ist auch zu entnehmen, dass die Natur die Leidtragende war und ihre gestalterische Kraft im Interesse der hier lebenden Menschen hergeben musste.
 
Sozusagen der Hans Conrad Escher von der Linth ist für das Gebiet des Dreiseenlandes Johann Rudolf Schneider (1804–1880), ein aus Meienried stammender Arzt und Politiker, der sich nach Eschers Vorbild mit der Thematik des Hochwasserschutzes auseinander zu setzen begann, auch unter dem Eindruck des angeblich schlechten Gesundheitszustands der Bevölkerung im Seeland (in der Linthebene sprach man gar von der Malaria). Während mehr als 30 Jahren setzte sich Schneider vehement für das grosse Projekt einer Juragewässerkorrektion ein, namentlich als Volksaufklärer und Präsident des Nidauer Komitees zur Vorbereitung der Arbeiten. Auch als Politiker (Grossrat, Regierungsrat, Nationalrat) kämpfte er für deren Realisierung.
 
So kam es zwischen 1868 und 1891 zur 1. Juragewässerkorrektion, die insbesondere folgende Massnahmen umfasste:
● Ableitung der Aare von Aarberg in den Bielersee durch den neuen Hagneckkanal (Durchbruch des Seerückens zwischen Hagneck und Bielersee); bis dahin hatte sie den Bielersee links (westlich) liegen gelassen.
● Ableitung der mit der Zihl vereinigten Aare aus dem Bielersee durch den neuen Nidau-Büren-Kanal,
● Korrektion der unteren Broye zwischen Murten- und Neuenburgersee (neuer Broyekanal),
● Korrektion der oberen Zihl zwischen Neuenburger- und Bielersee (neuer Zihlkanal),
● Anpassungsarbeiten auf der Flussstrecke zwischen Büren und der Emmemündung in Luterbach bei Solothurn und
● Entsumpfungsarbeiten im Grossen Moos und in den angrenzenden Gebieten.
● Eine Folge: Der Heidenweg hob sich aus dem Bielersee hervor, wodurch die St. Petersinsel zur Halbinsel wurde (siehe Blog vom 15.8.2006: Auf dem Heidenweg durchs Moor zu Jean-Jacques Rousseau).
 
Diese Eingriffe in die Landschaft, vor allem die Umleitung der Aare in den Bielersee (Aarberg–Hagneck) vermochten die Überschwemmungen nicht vollständig zu verhindern, so dass eine 2. Etappe als nötig erachtet wurde. Dabei wurden zwischen 1962 und 1997 die 3 Juraseen durch Verbreiterung und Vertiefung der Kanäle zu einem kommunizierenden System zusammengeschlossen. Das Abflussvermögen der Aare bei Nidau wurde erhöht, und es wurde möglich, das nun einheitliche Seen-Niveau durch das Wehr bei Port und an der Emmemündung bei Zuchwil zu regulieren. Zudem wurde der Seenspiegel nochmals um 1 m abgesenkt – zusätzlich zu den 2,5 m bei der 1. Etappe.
 
Rückreise nach Solothurn
Die wilden Wasser waren also gezähmt, nicht aber unsere Entdeckungsfreude. Wir begaben uns zu Fuss zum nahen Bahnhof Biel und fuhren mit dem Zug, diesem seit 150 Jahren bestehenden schienengebundenen Konkurrenzunternehmen zur Flussschifffahrt, innert 14 Minuten nach Solothurn zurück – zu einem Viertel des Schifffahrtpreises. Aber das Erlebnis war schon nicht dasselbe.
 
In Solothurn erklommen wir zum Abschluss des Ausflugstages noch den 66 m hohen Zwiebelturm der Kathedrale St. Ursen. 249 Treppenstufen (zuerst aus Stein, dann aus Holz) waren zu besteigen (ohne die Stufen der vorgelagerten berühmten Pisoni-Freitreppe einzuberechnen), bis die auskragende Turmterrasse erreicht war. Von dieser aus geniesst man einen herrlichen Ausblick auf die auffallend geschlossene Solothurner Altstadt mit ihren lebhaft geformten Ziegeldächern und die weite Umgebung rundum. Und an der Kuppel vorbei betrachtete ich noch einmal die Aare, wie sie zwischen eleganten Gebäuden in eleganten Schwüngen jene Stadt erreicht, die vieles zu bieten hat und in welcher der Hafen kaum noch eine Rolle spielt. Der Wein wird nicht mehr fassweise, sondern nur noch in Fläschchen auf der Aare transportiert.
 
Quellen
Liechti, Erich; Meister, Jürg, und Gwerder, Josef: „Die Geschichte der Schiffahrt auf den Juragewässern“, Verlag Meier, CH-8201 Schaffhausen, 1982.
 
Hinweise
Ausstellung im Schlossmuseum Nidau:
 
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