Textatelier
BLOG vom: 12.09.2007

Zum Fall Maddie: Heinrich von Kleist und Praia da Luz

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Gestern las ich in der „Evening Standard“-Spalte „And incidentally“ (Und beiläufig) die Kolumne von Anne McElvoy, betitelt „Truth, lies and the mystery of Praia da Luz“ (Wahrheit, Lügen und Rätsel von Praia da Luz“). Der Medien-Tumult hält seit Monaten an und steigerte sich in den letzten Tagen beachtlich. Wurde Maddie entführt oder gar von ihrer Mutter ermordet?
 
In ihrem Kurzartikel erwähnte Anne McElvoy für mich überraschend Heinrich von Kleist (1777–1811), den Verfasser von „Die Marquise von O…“. Ich zitiere sie hier eingedeutscht: „Ein Autor (eben Heinrich von Kleist) war ausserordentlich vorherwissend über den geteilten Instinkt: das Beste und das Schlechteste über Leute zu glauben und diesen Konflikt zwischen beiden Extremen zu empfinden.“ Auch ich fühle mich zunehmend als Leser von diesem Konflikt ertappt: Einerseits finde ich es unmöglich, dass die McCanns, beide Ärzte, mit ihren 3 Kleinkindern in die Ferien fahren und eines von ihnen, Maddie, entweder absichtlich oder unbeabsichtigt getötet haben. Ich denke dabei an ihren Besuch beim Papst und auch daran, wie ihre Mutter das Püppchen ihres Kindes wie ein Amulett in der Hand hielt. Die portugiesische Polizei soll – allerdings stark verspätet – allerlei DNA-Spuren des Kindes gesichert haben, die von Spezialisten in England untersucht werden. Anderseits kann man vorderhand nicht wissen, was wirklich geschehen ist, mit oder ohne aufgeregte Schnüffelhunde, die auf Leichengeruch abgerichtet sind.
 
Kleist hat diesen Zwiespalt so beschrieben: Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaftig Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint (...) Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, ich habe nun keines mehr –.“ Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ mochte auf ihn eingewirkt haben in der Epoche der „Aufklärung“, der Kleist wie auch Jean-Jacques Rousseau (etwa mit seinem „Zurück zur Natur“) angehörten.
 
In diesem Zusammenhang verweist Anne McElvoy auf die Kleist-Novelle über die „Marquise von O…“. Während der Kriegswirren vergewaltigte ein russischer Offizier, der Graf F., die bewusstlose Marquise, nachdem er sie aus einer Horde russischer Soldaten befreit hatte.
 
Der Novellenbeginn hat literarische Weltberühmtheit erlangt: „In M …, einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, liess die verwitwete Marquise von O…, eine Dame von vortrefflichem Ruf und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitung bekannt machen: dass sie ohne ihr Wissen in andere Umstände gekommen sei, dass der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle; und dass sie, aus Familienrücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten.“
 
Angespornt von McElvoys Hinweis, kramte ich mein Büchlein dieser Novelle, vom Hyperion-Verlag München in der Ausgabe von 1920 veröffentlicht, und erst noch anmutig mit Farbzeichnungen von Marta Worringer geschmückt, aus meinem Büchergestell heraus und begann es wieder, nach vielen Jahren, zum 3. Mal zu lesen. Sie merken, werter Leser, dass Kleists berühmte Schachtelsätze, auf mich einwirken. Diese theatralisch aufgemachte Geschichte hatte Heinrich von Kleist in einem Guss ohne Kapiteleinschnitte geschrieben.
 
Damals, wie jetzt auch wieder, hatte ich Mühe, die Hauptgestalten auseinander zu halten, da sie bald als Obrist oder Obristin, abwechseln mit anderen Titeln, in dieser Skandalgeschichte erscheinen. Die Marquise von O… wurde auch Juliette genannt.
 
Keine Angst, die Geschichte entfächerte sich nach vielen Verflechtungen mit dem berühmten Schlusssatz zu ihrem guten Ende: „… da der Graf in einer glücklichen Stund seine Frau einst fragte, warum sie an jenem fürchterlichen Dritten, da sie auf jeden Lasterhaften gefasst schien, vor ihm, gleich einem Teufel, geflohen wäre, antwortete sie, indem sie ihm um den Hals fiel: er würde ihr damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre.“
 
Ich glaube, Heinrich von Kleist hat mit dieser Novelle, die vielleicht besser als gesellschaftskritischer Schwank bezeichnet werden kann (die übrigens von Eric Rohmer verfilmt worden ist), sein Gaudium gehabt hatte, was folgende immerhin kürzere Sätze belegen mögen:
 
„Gleichwohl bitte ich Sie (bat die unwissend schwanger gewordene Juliette ihre Mutter), mir eine Hebamme rufen zu lassen, damit ich mich von dem, was ist, überzeuge, und, gleichviel alsdann, was es sei beruhige.“
 
„Eine Hebamme!“ rief Frau von G … mit Entwürdigung. „Ein reines Bewusstsein und eine Hebamme!“ Und die Sprache ging ihr aus.
 
Die Marquise beruhigte ihre Mutter und versicherte ihr, „dass sie sehr gesund wäre, und dass ihr gar nichts fehle, ausser jenem sonderbaren und unbegreiflichem Zustand. – ‚Zustand!’ rief die Mutter wieder; ,welch ein Zustand?’ Weil ihre Mutter weitersprach, finde ich die Verbindung wieder mit dem Ansatzpunkt zu diesem Blog: „Wenn dein Gedächtnis über die Vergangenheit so sicher ist, welch ein Wahnsinn der Furcht ergriff dich? Kann ein innerliches Gefühl, das doch nur dunkel sich regt, nicht trügen?“
 
Die Geschichte spitzt sich nach und nach zur burlesken Familienfehde zu. Die Marquise fragte die Hebamme: „Wie denn die Natur auf ihren Wegen walte? Und ob die Möglichkeit einer unwissentlichen Empfängnis sei? – Die Hebamme lächelte, machte ihr das Tuch los und sagte, das würde ja doch der Frau Marquise Fall nicht sein. Nein, nein, antwortete die Marquise, sie habe wissentlich empfangen, sie wolle nur im allgemeinen wissen, ob diese Erscheinung im Reiche der Natur sei? Die Hebamme antwortete, dass dies, ausser der heiligen Jungfrau, noch keinem Weibe auf Erden zugestossen wäre.“
 
Der Vater befand sich darob laufend in „einem überreizten Gefühlszustand“. Kein Wunder, dass er seine Tochter aus dem Haus wies, nachdem sich ihr Zustand als wahr erwiesen hatte.
*
Trotz der Aufklärung ist die Reform des Denkens nur langsam, wenn überhaupt, nachvollziehbar. Dies trotz des Beitrags, dazu auch vom Baron de Montequieu (Charles-Louis de Secondat) wie in seinen „Lettres persanes“ festgehalten – dem Briefwechsel von 2 Persern über die merkwürdigen Gebräuche, die sie auf ihrer europäischer Reise zwischen 1711 und 1720 vorfanden.
 
„Plus ça change ...“ Die Reform des Denkens lässt nach wie vor auf sich warten, wie sich Wahrheit, Lügen und Rätsel mengen und die Leser konfuser Presseberichte, ich inbegriffen, über den bisher unaufgeklärten Grund des Verschwindens von Maddie wankelmütig stimmen.
 
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