Textatelier
BLOG vom: 25.05.2007

Flachsee im Aargauer Reusstal: Korrigierte Naturlandschaft

Autor: Walter Hess, Biberstein CH
 
In einem Blog über Überschwemmungen und einen falsch konstruierten Brunnen habe ich am 25. 8. 2005 im Brustton der Überzeugung geschrieben, Wasser pflege abwärts zu fliessen. Doch sei dieses Wissen inzwischen vielerorts verloren gegangen. Inzwischen bin auch ich nicht mehr so sicher, ob die Sache mit dem naturgesetzlichen Bachab zutrifft. Man unterstelle mir nicht, komplett übergeschnappt zu sein. Ich kann nämlich gute Gründe für meine Zweifel nennen:
 
Auf der Frontscheibe des fahrenden Autos fliesst das Regenwasser häufig aufwärts. Vollständig verunsichert haben mich verschiedene Wanderungen im Bereich „korrigierter“ Flüsse, insbesondere in der Linthebene und am Hagneckkanal (in den Bielersee umgeleitete Aare zwischen Aarberg BE und Hagneck BE im Rahmen der beiden Juragewässerkorrektionen) im Grossen Moos (Berner Seeland). Wenn der Bielersee aufgestaut wird, kommen auch der Broyekanal und der Zihlkanal nicht mehr draus. Sie fliessen manchmal rückwärts. Und am 18. 5. 2007 erlebte ich ähnliche Naturwunder bei meiner Wanderung um den Flachsee im aargauischen Reusstal zwischen Hermetschwil und Rottenschwil (Freiamt bzw. teilweise im Kelleramt). Dort beobachtet der einsame Wanderer, dass die Flüsse mehrere Meter weit oberhalb der Talebene fliessen, und unten in der Ebene zirkulieren Entwässerungskanäle in verschiedenen Richtungen, wenns sein muss auch einmal gegen die Talneigung. Pumpen pumpen das Wasser aus dem Talgrund hinauf in die gebändigte Reuss, die Bestandteil eines künstlichen Systems sind. Dieses funktioniert nur, so lange gepumpt und die Dämme unterhalten werden. Im unteren Aaretal und in der Linthebene sorgen Dämme ebenfalls dafür, dass Wasser weit oberhalb des Talbodens fliessen kann, ein typisches Erkennungsmerkmal für Kunstlandschaften.
 
Die „Korrektionen“ der Flussläufe fanden in der Regel in Gebieten statt, in denen seinerzeit ordnungsgemäss abwärts fliessendes Wasser alter Schule manchmal zu einer Überschwemmung ausholte, herrliche, rekordverdächtig artenreiche Auenlandschaften mit dem köstlichen Nass tränkten, die Landwirtschaft und die Häuserbauer in Schranken wies.
 
Die Zeitalter der Korrektionen
Viele „Korrektionen“ (ich plappere dieses schönfärberische Wort hier einfach unkritisch nach; es bedeutet Berichtigung, Verbesserung) fanden vor etwa 1 bis 2 Jahrhunderten statt (Linth, Juragewässer). Doch die „Sanierung“ (noch so ein Euphemismus wie „Melioration“ auch) der aargauischen Reussebene erfolgte von 1971 bis 1985, das heisst sie ist also wesentlich jüngeren Datums. Diese Melioration fand in Jahren der Hochkonjunktur statt, ohne wirtschaftliche Not und Gefahr, ohne Hungersnöte – ja, die auf Hocherträge getrimmte Landwirtschaft produzierte sogar zu viel und obendrein noch zu riskant.
 
Die schrittweise Begradigung und Eindämmung der Reuss hatte allerdings schon um 1840 begonnen. Dadurch entstanden die Altarme: abgehängte Schleifen, die langsam verlandeten.
 
Der Naturschutz entschlüpfte in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts an vereinzelten Orten den Kinderschuhen. Das war denn auch der Grund dafür, dass beim Aufstau der Reuss dort, wo sie einst fröhlich mäandriert (sich in Schlingen bewegt) hatte, wenigstens einige ökologische Anliegen ins Korrektionswerk einflossen.
 
Wie es zur Reusstalabänderung kam
Wie bei all den Korrektionen, brauchte es eine treibende Kraft, um eine politische Mobilmachung herbeizuführen. Im Reusstal war es der Schmiedemeister Roman Käppeli aus Merenschwand AG, der es schon von Berufes wegen gewohnt war, draufzuhauen. Er vertrat anfänglich, am Ende der 1950er-Jahre, wohl etwas einseitig die Interessen der Landwirtschaft, erweiterte dann aber seinen Horizont und schwenkte auch auf andere Belange wie den vorgesehenen Neubau des Kraftwerks Bremgarten AG anstelle des alten Werks Emaus, und damit der Energiewirtschaft, aber auch auf den Naturschutz, ein. Das kuhhändlerische Schliessen von Kompromissen endete in einem so genannten „Verständigungswerk“, das in Gesetzesform zum Reusstalgesetz wurde, welches das Aargauervolk am 14. Dezember 1960 mit 32 557 Ja gegen 30 521 Nein eher knapp angenommen hat. Die Freiämter trifft keine Schuld; die Bezirke Bremgarten und Muri waren dagegen, und sogar 5 der 10 betroffenen Reusstalgemeinden sagten Nein, mussten sich aber der Mehrheit fügen, und das Werk wurde verwirklicht. Die Mehrheit zählt, ob sie nun Recht hat oder nicht. In einer anständigen Demokratie hat sie immer Recht.
 
Ein Denkmal des Zeitgeistes
Zu den Gegnern der Reusstalsanierung gehörte der Ökologe Heiner Keller (Autor des Textatelier.com-Buchs „Bözberg West“), der nicht fassen konnte, dass sich die Wasserwirtschaft durchsetzen konnte und sich die Naturschutz-Vertreter nur noch auf die Flachsee-Idee zurückziehen konnten. Als Redaktionsleiter der Zeitschrift „Natürlich“ bat ich Keller, seinen Frust im Klartext niederzuschreiben. Mein damaliger Stellvertreter Peter Gloor, dessen Hobby unter anderem das Ausgraben beerdigter (in Rohre verlegter) Bäche war, betreute die Entstehung der 11 Seiten umfassenden Reportage und wirkte als Autor am Artikel über „Glorie und Wirklichkeit der Reusstalsanierung“ (Haupttitel: „Ein Denkmal des Zeitgeistes“) tatkräftig mit, die im April 1989 erschienen ist. Bereits auf dem Titelblatt wurde der Ausgestorbenen gedacht: Wiedehopf, Brachvogel und Raubwürger. Doch zu ändern war jetzt nichts mehr. Der Brachvogel hatte ausgeflötet, und die Streuewiesen, einzigartige Biotope, hatten dramatisch abgenommen.
 
Streuewiesen (Riedwiesen) sind dauernd feuchte, von Sauergräsern wie der Steifen Segge und dem Pfeifengras dominierte Wiesen und Moore, die durch Entbuschen und regelmässiges Mähen aus ehemaligen Sümpfen entstanden sind, welche mit Gehölzen durchsetzt waren. Sie lieferten den Bauern ein begehrtes Einstreumaterial (Schwarzstroh), das saugfähiger als Getreidestroh ist und im Mist auf dem Feld schneller verrottete. Die Bauern von damals pflegten einen sorgfältigen Umgang mit diesen Flächen, wie auf einer Hinweistafel im Reusstal zu lesen ist: „Sie schnitten so spät wie möglich im Jahr, erst, wenn sich die wenigen Nährstoffe aus den Blättern in die Wurzeln zurückgezogen hatten. Sie standen so den Pflanzen im nächsten Jahr wieder zur Verfügung.“ Zudem sind diese speziellen Wiesen von vielen Arten besiedelt: Im Frühjahr sind sie voller Orchideen, Primeln und Schwertlilien, im Sommer ein Eldorado für Heuschrecken, Libellen, Tagfalter sowie Sumpfvögel und im Herbst, vor der Ernte, ein einmaliges Natur-Erlebnis in Gelb-Braun-Rot.
 
Flachsee-Tourismus
Der Flachsee wurde zu einem Anziehungspunkt für Ornithologen und Naturschützer. Originalton Gloor/Keller: „Ein riesiger Strom an Erholungssuchenden ergiesst sich jedes Wochenende über die nahen Hügel aus der Agglomeration Zürich in die vermeintliche Natur. Parkplätze in reicher Zahl beweisen die Erholungsfunktion des Reusstals sichtbar in der Landschaft. Tausende von Besuchern spazieren jeweils auf geteerten Wegen und konsumieren in Halbschuhen die ,Sonntagmittagnatur’. Die spektakuläre Kunstlandschaft wird, besonders auch von den Kindern, als aktuelle Natur verstanden. Die Folge ist, etwas längerfristig betrachtet, verheerend: Nicht nur die Naturlandschaften wurden ausgerottet, auch das Wissen um sie verschwindet. Der Mensch passt sich an einen Landschaftsgarten oder einer ‚Disney-Natur’ an. Wenige Generationen später wird dies als die wirkliche Natur verstanden. Ganze Gesellschaften werden folglich nicht mehr verstehen können, weshalb es Heuschreckeninvasionen, Überschwemmungen, Dürrezeiten, Fröste usw. geben kann. Alles wird man zu verhindern versuchen. Naturgewalten können auch heute schon vielerorts nicht mehr akzeptiert werden. Psychiater können mit Recht von einer neurotischen Gesellschaft sprechen, die jedes Bakterium, jeden Pilz und jeden Virus vom Menschen und jeden so genannten ‚Schädling’ von den Nutzpflanzen und Tieren fernhalten wollen.“
 
In diesem Stil ging es dann geradezu prophetisch weiter. Orwells „1984“ lag hier sozusagen als Keller/Gloors „1989“ vor. Eine der vielen Bestätigungen findet sich gerade im Vogelgrippe-Schutzmasken-Theater, dieser vom schweizerischen Bundesamt für Gesundheit BAG inszenierten Schmierenkomödie mit untauglichen Masken als Hauptdarstellern bzw. Virenfängern. In der Schweiz sind die wohlgenährten Viren eben etwas grösser, so dass sie sich in Tüchlein verhaspeln können.
 
Die Sache mit der Keiljungfer
So weit etwas Vorgeschichte der Vorgänge im Reusstal, die der Fortsetzung zwingend bedarf: So wanderte ich am 6. April 2007 zum Schloss Habsburg (siehe Blog von 10.4.2007: Vom Schloss Wildegg zur Habsburg, vorbei an Bohnerz u.a.), und am Fusse des Schlosses, das allein durch sein Erscheinungsbild Macht und Widerstand ausdrückt, traf ich meinen früheren Redaktionskollegen (vom „Aargauer Tagblatt“), Hans-Peter Widmer, der ebenfalls pensioniert ist. Wir sprachen über die Bedeutung der Habsburger für den Aargau und versuchten einander in Schilderungen über unsere eigenen nicht erlahmenden publizistischen Aktivitäten zu übertreffen. Das war denn auch die Gelegenheit dafür, dass mir Hans-Peter von seinem druckfrischen Büchlein „Keiljungfer und Knabenkraut. Die Natur- und Kulturlandschaft Reusstal“ erzählte, das er im Auftrag der Stiftung Reusstal verfasst hatte. Er wolle mir ein Exemplar schenken, sagte er, worauf ich mich verlassen konnte. Hans-Peter ist die personifizierte Gewissenhaftigkeit.
 
Seine prompt eingetroffene Schrift beschreibt die 3000 Hektaren umfassende Landschaft mit ihren Pflanzen und Tieren zwischen Hermetschwil und Mühlau, wie sie durch Gletscher, die Reuss und dann eben den Menschen während Jahrtausenden geformt worden ist, und in ihrem heutigen Zustand. Sie ist als eines der ersten Objekte 1977 ins Bundesinventar der Landschaften von nationaler Bedeutung aufgenommen worden. Und so motiviert die Broschüre denn dazu, im Frühjahr die blauen Felder der Iris sibirica zu besichtigen und eine Begegnung eben mit der filigranen Libellenart der Keiljungfern und den wunderbaren Orchideen und dergleichen Natursensationen zu suchen.
 
Im Moment scheint ohnehin die Zeit der Libellen zu sein: Die Abteilung Landschaft und Gewässer des aargauischen Departements Bau, Verkehr und Umwelt schenkte mir soeben die taufrische Schrift „Die Libellen im Kanton Aargau“ (Sondernummer 23 der Zeitschrift „Umwelt Aargau“, herausgegeben von Isabelle Flöss und verfasst von Gerhard Vonwil und Rudolf Osterwalder). Darin sind die Entwicklung von Artenzahlen und Imaginesbeständen (Imago = vollentwickeltes Insekt, hier flugfähige Libellen) auch im Reusstal exakt dokumentiert und porträtiert. Im oberen Reusstal (zwischen Mühlau und Bremgarten AG) als bedeutendstem Libellenstandort im Aargau kam es laut dieser Schrift zu einer Stabilisierung und sogar zu einer leichten Bestandeszunahme. Aber Klimaerwärmungen sind eine Gefahr für Flachwasserlibellen, ebenso wie der zunehmende, flächendeckende Nährstoffeintrag durch Luftschadstoffe. Die Grüne Keiljungfer ziert das Titelblatt dieser fachlich hochstehenden Schrift, die auch viele Angaben übers Libellenleben gibt und Zuversicht verströmt: „Wenn auch die Mittel und der Wille vorhanden sind, dieses Wissen umzusetzen, wird die hohe Libellenvielfalt im Aargau erhalten bleiben.“
 
Noch immer hat das Reusstal vieles zu bieten, wie man sieht.
 
Augenschein rund um den Flachsee Unterlunkhofen
Ich folgte all den Verlockungen am strahlenden Freitag nach dem verregneten Auffahrtstag und traf im Reusstal, diesem fragilen Naturpark, Bilder fürs Bilderbuch an. Das Auto kann man beim blitzblanken Frauenkloster (Benediktinerabtei) St. Martin Hermetschwil auf einem grossen Parkplatz abstellen. Die eindrückliche Anlage wurde 1082 von Abt Giselbert gegründet und in der heutigen Form zwischen 1557 und 1727 erbaut. Der Besucher durchschreitet den Torbogen, wird ans „Ora et labora“ des heilig gesprochenen Benedikt erinnert und kann dann, gegebenenfalls auch ohne gebetet und gearbeitet zu haben, auf einer langen Seitentreppe aus Zementstufen, neben der alte Ziegelbruchstücke liegen, zur Reuss hinuntersteigen.
 
Dieser Fluss kam hochwasserverdächtig in Braunfärbung bedächtig daher. Und der unscheinbare Rotbach, der Torf aus 2 Moorgebieten oberhalb von Staffeln mitschwemmt, hatte beim Dominilochstäg (Dominilochsteg) alle Mühe, das Braun des Flusswassers noch etwas nachzudunkeln. Aber es gelang. Ich wechselte die Flussseite (ans rechte Ufer) über die gedeckte Holzbrücke (den erwähnten gedeckten Steg). Sie ist dort, wo eine Endmoräne das Tal quert. Ich folgte den Wegweisern gegen Rottenschwil; doch kann man sich hier ohnehin nicht verirren. Der breite Naturweg führt in der von Gletschern geprägten Eiszeitlandschaft mit ihren Moränenzügen in respektvoller Distanz der Reuss entlang, im Grenzbereich von Landwirtschaft und Natur. Die Gelbe Schwertlilie (Iris faux acore) stand in voller Blüte. Nach knapp 1 km wird der kleine, landwirtschaftlich geprägte Weiler Geisshof sichtbar, und dann öffnet sich eine interessantere Landschaft: Die Wasserfläche wird grösser, der Flachsee mit seinen Inselchen in der Form von Croissants gerät ins Blickfeld. Beim Geisshof durfte ein Rest des ehemaligen Auenwaldes bestehen bleiben.
 
Alles ist wohlorganisiert: Ein „Biotop aus Menschenhand“, wie Widmer über den 43 Hektaren umfassenden, bis zu 300 m breiten Flachsee (380 m ü. M.) schrieb, der nach dem Stauwehrbau Bremgarten-Zufikon entstanden ist. Viele Uferzonen sind aus Naturschutz- bzw. Vogelschutzgründen sinnvollerweise unzugänglich. Der Besucher wird durch ausführlich beschriftete Orientierungstafeln informiert, was Sache ist und warum dies so sein muss, ein bisschen Naturkundeunterricht an Ort und Stelle. Ich freue mich immer über neue Einsichten. So habe ich zum Beispiel gelernt, dass der Flachsee Unterlunkhofen nur an wenigsten Stellen mehr als 2 m tief ist und die Kiesinseln ein Lebensraum für bodenbrütende Vogelarten der Flussaue wie den Flussregenpfeifer sind. Hier wird die Kiesabdeckung durch Entfernung des Pflanzenmaterials geschützt, ansonsten sich ein Weiden-Erlenwald entwickeln würde. Und beim Lesen habe ich auch erfahren, dass sich die Verlandungsflächen aus feinem Reusssediment, die so genannten Schlickbänke, zu interessanten Nahrungsplätzen für Wasservögel und durchziehende Watvögel (Limikolen) entwickeln; allerdings werden sie allmählich von Pflanzen wie dem grossen Süssgras überwachsen. Die Watvögel wie der Rotschenkel haben lange Beine und einen langen Schnabel, stehen im Flachwasser und stochern im Schlick nach Nahrung.
 
Eine Pumpstation, ebenfalls aus Menschenhand, beförderte noch in den vorangegangenen Tagen gefallenes Regenwasser in höhere Sphären, ein ständiger Kampf gegen die Schwerkraft, die wir Menschen schon noch überwinden werden, wo uns das noch nicht gelungen ist. Eine Frage der Technik und der Energie. Ein Leben auf Pump und auf der Grundlage von Pumpen.
 
Ein älteres Ehepaar, dem mein lebhaftes Interesse für alle Naturäusserungen aufgefallen sein musste, sprach mich an und fragte, ob ich denn Ornithologe sei. Da ich einen entsprechenden Test wohl kaum bestanden hätte und auch um der Wahrheit willen, verneinte ich. Ich sei einfach ein Naturfreund. „Das sind alle, die hier sind“, sagte der Mann auf meine etwas verallgemeinernde Antwort. In freundschaftlicher Art erkundigte er sich, ob ich den Kiebitz im Maisacker, etwas weiter oben, gesehen hätte. Ob er verletzt sei, war meine spontane Frage, eingedenk des Umstands, dass Vögel in der Regel fliegen. Doch hatte ich unbeachtet gelassen, dass der Kiebitz eben ein Bodenbrüter ist und sich zur Nahrungssuche gern in Wiesen und offenbar auch in Äckern umhertreibt. Ich sah das schöne Tier vom Rand des Maisfelds problemlos, eine Rarität. Der Kiebitz richtete die Federholle (die schwarze Haube) stolz auf und kam mir in seinem festlichen weiss-schwarzen Kleid gemessenen Schritts entgegen, allerdings ohne jodelnde Rufe von sich zu geben, was ich sehr zu schätzen gewusst hätte.
 
An Vögeln, vor allem Wasservögeln, besteht rund um den Flachsee kein Mangel, und das gesamte Sortiment wird an Aussichtspunkten mit Bild und Text vorgestellt; es empfiehlt sich also dringend, den Feldstecher mitzunehmen. Hier sind an Brutvögeln neben dem Kiebitz der Zwerg- und Haubentaucher, Stock-, Reiher- und Tafelente, Teich- und Blässhuhn, Flussregenpfeifer, Eisvogel, Teich- und Sumpfrohrsänger und die Rohrammer vertreten. Als Wintergäste tauchen jeweils der Kormoran, Tafel-, Reiher-, Schnatter-, Krick-, Pfeif- und Schnellente sowie Gänsesäger auf. Und zu den Durchzüglern gehören Knäk-, Löffel- und Spiessenten, Rohrweihen, Fischadler, Alpenstrandläufer, Kampfläufer, Bekassine, Dunkle Wasserläufer und Waldwasserläufer sowie Grün- und Rotschenkel, Flussuferläufer und Trauerseeschwalben. Nasse Lebensräume sind für die scheuen und bedrohten Brutvögel am Wasser enorm wichtig, weil viele Seeufer durch die menschliche Übernutzung für sie nicht mehr geeignet sind.
 
Mittagszeit
In Unterlunkhofen steuerte ich bei aggressiver Mittagssonne dem erstbesten Gasthof zu, dem „Rebstock“, in dem ich mich etwas stärken wollte. Ich bestellte eine Stange trübes Erdinger Weissbier, das eine stolze Krone hatte, und einen Siedfleischsalat. Dieser machte dann einen gewissen Sortierungsaufwand nötig – oder anders ausgedrückt: Wegen diesem Tellergericht würde ich nicht extra ins Reusstal verreisen, auch wenn die Bedienung noch so freundlich war. Mir gegenüber war ein Zigarettenautomat stationiert, der als Fussnote verkündete: „Rauch fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu.“ Ich staunte über die hohen Päcklipreise (etwa 6 CHF); doch wurde im Restaurant unverdrossen geraucht, was beweist, dass Abschreckungsmassnahmen wenig fruchten.
 
Ich gönnte mir, eingedenk dieses Umstands und um mich nicht schon wieder als Aussenseiter fühlen zu müssen, einen kleinen Villiger-Stumpen, als ich die Reussbrücke nach Rottenschwil überquerte. Sie wurde in genieteter Stahlbauweise erstellt und ist jetzt 100 Jahre alt: Sie wurde am 28. Juli 1907 eingeweiht und 2003 um 1,2 m angehoben, kurz vor Ankunft des Hochwassers im August 2005. Unter ihr badeten Heerscharen von Wasservögeln, vor allem Schwäne und Stockenten. Eine Tafel bat die Leute, die zutraulichen Tiere ums Himmelswillen nicht zu füttern, ansonsten sie sich noch mehr vermehren und die Tragfähigkeit des Gebiets übersteigen würden. Insbesondere die Zahl der Schwäne ist in letzter Zeit stark angestiegen, so dass es oft zu einem Hickhack kommt; denn hohe Bestandesdichten führen zu Aggressionen (nicht allein bei Schwänen; ich denke da an Grossraumbüros). Enten scheiden mit ihrem Kot etwa halb so viele Fäkalbakterien aus wie ein Mensch. Und liegen gebliebenes Brot zieht die Ratten an, welche ebenfalls Krankheiten verschleppen können.
 
Im Garten des Gasthofs zum Hecht in Rottenschwil trank ich im Schatten eines Baums einen Kaffee und bestaunte während dieses Genusses einen Granitstein beim Hauseingang, der mit 2 Wellen verziert war. Über (und nicht etwa unter) den Wellen war ein kunsthandwerklich geschmiedeter Hecht angeordnet. Ich dachte mir, dass mit der Zeit vielleicht auch die Fische über dem aufwärts fliessenden Wasser schwimmen werden.
 
Rottenschwil
Rottenschwil ist ein Strassendorf. Die Bewohner betrieben früher eine Fähre über die Reuss, und die Taverne „Zum Hechten“ ist schon in alten Schriften erwähnt. Die Rottenschwiler hatten sich daran gewöhnt, mit Überschwemmungen zu leben, die sie oft um die Früchte ihrer Äcker und ihrer harten Arbeit brachten. Heute zählt die trocken gelegte Gemeinde über 800 Einwohner; in der naturnahen Umgebung wurde sie zu einem begehrten Wohngebiet. Die „Stilli Rüss“, ein gebogener Altarm, erinnert noch an den ehemals schwungvollen Reusslauf. Seit 1860 ist der Fluss in einem vertieften Bett gebändigt.
 
Im Zieglerhaus in Rottenschwil ist die Stiftung Reusstal zu Hause. Sie ist für Besucher nur auf Voranmeldung offen (Adresse am Schluss dieses Blogs).
 
Rückweg nach Hermetschwil
Der Rückweg am linken Ufer zum Kloster Hermetschwil (wiederum etwa 1 Stunde) war von grossen Ausflüglermengen bevölkert, und die Aussichtsinseln mit den vogelkundlichen Informationen erfreuten sich eines regen Zuspruchs. Man kommt an einer Pumpstation vorbei, kann sich an einem Blick aufs Rottenschwiler Moos erfreuen, eine sanfte, weiche Landschaft hinter dem Damm, deren Braun-, Violett- und Grüntöne sich im stillen Wasser spiegeln. Die Pflanzen scheinen aus dem feuchten Gebiet förmlich emporzuschäumen.
 
Grosse Hinweistafeln an der beruhigten, aufgestauten Reuss geben bekannt, dass für Schiffe die Durchfahrt bis 25 m entlang dem linken Damm vom 16. März bis 31. Oktober gestattet sei. Ich habe nur gerade ein gelbes Gummiboot gesehen. Vor Hermetschwil stand eine Margritenwiese in voller Blüte – vor der dunklen Kulisse einer grossen Christbaumkultur mit den Nadelbaumexoten. Und dann stellte sich der vertraute Anblick des Klosters Hermetschwil wieder; es ist seit 1973 rechtlich wiederhergestellt.
 
Es war kurz nach 15 Uhr, als ich auf diese imposante Anlage zuschritt. Die Glocken läuteten wie zu meinem Empfang. Doch weiss ich, dass damit Gläubige in die Kirche gelockt werden. Für einmal gab ich diesem Lockruf nach und wagte einen Blick in die Pfarrkirche, betrat das nachgotische Laienschiff und betrachtete den frühbarocken Hochaltar (1657–1659) von Gregor Allhelg, Hans Stutz sowie Bartholomäus Denzler und den spätbarocken Freskenzyklus von Franz Anton Rebsamen ehrfurchtsvoll, wie es sich gehört. Eine Benediktinerin war im Altarbereich mit Reinigungsarbeiten beschäftigt, und wir begrüssten uns mit unterdrückter Stimme. Darf man in einer Kirche grüssen? Ein campherartiger Duft schlug mir in die Nase, und ich wusste nicht, ob er von Räuchermitteln stammte oder zu Desinfektionszwecken eingesetzt wurde. Ich nehme Kirchenräume immer stark mit der Nase wahr, und ergreife deshalb manchmal die Flucht. Eine Überdosis an Campher kann zu Übelkeit, Verwirrtheit und Ängsten führen, nicht aber bei mir.
 
Ich steuerte innerhalb der reizvollen, geschlossen wirkenden, aber nicht etwa abweisenden Anlage klaren Sinnes dem Klosterlädeli zu, zog an einem Griff, der über Drähte eine Glocke im Inneren des Hauses in Bewegung setzte. Ich dachte an Quasimodo, den Glöckner von Notre-Dame zu Paris. Bald erschien eine gross gewachsene, freundliche, ja strahlende Benediktinerin in der schlichten grauen Alltagstracht mit Haube. Sie führte mich zügigen Schritts zum Sortiment, das aus verschiedenen Salben und Likören sowie Kloster-Chräpfli besteht, die geschmacklich an Lebkuchen erinnern und bekömmlich sind. Etwas Kaffee oder Tee muss man dazu schon haben. Zudem gibt es Informationsmaterial, Strickwaren, Devotionalien usf. Ich kaufte neben den Chräpfli eine hausgemachte Braunellsalbe („gegen Spannungsgefühle in den Beinen und Armen“), eine Beinwellsalbe als weitere Wohltat für die Beine und einen Himbeerlikör aus Eigenproduktion ... „empfohlen zur Stärkung von Herz und Kreislauf“: sehr süss und mit wirklich intensivem Beerengeschmack, aber ohne nennenswerten Anklang an vergeistigenden Alkohol (oder Givaudan). Alles wurde in kleine handgefertigte, schöne Papiertäschchen verpackt, unterbrochen durch einen Handyanruf. Eine Frau bot Strickwaren zum Weiterverkauf an, und die Klosterfrau bewies ihr administratives Talent. Geschäftsalltag.
 
Ich fragte die Benediktinerin nach ihrem Namen: Consolata, also: „die Trösterin“. Ob ich die Lauretanische Litanei kenne, fragte mich die Dame, als ob diese zum landläufigen Repertoire gehören würde. Nun sind Litaneien (langatmige Aufzählungen von Wünschen und Klagen) nicht mein Spezialgebiet, und meine Gedanken waren eher bei Wasservögeln und beim fliegenden Hecht. Ich hatte die Lauretanische zwar in ganz jungen Jahren ebenfalls mitbeten müssen („Heilige Maria, bitte für uns. Heilige Mutter Gottes, bitte für uns“ und weitere fantasievolle Aufrufungen Mariens), ohne damals den Fachbegriff „Lauretanische Litanei“ gekannt zu haben. Ich staunte aber schon damals über die bei aller Flachheit unendliche Weite der Verherrlichungssprache („Mutter des Schöpfers; Mutter, du Reine, du Keusche, ohne Makel, Mutter so wunderbar“ usf.). Die Litanei endet mit den Worten des Vorbeters: „... nimm von uns die Traurigkeit dieser Zeit, dereinst aber gib die ewige Freude.“
 
Irgendwie scheint dieser Aufruf bei Schwester Consolata gewirkt zu haben. Sie verabschiedete mich so, wie sie mich empfangen hatte: freudestrahlend.
 
Und den Trost, den sie mir mitgegeben hat, werde ich sinnvoll portioniert einsetzen, wenn ich wieder durch Menschen umgewandelte Landschaften wandeln bzw. wandern werde.
 
Danke, liebe Consolata.
 
Hinweise
Informationen über Natur und Landschaft: www.ag.ch/alg
 
Stiftung Reusstal
Josef Fischer, Geschäftsführer
Hauptstrasse 8 (Zieglerhaus)
CH-8919 Rottenschwil
 
Hier kann auch die Schrift „Keiljungfer und Knabenkraut. Die Natur- und Kulturlandschaft Reusstal“ von Hans-Peter Widmer bezogen werden.
 
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