Textatelier
BLOG vom: 10.11.2007

London live: Immer mehr Despoten regieren in England

Autor: Emil Baschnonga, Aporistiker und Schriftsteller, London
 
Die einst von Engländern gepflegte Toleranz nach dem Motto: „Live and let live“ (Leben und leben lassen) hat abgedankt. Das Leben der Leute hierzulande wird mehr und mehr von Gesetzen eingeschränkt. Damit wird der Spielraum der „kleinen Freiheiten“ eingeengt. Daraus entstehen soziale Spannungen bis zur Zerreissprobe. Lässt sich dagegen etwas tun? Diese Frage sprengt bei weitem den Rahmen dieses Blogs und meines Hirns.
 
“Traffic wardens”
Mit einer Arroganz sondergleichen – und jetzt erst noch elektronisch gerüstet – machen die „traffic wardens“ Jagd auf Parksünder. Jeder Londoner Distrikt hat seine eigenen Parkvorschriften. Demnächst sollen Parkuhren verschwinden. Vom Autofahrer wird dann verlangt, dass er, mit seinem Handy und seiner Kreditkarte ausgerüstet, seine Parkzeit bucht … Ältere Leute oder solche, die sich gegen ein derartiges Diktat sträuben, sind machtlos. Rechtswidrige Schliche bringen die „traffic wardens“ mehr und mehr ins Spiel, um ihr Pflichtsoll und damit ihre Provision zu sichern. Die meisten der gebüssten Autofahrer zahlen, da ihr Einspruch administrativ erschwert wird und sehr zeitaufwendig ist. Wer schon ist geistesgegenwärtig genug und hat eine Kamera griffbereit, um solchen Unfug zu beweisen? Parkwidrig abgestellte Autos werden im Nu abgeschleppt. Das Opfer muss sich in der Grossstadt durchschlängeln, um sein Auto in einem Abstellareal zu finden. Nur gegen Barzahlung kann er sein Auto einlösen. Der Abschleppdienst verursacht weitaus grössere Verkehrsstockungen als das „falsch“ parkierte Auto.
 
Mir selbst, nicht so meinen Söhnen, gelang es seit 3 Jahren, keine Parkbusse aufgebrummt zu bekommen, einzig, weil ich das Auto selten ausserhalb meines Distrikts benutze. Selbst dann ist höchste Umsicht geboten. Kaum habe ich mein Auto vor einem Geschäft abgestellt, nur um rasch eine Zeitung zu kaufen, erscheint einer dieser Wichte. Sehr unterwürfig nähere ich mich ihm und spreche ihn zwar nicht mit „Hochwürden“ an, doch nenne ihn respektvoll „Officer“. Er geniesst mein unterwürfiges Bittgesuch, mir eine Minute Zeit zum Zeitungskauf zu gewähren. „Aber keine Minute länger“, lässt er sich erweichen. Ich stehe in einer Warteschlange, wie die Gnadenfrist vertickt.
 
Ähnliche Bücklinge muss ich tun, wenn ich auf dem Parkplatz des nahen Supermarkts auf Lily mit ihrer beladenen Einkaufstasche warte.
 
Immer wieder liest man in Zeitungen, wie diese Despoten von erbosten Opfern angefallen werden. Den „traffic wardens“ sollte angeraten werden, sich konzilianter zu benehmen. Aber das ist nur möglich, wenn sie zu ihrem Lebensunterhalt nicht auf Provisionen angewiesen sind.
 
Die Polizei
Einst glaubte ich, der Polizist sei mein Freund und Beschützer. Der Londoner „Bobby“ gab mir immer bereitwillig Auskunft, wenn ich eine Strasse suchte oder den Weg zur nächsten Metro-Station finden wollte. Heute unterlasse ich dies, denn ich könnte als vermeintlicher Terrorist einer Leibesvisitation unterzogen werden …
 
Der Fall „Menezes“ hat jetzt endlich seinen Höhepunkt erreicht. Wie erinnerlich, wurde der brasilianische Elektriker als Terrorist verdächtigt und am 26. Juli 2005 auf seinem Arbeitsweg mit 7 Kugeln erschossen. Ein Fehlerkatalog von 19 Punkten wurde dem Polizeikommissär der „Met“ (Metropolitan Police Authority) Sir Ian Blair angelastet oder nachgewiesen. Nebst krassen internen Fehlkommunikationen, versuchte der Met-Chef eine unabhängige Untersuchung zu unterbinden. CCTV-Aufnahmen von Menezes wurden fotographisch frisiert, damit er einem Terroristen gleiche. Noch immer klebt dieser Sir, dem ich hoffnungsvoll bei seinem Amtsantritt ein Blog gewidmet habe, an seinen Posten. Aber es wird ihm nichts anderes übrig bleiben als in den nächsten Tagen zu demissionieren. Die Glaubwürdigkeit der Polizei ist angeschlagen.
 
Einen Akt engstirniger Despotie eines „Cops“ konnte ich dieses Frühjahr an der Wimbledon Hill Road um die Narzissenzeit beobachten. Eine junge schwarze Frau hatte einen Strauss Osterglocken im Grünstreifen gepflückt. Ein Verweis hätte meiner Meinung nach genügt. Stattdessen notierte er umständlich ihre Personalien … Sie stand da, zerknirscht und reumütig am Strassenrand mit ihrem Strauss. Gern hätte ich ihr einen Strauss gekauft und geschenkt.
 
Dieser „Cop“ hat anschliessend gewiss in der Polizeistation zeitvergeudend einen Rapport geschrieben. Inzwischen entkommen Diebe am laufenden Band. Die Anzeigen der Beraubten werden nicht verfolgt, sondern werden bloss in die Riesenstatistiken sozusagen als „Bagatellfälle“ aufgenommen. Die Polizei erscheint selten am Tatort. Inzwischen schwillt die Bandenkriminalität beängstigend an. Selbst verurteilte Schwerverbrecher werden immer früher aus den überfüllten Gefängnissen entlassen. Wenn ich mich richtig erinnere, sitzen 1400 verdächtige Terroristen in Haft. Ihre Haftzeit wird demnächst auf 50 Tage verlängert.
 
Die Politiker
Selbstherrlich mischen sich die Politiker stümperhaft überall ins Leben des Bürgers ein, erlassen laufend neue Gesetze, seis für Schulen und Unterricht, Kehrichtabfuhr und Gesundheitswesen usf.
 
Ich greife kurz das Gesundheitswesen auf: In verdreckten Spitälern sterben mehr und mehr Patienten an CMRSA (Methicillin resistant Staphylococcus) und C. difficile (Clostridium difficile). Hier ist die Zahl der Todesfälle für 2004-5: CMRSA 1629, C. difficile 3800), ungleich höher als anderswo, sei es in der Schweiz oder in der EU.
 
Auch in Alters- und Pflegheimen werden alte Leute schlecht verpflegt und gepflegt, sogar vernachlässigt und nicht selten von ungeschultem Personal angepöbelt, wenn nicht misshandelt. Das ist gegen die Menschenwürde. Ich prangere dies als Despotie der Vernachlässigung an. Wer weiss, vielleicht spielt die Überalterung der Bevölkerung mit hinein. Ganz krass ausgedrückt: Je rascher die Alten abkratzen – ich wage den Satz nicht zu Ende zu schreiben. Die NHS (National Health Service) ist finanziell überlastet.
 
Nach den Rauchern werden neuerdings die Dickleibigen aufs Korn genommen, mit dem deutlichen Hinweis, dass sie bei gewissen Erkrankungen erst nach erfolgreicher Abmagerungskuren behandlungsfähig sind, ausgenommen die Bierbäuche – dank dem Einspruch der Brauereien (das ist mein Beisatz, aber wiederum: wer weiss?).
 
Eine andere Form der Despotie ist die sich ebenfalls seuchenartig ausbreitende CCTV-Überwachung der Menschen, die in England viel weiter vorangetrieben ist als anderswo in Europa. Dies ist ein Direktangriff auf die persönliche Sphäre des Menschen. Trotz diesen Anlagen werden bestenfalls Autofahrer erwischt, doch weitaus weniger die unter Hauben getarnten Strassenbanditen.
 
Die eingedämmte Religionsfreiheit
A propos Hauben werden besonders islam-gläubige Frauen wegen ihren Kopftüchern geächtet –, und ich meine dabei nicht nur die von Kopf bis Fuss vermummten Frauen. Bushra Noah, die ein gar unanstössiges buntes Kopftuch trug, fand keine Anstellung in einem Friseursalon. Sie hätte ein Hermes-Kopftuch tragen sollen! Gegen einen halb entblössten Bauch hingegen wird kein Einspruch erhoben.
 
Eine Inderin, die ein winziges, glitzerndes Nasenknöpfchen trug, hatte bei einer Luftfahrtgesellschaft ein ähnliches Problem. Es wurde als religiöses Emblem gebrandmarkt. Dem Kreuz am Halskettchen geht es oft nicht besser. Jahrelang hing mein Autoschlüssel an einem Schlüsselring zusammen mit einer Christopherus-Medaille. Ich hatte dieses Geschenk schon als Bube an meinem Hosenbund getragen.
 
Wenn man bedenkt, dass jedermann anstandslos mit Anhängseln aller Art an der Nase, an Brustwarzen bis zum Nabel herumläuft (body piercing), von Tätowierungen zweideutiger Art nicht zu sprechen, ist diese Art von Despotie gegen religiöse Motive beschämend dumm, engherzig und ungerechtfertigt.
 
Airlines als Despoten
Ach ja, ehe ich es vergesse, schreibt jetzt jede Luftfahrtgesellschaft ihr eigenes Diktat vor, wie viel Freigepäck der Reisende mitnehmen darf, wie gross und schwer es sein darf, vom Inhalt ganz zu schweigen. Bald wird auch der beleibte „Fluggast“ für sein Übergewicht bezahlen müssen. Waren das noch Zeiten, als ich mehrmals eine schwere Marmorbüste (aus Brüssel und Biarritz) als Kabinengepäck mitnehmen konnte, sogar ein Gallétischchen vom Pariser Flohmarkt – allesamt im Flugbillet inbegriffen!
 
Eine CO2-Gesetzesflut wartet auf
Die grüne Welle (das CO2 Syndrom) schiebt in Hülle und Fülle neue Gesetzesparagraphen heran. Ich bin ganz dafür, dass mit Plastiktüten und überverpackten Esswaren usf. aufgeräumt werden sollte. Wer keinen Einkaufskorb hat, mag mit Papiertüten vorlieb nehmen. Auch ist gegen das Recycling nichts einzuwenden. Nur verstehe ich als Banause das ganze kommerziell getriebene Abrechnungsverfahren von „offsetting“ nicht.
 
Das Ladenpersonal: Despotie der Ignoranz
Ganz zuletzt reite ich meine Lanze gegen das unhöfliche und herablassend arrogante Ladenpersonal. Es verschanzt sich hinter seiner Unkenntnis der Produkte, denn eine Verkaufslehre wie in der Schweiz gibt es in England kaum. Hier haben wir es mit der Despotie eklatanter Ignoranz zu tun, die mich ab und zu in Harnisch bringt. Soll ich mich auch über die vielen Überfälle auf Call Centers auslassen? Lieber nicht. Rassenhass? Auch nicht.
 
Auswirkungen
Wen wundert es, wenn die Leute – sei es als Konsument oder als Bürger (lies Untertan) immer hässiger werden? Unterm Stress schnappen sie über, werden ausfällig und verlieren ihre guten Manieren. Tagtäglich kommen neue Ärgerquellen hinzu: l Liter Bezin kostet £ 1, wiewohl England noch immer beachtlich viel Nordöl produziert. Die Staatskasse gewinnt davon rund £ 4.5 Billionen zum Verschleudern. Das Finanzamt ist keineswegs gewillt, den von Steuern hochgepumpte Benzinpreis im vernünftigen Rahmen zu stützen. Werden sich die Leute auch dieses Jahr wieder zu Weihnachtskäufen aufwiegeln lassen, wenn so viele ihren Kredit überzogen haben? Genug ist genug – für heute.
 
Was lässt sich dagegen tun?
Ohne in diese knifflige und weitläufige Frage einzusteigen, glaube ich grundsätzlich, dass das einstige „Leben und leben lassen“ wieder aufleben sollte – im Alltagsverkehr mit- und untereinander. Ein Lächeln ist wirksamer als Schmähworte. Mit einer Geste jemand den Vortritt einzuräumen, ist weitaus wirksamer und weniger gefährlich als sich ihm in den Weg zu stellen. Ein Lümmel, der seine dreckigen Schuhe auf den Sitzen der öffentlichen Verkehrsmittel aufstützt, oder einer behinderten Person nicht seinen Sitz anbietet, verdient Zurechtweisung (heutzutage ebenfalls gefährlich). Was tun, wenn die Eltern ihnen keine Anstandsmanieren beigebracht haben?
 
Nun will ich mein diesbezügliches Glaubensbekenntnis nicht weiter verfolgen. Aber eines scheint mir klar: Wer gewisse Verhaltensregeln befolgt, setzt der sich ausbreitenden Despotie Grenzen.
 
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