Textatelier
BLOG vom: 05.04.2008

Robert Budzinski, das „Antlitz der Menschheit“ und ich

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Robert Budzinski (1876‒1955), ein Ostpreusse, hatte 1921 diesen Band „Antlitz der Menschheit“* mit 36 Holzschnitten geschaffen und mir damit den Vorwand zu diesem Blog gegeben, nachdem ich das Werk auf der Suche nach Schreibstoff aus meiner Bibliothek gezupft habe. Meine Neugier wurde sofort geweckt, als ich seine Grafiken an- und durchblätterte. Ihm ging es um die Menschheit (mir hingegen geht es im 2. Teil mehr ums Antlitz der Menschen).
 
Aus seinem kurzen Vorwort hebe ich seinen Satz „Einmal in ferner Zukunft, wenn die Menschheit in ihrer Mittagshöhe stehen wird“ hervor, weil trotz gutgesinnter Denker, Dichter ‒ eigentlich der ganze Künstlerbund – beim Versuch versagt hat, die Menschheit aus der Höhle oder Hölle zu locken. Aus dem Neandertaler ist bloss der Neoneandertaler entstanden. Dieser Befund ist so traurig, dass ich vorübergehend dem Thema entweiche und einen leichteren Ton anschlage und einige Stellen aus Budzinkis Selbstdarstellung** meinen eigenen Gedanken voranstelle:
 
„Ich bin verheiratet, habe zwei Töchter, zwei Söhne und ein hypothekenfreies Haus … Neben dem Haus liegt mein Anteil am Planeten Erde in Grösse von 12 Meter Länge, 10 Meter Breite und 6 378 000 Meter Tiefe, nutzbar ist nur die alleroberste Schicht. Auf dieser befindet sich neben einer Anhöhe von 0,7 Metern eine dreischnittige Wiese von beinahe 6 Quadratmetern. Auf der Höhe steht im Sommer ein Tisch, im Winter Schnee. Die Obstbaumzucht ist sehr beträchtlich, mein jüngster Sohn behauptete, im letzten Sommer acht Äpfel „gesehen“ zu haben. Ferner sind da Kartoffelländereien, die einen solchen Ertrag liefern, dass die ganze Familie davon mindestens dreimal im Jahre Pellkartoffeln essen kann. Herrlich sind auch die Blumenanlagen und das Rosarium, die ich zum Malen benutze mit Ausnahme des Blumenkohls. Der Viehbestand umfasst einen Kater, vier Hühner, und viele andere Vögel, diese aber nur in der Luft und nur vorüberfliegend.“
Über ähnlichen landwirtschaftlichen Erfolg kann auch ich mich brüsten in meiner Anhöhe in Wimbledon. Statt Hühner halte ich Waldtauben, die mir keine Eier legen, doch viel Kot abwerfen. Die Katze gehört einem Nachbar, aber wohnt ausserhalb den Essenszeiten bei uns. Selbst die Amseln nehmen sie nicht mehr ernst. So herrscht ein Waffenstillstand zwischen der Katze und den Vögeln im Garten.
 
„In die erste Zeit meines Hausbesitzertums fallen die Anfänge meiner Schriftstellerei, an der ich seither leide; und das kam so: Im Jahre 1920 gab ich den berühmten und weitverbreiteten Ostmarkkalender heraus, zum erstenmal und gleich mit solchem Erfolg, dass mir 2900 Stück davon zur eignen Benutzung liegen blieben. Das Papier erwies sich zur praktischen Benutzung ungeeignet, war aber auf der einen Seite unbedruckt, so dass es förmlich nach einem Beschreiben schrie. Diese Arbeit übernahm ich denn auch, und sie artete aus zu obiger Schriftstellerei mit einer dreimaligen Krisis, dargestellt durch die drei Bücher „Entdeckung Ostpreussens“, „Kuri-neru“ und „Der Mond fällt auf Ostpreussen“, Werke, die alle Aussicht haben, in die Weltliteratur überzugehen, denn sie behandeln das ewige Menschheitsproblem von der Schönheit und zugleich Verlassenheit Ostpreussens, einer Provinz in der Deutschen Republik, nahe am Nordpol.“
Ich werfe einen Blick auf Budzinskis Selbstporträt – eine Lithographie – und stelle fest, dass wir einander ähnlich sehen. Zwar hat mich meine Schriftstellerei, an der ich gleich ihm leide, früher als ihn befallen, mit gleichem durchschlagendem Erfolg.
 
Jedem Holzschnitt im „Antlitz der Menschheit“ hat er ein Stichwort beigegeben, die mich allesamt ansprechen, wie Das Licht, Weltweiser, Buddha, Einsiedler, Insel der Seligen, Indisches Märchen, Träume, Leidenschaft, Eulenspiegel, Mammon (im Spinnennetz), Fabrikstadt (mit Hochkaminen, die menschliche Gestalten in die Nacht pusten), und zuletzt „Unsere Zeit“ (Ein Mensch von Totenschädeln umringt). Hinter diesen Stichworten kann ein gelungener Spatenstich einen Aphorismus an den Tag fördern.
 
Aphoristisch verbrämte Gedanken meinerseits zum Antlitz
Mancher Gesichtsausdruck gleicht einer Totenmaske – starr und unbelebt.
 
Im Gesicht eines Kindes schlummert viel Hoffnung. Widrige Umstände tilgen leider viel zu viel Hoffnung, wie das Kind heranwächst.
 
Wie leicht im Streit das Gesicht zur Fratze wird.
 
Im Verlauf des Lebens festigen sich die Gesichtszüge, hoffentlich zum redlichen Antlitz.
 
Die Mimik belebt das Gesicht und gibt den Quellgrund der Gedanken preis, am deutlichsten bei leidenschaftlichen.
 
Buddhas Antlitz zeigt verinnerlichte Weisheit sanftmütig lächelnd.
 
Der Eulenspiegel zeigt, wie derbe Scherze und Streiche bei ernster Miene am besten wirken.
 
Nichts entgleist leichter als Gesichtszüge.
 
Ein Spiegel macht zwei aus dir. Welcher ist besser? Jener, der weg ist, wenn du wegtrittst.
 
Er veräusserte seine Gemütsruhe, indem er sie zur Schau trug.
 
Er hatte sein Gesicht bis auf die Augensäcke ausgetragen.
 
Alltagsgesicht: Er rasiert sich morgens jeweils glatt – sein Gesicht weg.
 
Sein Lächeln glich einem Zuckerguss über Sauerteig.
 
Kein noch so gewiegter Gedankenleser kann meine vom Gesicht lesen.
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* Robert Budzinski „Antlitz der Menschheit“ mit 36 Holzschnitten auf Tafeln, 83. Zweifäuster-Druck, 1921 verlegt bei Erich Matthes, Leipzig und Hartenstein im Erzgebirge.
** Volltext von Budzinskis Selbstbildnis www.neidenburg.de/budzinski
 
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