Textatelier
BLOG vom: 15.06.2007

Artenschutz für bedrohte Wörter: Vom Kleinod zum Schlüpfer

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
„Ach, wer bringt die schönen Tage,
Jene Tage der ersten Liebe,
Ach, wer bringt nur eine Stunde
Jener holden Zeit zurück!“
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)
 
„Holder Friede
Süsse Eintracht,
Weilet, weilet
Freundlich über diese Stadt!“
Friedrich von Schiller (1759–1805)
 
Sowohl Johann Wolfgang von Goethe als auch Friedrich von Schiller und andere Dichter verwendeten das Wort „hold“ immer wieder in ihren Werken. Heute steht dieses Wort auf der Liste der bedrohten Wörter an 9. Stelle.
 
Hold bedeutet günstig gesinnt, gewogen, angetan, lieblich, bezaubernd, anmutig und zierlich. Ich bin überzeugt, heute würde wohl kaum noch ein Mensch so sagen oder schreiben: „Du, mein holdes Weib“ oder „Das ist ein holdes Mädchen“. Anderseits könnte man einen Glückspilz so bezeichnen: „Das Glück war ihm hold.“
 
Warum ich darauf komme, ist leicht erklärt. Dieser Tage wurden die Ergebnisse des Wettbewerbs „Das bedrohte Wort“ (Dezember 2006 bis 15. Mai 2007) publiziert. Es sind Wörter, die im deutschen Sprachgebrauch auf der „Abschussliste“ stehen, wie man so sagt. Sie verschwinden still und leise. Auf der anderen Seite entstehen täglich neue Wörter, die man Neologismen nennt.
 
Die Jury wählte aus 2982 Einsendungen (darunter waren 2000 verschiedene Wörter) die 10 besten Wörter aus und prämierten diese.
 
Zur Jury gehörten Michael Angele (Kritiker und Essayist aus Aarberg BE/Schweiz), Jakob Hein, Schriftsteller, Eva Menasse, Schriftstellerin, Marco Scheider, Germanist am Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm, und Bodo Mrozek, Autor und Journalist.
 
Hier die Top-10: Kleinod, blümerant, Dreikäsehoch, Labsal, bauchpinseln, Augenstern, fernmündlich, Lichtspielhaus, hold und Schlüpfer.
 
Weitere Nennungen, die nicht prämiert wurden, waren u. a.: Backfisch, hanebüchen, Sommerfrische, Pfennigfuchser, Bratkartoffelverhältnis, Steckenpferd, Fisimatenten, Hagestolz (= älterer Junggeselle), wohlfeil, Firlefanz, Stelldichein, Wuchtbrumme, Augenweide, Anmut, garstig, Kaltmamsell, Kinkerlitzchen, Kokolores.
 
Schreiben Blogger mit bedrohten Wörtern?
Ich wollte einmal wissen, ob unsere Blogger auch bedrohte Wörter in ihren geistigen Ergüssen verwenden (es wurden nur die Top-10 der Wörter gesucht). In den gesamten Publikationen im Textatelier.com entdeckte ich unter „Suchen“ 2 Mal das Wort „Kleinod“, 1 Mal das Wort „Labsal“, 1 Mal „bauchpinseln“, 1 Mal „fernmündlich“ und 2 Mal „hold“ (bei „hold“ sind 18 Nennungen, darunter auch die Bezeichnungen Reinhold und Wacholder).
Die Worte blümerant, Augenstern, Lichtspielhaus und Schlüpfer kommen nicht vor.
 
Hier einige Beispiele: Ich schrieb im Blog „Neuer Kanton, Nachbeben auf dem Klo“ über Kurioses und Bemerkenswertes während und nach einem Erdbeben und führte das Wort Labsal auf. „Nach der jetzigen seismischen Aktivität (5. Dezember 2004) wanderten wir zunächst einmal aufs Klo. Dann kehrte wieder Ruhe ein, und wir konnten uns wieder der ‚süssen Labsal’ (so nannte Euripides den Schlaf) voll und ganz hingeben.“
 
Walter Hess schrieb unter Virtualität (unter Erlebnishunger) Folgendes: „Ein ähnliches Gefühl des Eintauchens in flüchtige Scheinwelten erlebten wir betagteren Semester in unserer holden Jugendzeit etwa bei Kinobesuchen, wenn auch in leicht modifizierter Form.“ Hess, der immer wieder auch auf aussterbende Wörter zurückgreift (das passiert mir ebenso), hat das herrliche Wort „bebauchpinseln“ in seinem Repertoire. Er schrieb in der Abhandlung „Ein Kapitel Zeitungsgeschichte: Nonsens aus Grossraumbüros“ unter dem Kapitel „Konzernjournalismus“ dies: „Die zum gleichen Konzern gehörenden verschiedenartigen Medien bebauchpinseln sich gegenseitig, bis sich beim Publikum der Überdruss einstellt, das ist nicht nur in den USA so.“
 
Das Verb „bauchpinseln“, das schmeicheln bedeutet, kommt nicht mehr im Duden (Ausgabe von 1996) und auch nicht im „Deutschen Wörterbuch“ von Gerhard Wahrig (Ausgabe von 1971) vor.
 
Bernhard Tritschler, schrieb unter „Die Kultur der Mobiltelefone“ Folgendes:
„Allerdings sind wir nun zu unfreiwilligen Zuhörern beim fernmündlichen Austausch von Banalitäten geworden.“
 
Augenstern und Schlüpfer
Früher hörten wir immer wieder das Lied „Püppchen“ (1929) von Jean Gilbert (Musik). Getextet wurde dieses Lied von Alfred Schönfeld. Darin kam das Wort „Augenstern“ vor. Scherzhaft sangen wir in unserer Jugend mit. Hier die 2. Strophe mit dem Augenstern: 
„Püppchen, Du bist mein Augenstern
Püppchen, hab Dich zum Fressen gern
Püppchen, mein süsses Püppchen
Nein ohne Spass
Du hast so was!
Püppchen, Du bist mein Augenstern …“ 
Heute würde kein Mann auf die Idee kommen, eine Frau so anzuhimmeln: „Meine Holde, du bist mein Augenstern“; er würde sicherlich zeitgemässere Wörter gebrauchen.
 
„Liebling, Du hast deinen Schlüpfer vergessen“, würde wohl heute keiner mehr sagen. Auch eine Verkäuferin wird in unserer Zeit dieses Wort nicht mehr in den Mund nehmen. Sie würde vielleicht sagen: „Gnädige Frau, die Schlüpfer finden Sie in der 1. Etage.“ Auch in den gängigen Katalogen von Versandfirmen findet man den Schlüpfer nicht mehr. Im Inhaltsverzeichnis wird man unter „Unterwäsche“ oder „Dessous“ fündig. Von den Bezeichnungen wird es einem Mann ganz schwindlig. Ich bin überzeugt, dass die meisten Männer die folgenden Bezeichnungen gar nicht kennen (gefunden im „Schwab“-Katalog Frühjahr/Sommer 2007): Tangas, String, Stringpanty, Slip, Bikinislip, Hüftslip, Taillenslip, Jazzpants, Hipsterpanty, Hipster, Bauch-Control-String, Bauch-Control-Slip und diverse Formslips.
 
Von einem Hipster oder Hipsterpanty habe ich bisher auch noch nie etwas gehört. Hipster sind Slips. Sie haben eng anliegende längere Beine und sitzen auf der Hüfte. Oben verlaufen sie eher gerade. Alles klar?
 
Peinlich wird es, wenn eine Frau nach dem Einkaufen ihrem Mann erzählt, sie habe einen Hipster gekauft. Der Mann denkt dann vielleicht messerscharf an ein Haushaltsgerät, an eine neue Automarke oder ein Werkzeug, vielleicht aber auch an einen Vibrator oder ein Gymnastikgerät. Hätte die Angetraute „Schlüpfer“ gesagt, dann wäre der Mann nicht ins Grübeln gekommen.
 
Schlüpfer bedeutet kurzes Beinkleid für Damen (von „hineinschlüpfen“). Aber nun wissen wir Blogger und Leser dieser Ergüsse Bescheid, was ein Hipster ist.
 
Fazit: Alte Wörter sollte man nicht vergessen und durch neue ersetzen. Wir sollten sie hegen und pflegen, bevor sie vielleicht in der Versenkung der deutschen Sprache verschwunden sind. Es gibt übrigens eine Organisation, die sich dem Wort-„Artenschutz“ angenommen hat. Die Organisatoren des Projekts „Bedrohte Wörter“ sammeln vom Aussterben bedrohte Begriffe, um sie in einer Roten Liste zu publizieren und so vor dem Vergessen zu bewahren.
 
Auf der anderen Seite lebt eine Sprache, und es gibt Veränderungen. Ich benutze aus diesem Grund auch moderne, deutsche Wörter in meinen Texten. Anglizismen sind mir ein Gräuel und sollten nur im Notfall benutzt werden.
 
Infos im Internet
http://www.bedrohte-woerter.de/buch.htm (Infos über die Bücher „Lexikon der bedrohten Wörter und „Lexikon der bedrohten Wörter 2 von Bodo Mrozek).
http://sunny-dessous.de (Infos über Hipster u.a.)
 
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