Textatelier
BLOG vom: 06.01.2008

Marcel Prévost u. Zwangsheirat: Le Mariage de Julienne

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Im 1896 veröffentlichten Roman „Le Mariage de Julienne“ von Marcel Prévost sagt die 22-jährige Julienne wiederholt: „Je serais mariée en janvier“ (Im Januar werde ich verheiratet sein). So hatten es ihre gutbürgerlichen Eltern für sie beschlossen; das Gebot ihrer Eltern trichterte sich bei ihr ein. Julienne bemitleidete sich sehr: Der Gedanke, das Bett („le lit à deux“) mit einem fremden Mann zu teilen, war ihr ungeheuer. Ihre Gefühle, der Abschied von ihrem sorglosen Dasein als „jeune fille“, hatte Julienne ihrem Tagebuch anvertraut.
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Marcel Prévost, dieser französische Schriftsteller, lebte zwischen 1862 und 1941 und errang Beachtung mit seinem Roman „Les Demi-Vièrges“. Dieser Ausdruck gilt den „Halb-Jungfrauen“ und wurde inzwischen in der französischen Sprache aufgenommen. Jünglinge und Jungfrauen durften nach Herzenslust miteinander schmusen – hinter dem Rücken der Eltern und oberhalb der Taille. Alles war erlaubt, solange das Jungfernhäutchen intakt blieb. In seinem langen Leben konnte Prévost den Liebeswandel zwischen den Geschlechtern verfolgen und in seinen Werken verankern.
 
Julienne ging eine von ihren Eltern vorbereitete Vernunftehe ein, was damals nicht aussergewöhnlich war, galt es doch damals (wie heute), Vermögen an Vermögen gleich welcher Art zu koppeln, ob in Landwirtschaftsgütern oder anderen Handelswerten ausgedrückt. Das verbündete und sicherte das Gut und die Habe von einer Generation auf die andere.
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Immer wieder wird in England der noch immer weitverbreitete Brauch der „Zwangsheirat“, von den Eltern ihren Nachkommen aufgezwungen, als unzeitgemäss angeprangert, und dies bezieht sich hauptsächlich auf die Einwanderer aus Pakistan, Bengalen (Bangladesch) und Indien. Vergessen wird dabei, dass dieser Brauch selbst in Europa noch nicht ausgestorben ist, jedoch konzilianter gehandhabt wird. Eine widerspenstige Tochter wird nicht mehr geächtet und aus dem Haus vertrieben oder gar von ihren Familienangehörigen ermordet, weil sie gegen die Familienehre verstossen hat.
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Für Julienne hatten ihre Eltern 4 Eheanwärter ausgewählt, wovon 2 in die engere Wahl kamen: Monsieur de Nivert und Monsieur Salandier, beide vielversprechende Sprösslinge angesehener und vermögender Familien. „Alors ! le sort est jeté“ (Also! die Würfel sind gefallen), vermerkte Julienne in ihrem Tagebuch. Sie kannte nicht einmal die für sie Auserwählten. So wurden sie mitsamt dem nächsten Familienanhang in den Sitz der Familie Giverny eingeladen, wovon das 5. Kapitel „Présentations“ berichtet.
 
Diese Präsentation hat Prévost drollig geschildert. Salandiers Mutter ergriff sofort die Initiative und strich an Juliette gewandt, die Vorzüge und Erwartungen ihres Sohnes, den sie hartnäckig als „le mien“ (der Meinige) bezeichnete, wie folgt hervor:
 
„Der Meinige geht jeden Abend um 10 Uhr schlafen; der Meinige hat nie auswärts geschlafen, wiewohl es nicht an Frauen mangelte, die sich darüber sehr gefreut hätten.“ Madame Salandier liess durchblicken, was sie von ihrer Schwiegertochter erwartete: „Gutes Benehmen, Sparsamkeit, Häuslichkeit – abgesehen natürlich von gelegentlichen Besuchen gesellschaftlicher Anlässe und Theaterbesuche. Das ist notwendig angesichts der Stellung des Meinigen“, fügte sie hinzu.
 
Unterdessen zeigte Monsieur Salandier seine Brillanz als aspirierender Ministerialrat und liess ein langatmiges und langweiliges Palaver über die Staatskasse vom Stapel, ehe er sich entschuldigend an Julienne wandte: „Meine Konversation müsse wohl das Fräulein langweilen.“ Julienne antwortete schlagfertig: „Ganz und gar nicht. Ich habe nicht zugehört.“
 
Madame Salandier überbrückte das lastende Schweigen mit der Frage an Juliennes Mutter: „Ob uns das Fräulein Julienne nicht etwas vorspielen wollte?“
 
„So willst du Musik haben“, dachte Julienne, „du wirst sie kriegen. Warte nur darauf.“
„Ich setzte mich ans Klavier“, hielt Julienne in ihrem Tagebuch fest, „und ich begann ohne Unterlass, mein gesamtes Repertoire zu spielen – kunterbunt, wie es mir einfiel. Das beruhigte meine Nerven, wenn ich auf den schwarzen und weissen Tasten hämmerte – Stücke von Massenet! Tiens! Von Mozart! Tiens! Von Sarpette! Und von Wagner, von Beethoven; und von Grieg usf.1¾ Stunde habe ich gespielt, ohne Atem zu schöpfen! … Als ich mich nachher umdrehte, glichen meine Zuhörer einem vom Hagel zerschlagenen Weizenfeld. Sie nutzten die Pause zur Flucht. Innert 5 Minuten war der Saal leer.“
 
Monsieur Salandier hatte das Rennen endgültig verloren, als seine Mutter später recht taktlos das Thema „Mitgift“ anschnitt.
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Gelegentlich lasse ich mich von der französischen Sprache, im literarischen Sinne, forttragen. Prévost hat die goldene Feder: Sein Text ist direkt, flüssig und leicht verständlich. Er ist mit Humor durchsetzt. Prévost moralisiert nicht. So deckt er die sozialen Verhältnisse seiner Zeit besonders einprägsam auf und spricht damit mich an.
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Ich gehöre noch zur Generation, die mitunter mit den „Semi-Vièrges“ ihren Spass gehabt hat, ohne „Grenzverletzungen“ zu begehen. Wie anders es heute zu und her geht, darüber will ich mich hier lieber nicht äussern.
 
Zwangsehe, Vernunftehe, oder echte Liebe? Heiratsvermittlungen und Computer-Dating sind weit verbreitet, weil gestressten und gehetzten Leuten die Zeit fehlt, sich auf alte, inzwischen „veraltete“ romantische Art zu suchen und zu finden.
 
In meinem Bekanntenkreis kenne ich jedoch Paare, die ihre Wahl von den Eltern bestimmen liessen – und glücklich miteinander leben. So gibt es keine starren Regeln.
 
Kein einziges Mal mischten sich meine Eltern in meine tentativen „Vorwahlen“ ein, die im Nichts versandeten. Einfach, weil ich mich darüber ausschwieg. Weder Lily noch ich werden unsere Söhne bei ihrer Wahl beeinflussen. Beide kennen unsere Denk- und Lebensweise, ohne dass man diese jetzt, da sie mehr als volljährig geworden sind, einzureiben braucht.
 
1968 heiratete ich meine Perserin Leila (Lily), was damals einem Europäer selten gelang. Auch Leilas Schwester Fari hat einen Europäer geheiratet, erst noch einen Elsässer. Beide Schwestern und auch ihre Eltern haben im Ausland studiert und gelebt. Besuchte Leila während der Ferien ihre Eltern, gab es viele Hausbesuche befreundeter Familien, die für ihre Söhne auf Brautschau gingen. Lily, wie ich meine Frau nenne, teilte viele Körbe aus – zum Glück! Ihre Wahl fiel auf mich – und ich wurde von ihrer Familie wärmstens aufgenommen und sie auch, von meiner.
 
Anders die „Pauvre Julienne“, die sich fügen musste, über sich verfügen liess. Ich hoffe, dass sie dennoch an den Rechten gekommen ist.
 
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