Textatelier
BLOG vom: 17.07.2008

Krasse Londoner Gegensätze: „Chelsea“ versus „Soho“

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Nein, der Titel „Chelsea“ versus „Soho“ weist nicht auf einen Fussballmatch hin, wiewohl sich bei solchen Anlässen auch krasse Gegensätze auftun.
 
Wie schon oft zuvor, traf ich Lily am letzten Donnerstag beim Ausgang der Metro-Station „Sloane Square“, kurz vor 6 Uhr abends. Zuerst flanierten wir der Kings Road im Chelsea entlang und beschauten die Auslagen der Läden und genossen die Ambiance. Noch nicht genug, zottelten wir anschliessend der Sloane Street entlang Richtung „Harvey Nicols“ in Knightsbridge. In dieser Strasse kaufen vorwiegend die Superreichen aus dem Nahen Osten ein. Mit Petrodollars ist für sie der Kauf von Cartier-Bijouterie, Armbanduhren, Designer-Sonnenbrillen, Kosmetika und Handtaschen nichts anderes als eine Bagatelle. Da und dort wartete der Chauffeur in der Limousine am Strassenrand, während vermummte Gestalten in Seidengewändern, mit Broderien bestickt, die Luxusläden aufsuchten. Die „Sloane Street“ ist vergleichbar mit dem „Faubourg St-Honoré“ in Paris: Die gleichen Geschäfte der Luxusmarken sind wie im Perlenkollier aneinander gereiht. An diesem Abend sichteten wir kaum Engländer. Wachsam standen die Türhüter beim Ladeneingang. Alle CCTV-Kameras waren aktiviert.
 
Aber Immer wieder kommt es nachtsüber vor, dass Räuber auf Motorrädern vorbrausen und die Vitrinen einschlagen. Blitzrasch suchen sie dann mit ihren Diebstählen das Weite. Die Polizei ist machtlos. Die Geschäftsinhaber sind versichert und schlagen die Prämien auf den Preis.
 
Soho und die Ladettes
Unsere Zeit zum Bummeln war aufgebraucht. Wir wollten uns den „Couscous“-Film von Abdel Kechiche anschauen und bestiegen den Bus Nummer 22 Richtung Piccadilly im Soho; aber zuvor wollten wir noch etwas essen. Die Lokale im „China-Town“ überliessen wir den Touristen. Ich kenne ein indisches Lokal, wo man noch immer gut und preiswert essen kann. Für £ 6.50 pro Person bestellten wir das Standardmenu, bestehend aus einer Linsensuppe, gefolgt von einem Lamm-Curry und zum Dessert ein Vanille-Eis. Das vereinfachte uns die Wahl. Ein Couscous wäre wohl angebrachter gewesen; doch wir waren nicht in „Clichy“ in Paris, wo es eine Menge von nordafrikanischen Couscous-Restaurants gibt.
 
Noch verblieb uns eine Viertelstunde vor Filmbeginn im „Curzon“ an der Shaftesbury Avenue. Gleich um die Ecke beginnt die „Greek Street“, von griechischen Restaurants flankiert, und nochmals um die 1. Ecke ist die „Frith Street“. An diesem Donnerstag wehte ein kühler Wind, doch waren schon alle Tische der Bars (worunter auch die von Fussballspielern heimgesuchte „Bar Italia“), dem Trottoir entlang, besetzt. Auf den Stühlen hatten sich die so genannten  „Ladettes“ (Binge-Trinkerinnen) – eher dürftig bekleidet – niedergelassen. Die 1. Flasche Wein war noch nicht ausgetrunken. Junge Gecken, nennen wir sie „Lager louts“, beschauten sich die ausgefallene Weiblichkeit an den Tischreihen und begannen sich zu den „Ladettes“ zu gesellen.
 
Der Film „Couscous“ –  ein Emigrantenschicksal
Genau um halb neun begann der 2½-stündige Film. Seit 35 Jahren flickte Slimane, aus Tunesien eingewandert, im südfranzösischen Hafenort Sèle abgetakelte Fischerboote. Der Tourismus hatte die Fischerei mehr und mehr verdrängt. Slimane, der von seiner Frau Souad geschiedene Patriarch einer Grossfamilie, verlor seine Stelle. Sein Gesicht ist zerfurcht; er ist sanftmütig, doch wortkarg und lächelt im Verlauf des Films kein einziges Mal. Rührend ist er um seine Enkelin besorgt. Ihre Mutter hat sie fortzu scheltend auf den Nachttopf verbannt, weil die 2-Jährige noch immer nicht „trocken“ ist. Slimane herzt und tröstet das Kind und hebt es vom Topf.
 
Er bewohnt ein schäbiges Zimmer in einer Pension. Ein Kanarienvogel hockt traurig auf der Stange im Käfig beim Fensterrahmen und singt längst nicht mehr. Die Besitzerin der Pension heisst Latifa und ist seine Geliebte, die ihn bemuttert. Er bringt ihr regelmässig Fische für die Mahlzeiten in der Pension.
 
Ausser Slimane, der allein in seinem Zimmer sitzen bleibt, geniesst die ganze Familie, eng aneinander am Tisch und auf den Balkon gerückt, wieder einmal ein Couscous, das niemand besser als Souad zubereiten kann. Ei! wie da laut gelacht und mit offenem Mund gekaut und geschmatzt wird. Dem einzigen Franzosen im Familienverbund wird arabischer Sprachunterricht erteilt. Seine Aussprache löst eine Lachsalve um die andere aus.
 
Es kommt in dieser Familie verschiedentlich zu Tobsuchtsanfällen. Einer seiner Söhne ist seiner Frau untreu: Sie zetert mit einem gellenden Stimmaufwand eine endlose Tirade, die mir nach und nach auf die Nerven ging, einfach weil sie zu lange andauerte. Trotz solcher Fehden hält die zerrüttete Familie dicht zusammen, wohl dank des Couscous’.
 
Slimane wollte seiner Familie etwas hinterlassen. Sein Stolz gebot dies. So beschloss Slimane, einen alten Kahn, den er mit seiner Abfindung gekauft hatte, in ein Couscous-Restaurant zu verwandeln. Seine Söhne halfen ihm dabei. Slimane schlug sich, wacker von Latifas Tochter Rym unterstützt, durch die Schikanen im Paragraphendschungel der Behörden. Schliesslich wurde der umgebaute Kahn an seinen neuen Standort geschleppt. Alles war zur Eröffnungsfeier glänzend vorbereitet. Alle Freunde und Bekannten der Familie erschienen mitsamt der lokalen Prominenz, vom Gratis-Couscous angelockt. Gläser wurden laufend nachgefüllt. Arabische Musik erklang. Der Festschmaus konnte beginnen.
 
Gerade als ich dachte, der Film nehme ein gutes Ende, geschieht das Malheur: Alle Zutaten für das Couscous waren zwar da und einsatzbereit, doch der Riesentopf mit dem Couscous war unauffindbar. Der Topf war im Auto vergessen worden. Sein Sohn Madjid war damit fortgefahren, sei es um seine Mätresse, sei es um seine Frau zu besuchen.
 
Im Schiff wurden inzwischen die Gäste ungeduldig. „Es ist bald soweit“, wurde ihnen wiederholt versichert. Mehr und mehr Getränke mussten serviert werden, um die Panne zu überbrücken. Und um die Gäste abzulenken, tanzte Rym einen Bauchtanz, der gute 20 Minuten dauerte. Die Gäste klatschten, von dieser Darbietung abgelenkt und hingerissen, zum Takt der Musik. Das war wiederum für mich zu viel des Guten, so schön auch der Bauch bebte, wackelte und sich wellte …
 
Auf der Suche nach dem Auto fuhr unterdessen der bedauernswerte Slimane auf seinem Moped durchs Nachtdunkel zur Wohnung seiner Schwiegertochter, wo sie ihn wiederum mit einer Tirade von Wehklagen und einer Tränenflut empfing. Wie er endlich das Haus verliess, um das vermisste Auto mit dem Couscous zu finden, hatten ihm drei Halbwüchsige das Moped zur Spritzfahrt geklaut. Sie neckten ihn, wie er ihnen verzweifelt nachsprang. Im letzten Augenblick fuhren sie ihm immer wieder vor der Nase weg. Auch hier zog sich für mich dieses traurige Spektakel schmerzhaft in die Länge – bis der arme Slimane atemlos zusammenbrach.
 
Dieser Film deckte etliche Gegensätze zwischen den Einwanderern aus Tunesien und den Franzosen auf, die in diesem Film eher sublim durchschimmerten. Auch der preisgekrönte englische Film von 1999 „East is East“ („Der Osten ist Osten“) deckt ähnliche Dissonanzen auf – und beide Filme enthüllen Emigrantenschicksale.
 
Lily gefiel der Film ausserordentlich. Wie ich einwendete, dass gewisse Szenen mir zu lange dauerten, sagte sie einfach, dass die Leute aus dem Nahen Osten, inbegriffen Nordafrika, das „erzählerische“ Filigran schätzen, und die „Arabesken“ einer Geschichte auskosten. Sie sind keineswegs so ungeduldig wie die Europäer. Sie geniessen Umwege und Wiederholungen mit vielen Variationen. Ihr Humor ist in den Nuancen kaschiert. Ich schrieb mir das hinter die Ohren.
 
Unsere Flucht aus dem Soho
Kurz nach 11 Uhr verliessen wir das Kino und wollten schleunigst dem Soho entkommen. Hatte ich mir nicht geschworen, um diese Zeit nie wieder im Soho stecken zu bleiben? Hier waren wir in der Patsche. Die Touristen hatten sich längst verzogen. Soho gehörte jetzt voll und ganz den halbwüchsigen grölenden „Lager louts“ und den kreischenden „Ladettes“. Wir entschuldigten uns fortwährend, als wir uns durch die vom Alkohol aufgeputschte Masse durchschlängelten. Wir wollten keinen Anstoss erregen. Die Folgen wären unabsehbar gewesen.
 
Bei der Piccadilly-Untergrund-Station war unser Fluchtweg verstopft. Seit einer Woche darf niemand mehr die Züge mit Alkohol betreten, es sei denn, er sei im Magen und im Kopf … So tranken viele Zecher genau vor dem Eingang ein Dosenbier ums andere. Tatenlos schauten die Polizisten zu.
 
Kaum waren wir auf den Rolltreppen, hörten wir die Lautsprecher-Ansage, dass die „District Line“ wegen einer Signalpanne unterbrochen sei. So ging es nochmals hoch und durchs Gedränge zurück zur Bus-Haltestelle. Wir erreichten unseren Wohnort in Wimbledon erst eine gute halbe Stunde nach Mitternacht. Mehr und mehr Leute aus den umliegenden Pubs drängten und zwängten sich bei „Fulham“ in den Bus. Schwer hing die Alkoholfahne in der Luft.
 
Gewiss hatte es zwischen „Piccadilly“ und „Leicester Square“ immer Vollbetrieb zur späten Stunde gegeben – doch nicht in solch beängstigendem und abstossendem Ausmass. Das sollte nicht so sein, im famosen Theaterland von London. Habe ich übertrieben? Vielleicht.
 
P.S. Am 18. Juli 2008 beginnen die „Proms“ (Promenaden-Konzerte) in der pompösen Albert-Halle in meinen Lieblingsquartier Kensington, genau gegenüber dem Hyde Park. Sie dauern bis zum 13. September 2008. Dort bin ich in meinem Element und fühle ich mich wohl. Ich plane ein Blog über die Proms zu schreiben, statt mich über krasse Gegensätze auszulassen.
 
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