Textatelier
BLOG vom: 26.10.2007

Londoner Stimmung: Der Winter wartet vor dem Fenster

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Vorm Fenster meiner Schreibbude im 1. Stock schleichen sich die Vorboten des Winters heran. Die Blätter des wilden Kirschbaums hängen schlapp von den Ästen. Soll ich endlich die Kakteen von den Fenstersimsen ins Haus bringen?
 
Morgen, am 28. Oktober 2007, ist auch ein Tag und der rechte dazu, denn dieses Wochenende, punkt Mitternacht am Samstag, werden die Uhren auch in England um eine Stunde zurückgestellt. Es dunkelt früher, die Leute verbrauchen mehr Elektrizität, es passieren mehr Unfälle. Dunkelheit, auf dem Heimweg nach Arbeitsschluss, erinnere ich mich, drückte unweigerlich auf mein Gemüt. Erst wenn ich zu Hause eintraf, kletterte meine Stimmung wieder hoch. Ich fühlte mich im Trockenen geborgen.
 
Die Bäume im Garten
Damals schrieb ich meistens am Abend, manchmal bis lange nach Mitternacht. Heute halte ich es anders, beginne frühmorgens, wie eben jetzt. Ein schmutziger Wattebausch überzieht regenträchtig den Himmel. Hartnäckig kleben die vergilbenden Blätter noch an den Bäumen. Heute kommt Sebastian mit der Säge. Mein Nachbar hat sich beklagt. Seine Frau hat etwas, eigentlich viel, gegen die Bäume in unserem Garten.
 
In der Gartenecke prunkt hoch über ihrem Dach ein Ahorn („sycamore“). Der rekelt sich und streckt seine Äste wie ein Riesenfächer auseinander. Ein Sturm könnte ihn entwurzeln, meinte mein Nachbar, und auch sonst das Fundament beschädigen. „Der Ahorn ist ein besonders wetterfester Baum“, klärte ich ihn auf. „Wird er umgelegt, kommt das Fundament gewiss ins Wanken, wegen des Lehmbodens. Seine Wurzeln schützen Ihr Hausfundament. Aber bitte, ich stehe Ihnen nicht im Weg, wenn Sie ihn – wie schon vor 2 Jahren – stutzen wollen.“ Damit lasse ich es bewenden. 
 
Der Nachbar befürchtet ausserdem, dass ein verdorrter Birkenast abbrechen und Dachschaden anrichten könnte. Diesbezüglich bin ich kompromissbereit, schliesslich will ich im Frieden mit dem Nachbarn leben. Birken sterben langsam. 4 oder 5 muss der Baumfäller, der sich heutzutage „tree surgeon“ nennt, absägen. Ich werde ihm helfen, die dürren Stämme und Äste im wilden Teil des Gartens zu stapeln. Alte Birkenüberreste vermodern dort rasch und bieten den heranwachsenden Hirschkäfern Unterschlupf. Einige Igel haben sich dort ebenfalls eingenistet. Im Spätherbst sammle ich alte, morsche Baumrinde und zerstückle sie im Schubkarren und verzettle sie zwischen den Beeten. Am nächsten Morgen finde ich viele Rinden, die von Amseln über den Wegen verstreut worden sind. Sie haben ihr Leckermahl gehabt: Schnecken und Würmer, die sich dort in der Feuchtigkeit verkrochen haben.
 
Der gute Nachbar hat noch einen Vorschlag: Warum verkaufe ich ihm nicht einen Streifen Land? Dann würde er mit den toten Birken aufräumen und erst noch den verpflanzten Weihnachtsbaum, der an Umfang gewonnen hat, entsorgen. Die Nordwand seines Backsteinhauses steht genau auf der Grenzlinie zwischen unseren Grundstücken und hat nur ein kleines Fenster bei der Innentreppe. Diesen Vorschlag hat er schon einmal vor 10 Jahren gemacht. Damals wie diesmal lehne ich höflich, doch entschieden ab. So sichere ich den Hausfrieden für weitere 2 oder 3 Jahre, bis seine Frau wieder meckert.
 
Depressionen bis in die Niederungen
Ich habe längst aufgegeben, mich zu fragen, ob ich den Stadtwinter mag oder nicht. Die so genannten „winter blues“ – Depressionen – stehen den Engländern nach dem sonnenarmen Sommer bevor, noch ausgeprägter als sonst. Ich muss mir einige lustige Geschichten einfallen lassen. Wenn ich diese von Stapel lasse, scheint mir die Sonne ins Gemüt und vertreibt jede miese Laune.
 
Eines vermeide ich seit Jahren: mich am Weihnachtsrummel zu beteiligen. Seit Wochen schon sind die Zeitschriften voller Weihnachtsinserate im Glanzdruck. Ich bin ein Feigling und überlasse solche Einkäufe meiner gutherzigen Frau. Ich weiss, dass sie mir keine Cartier-Armbanduhr kaufen wird. Sie selbst findet den gesunden Mittelweg durch die Mode: Geschmack und Gespür für Qualität wegleiten ihre eigenen Einkäufe. So ist alles in bester Ordnung und die Geschenke längst vor Weihnachten unter Dach und Fach. Weihnachten feiern wir im engsten Familienkreis.
 
Nichts wie los zur Brick Lane!
Dies ist doch ein mieses, kleinbürgerliches Blog! In London ist immer etwas los. Also nichts wie los! Wohin, das weiss ich im Augenblick noch nicht. Nur nicht in Wimbledon in der Stube hocken bleiben. Jetzt weiss ich, wohin: zur Brick Lane im Londoner East End, mitten in der „Bengladeshi Community“. Dort soll es tolle Restaurants geben. Wie steht es mit einer ethnischen Freizeitkleidung für den Hausgebrauch? Dazu brauche ich eine Kurda, ein langes Hemd, wie es in Afghanistan, Bangladesh, Pakistan und Indien getragen wird. Dazu passt ein Salwar Kameez, ein weites Pajema (Pyjama Hose). Darin werde ich mich wie ein Pascha fühlen. Schliesslich habe ich einst aus Persien ähnliche Kleidungsstücke heimgebracht und ausgetragen. So eingekleidet, werde ich meine „persischen Miniaturen“ fortsetzen … oder einige exotische Märchen  ausgraben.
 
Der Winter ist wirklich nicht dazu, um Trübsal zu blasen. Jetzt weiss ich wieder, dass ich den Stadtwinter nach wie vor mag.
 
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