Textatelier
BLOG vom: 21.09.2008

In der Fliegenfalle. Ein merkwürdiger Ausflug in den Jura

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Träume durchfluten manchmal mein Hirn wie lose Wolkenfetzen den Himmel. Dabei bin ich meistens in der Vorstufe zum Tiefschlaf. Ich muss mir aus diesen Wolkenfetzen ein Wolkenbild  stricken, sie ineinander zur Fabel flechten, wie eben diesmal auch. Was trieb mich in dieses Hirngespinst? versuche ich meinen bizarren Traum zu deuten. Freiheitsdrang, Abenteuerlust, Heimweh?
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Ich kannte Kurt Haberthür seit Kindsbeinen. Wie er betonte, sei er kein Ingenieur, nur ein ingeniöser Mechaniker. Er hatte eine Autoreparaturwerkstatt in Basel. Aber am liebsten bastelte er an kuriosen Fahrgestellen, die er mit Motoren ausrüstete: ein Liegestuhl, der sich nach der Sonne richtet und ihr auf dem Rasen folgt, ein Gerät, das Tennisbälle einsammelt, ein Robotstaubsauger, der Treppen erklimmt. Seiner Erfinderlust war keine Grenze gesetzt.
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„Schau dir das an“, lud er mich an einem Sonntagnachmittag in seinen geräumigen Gartenschuppen ein. „Mein Hangar“, zog er die Doppeltüre auseinander. „Ein Kleinstflugzeug“, erklärte er. „Und es fliegt“, versicherte er mir. Der Motor war nicht grösser als bei den einst beliebten Velosolex, nur viel leichter und ein bisschen stärker. Genau hinter dem Propeller hing eine Art „Maultasche“ als Treibstoffbehälter, kaum grösser als eine „Znünitasche“ (Imbisstasche).
 
„Der Treibstoff kostet nichts“, erfuhr ich, „ist bloss gefilterte Jauche.“ Der Pilotensitz glich einem altmodischen Traktorsitz, war aber aus Plastik gepresst – „eine Spezialanfertigung“, wie er mir erklärte. Kurt entfaltete die falterartigen Flügel, die an Bambusstäben befestigt waren. „Dieses Material ist unverwüstlich und bleibt dank der Sattelschmiere (bei jedem Sattler beziehbar) geschmeidig“. Die Tragfläche glitzerte wie Silberpapier, „ist aber federleicht und unzerreissbar“. Zwischen den beiden Flügeln war der Steuerknüppel verankert. „So geht es hoch, so tief“, zog Kurt ihn hoch und tief, „und so links und rechts“, drückte er ihn von einer Seite zur anderen.
 
„Und wie startest du den Motor?“ fragte ich. „Nach dem Rasenmäherprinzip“, grinste er, „etwas, das selbst du als Nuss begreifen und bedienen kannst“, zog er an der Startschnur. „Nur musst du zuvor diesen Hebel auf ‚Neutral‘ stellen, sonst fliegt das Ding von allein weg.“  Ein „Güllengestank“ (Jauchegestank) entströmte dem Auspuff. Nein, ein wunderherrlicher Duft für mich, der Kindheitserinnerungen heraufbeschwor.
 
Er klappte die Flügel zusammen und hisste das Miniaturflugzeug mit einer Hand in seinen Autoanhänger. „Jetzt gehen wir fliegen!“ Er setzte sich ans Steuer und ich mich neben ihn. „Lieber du als ich!“ meinte ich heiter und ahnungslos.
 
Innert 20 Minuten erreichten wir eine frisch gemähte Wiese an einem Abhang. „Ich mache es dir zuerst einmal vor. Du musst zuerst wie auf einem Velo trampeln. Aber an einem Abhang brauchst du nur ein bisschen nachhelfen.“ Ich folgte seinen Anweisungen und vergewisserte mich, dass der Schalthebel auf neutral gestellt war. „Jetzt drücke 4 bis 5 Mal auf den Gummiknopf hier“, forderte er mich auf, „ damit der Sprit in die Leitung kommt.“
„Jauche“, verbesserte ich ihn, und tat wie geheissen. Ich zog an der Stahlschnur und sofort umhüllte mich herrlicher Jaucheduft – und weg war Kurt. Er flog nicht auf, sondern in die Luft, drehte einige Schleifen und landete wieder neben mir. Ich bildete mir ein, dass ich nur sein Assistent sei, um das Zeug in Gang zu bringen und lobte seine Flugkunst.
*
„Jetzt kommst du dran!“ sagte Kurt gebieterisch und entstieg dem Sattel. „Nein“, sagte ich entschieden. „Bitte sage Ja“, beharrte er. „Keineswegs“, blieb ich halsstarrig. Nach altem Kinderritual, ging es lange zwischen „Ja“ und „Nein“ hin und her. Bitte, mir zuliebe … „sei kein Feigling“ … „ ich will dir ja nur einen Geburtstagswunsch erfüllen“ … Kurt gewann mit dem Hinweis, dass ich ja wisse, wie man ein Segelflugzeug fliegt. Und dieses Ding sei viel einfacher zu handhaben.
 
So sass ich in der „Fliegenfalle“. Er wiederholte die Instruktionen. „Nur den Steuerknüppel sanft und zärtlich wie eine Frau behandeln!“
*
Ich habe diesen 1. „Ausflug“ und auch den 2. überlebt, was dieses Blog bezeugt. Gleichentags gegen Abend stellte er das Flugzeug bei der Rheinschanze betriebsbereit auf die Räder. Mir war furchtbar bange, aber ein Feigling wollte ich nicht sein. Der Flugplan zu einem Ort in der Nähe von Saignelégier war abgesteckt, der Landeplatz in der Nähe des Hotels „Au Soleil“ bestimmt. „Sei kein Spielverderber“, sprach er auf mich ein. „Der Navigator bringt dich spielend dorthin, und ich bleibe in Funkverbindung mit dir. So kann dir rein gar nichts passieren. Nach der Landung wirst du abgeholt“, versprach er hoch und heilig.
 
„Aber du hast ja keine Flugbewilligung“, wandte ich hoffnungsvoll ein.
 
„Braucht es nicht, solange du nicht unter, sondern über die Mittlere Brücke fliegst und dem ,Käppelijoch’ auf der Mitte ausweichst. Dann fliegst du dem Rhein entlang bis Augusta Raurica und schwenkst Richtung Reinach BL ab und fliegst dann der Birs entlang bis nach Delémont. Der Rest ist Kinderspiel, solange du über den Tannenwipfeln fliegst.“
 
Der Motor sprang an. Ich sass im Sattel. Er gab dem Flugzeug einen Schubs. „Jetzt den Knüppel hochziehen und weiterhin hochhalten bis du genügend Höhe gewonnen hast.“ Welch ein Hochgefühl! Ich flog wie ein Vogel und alle meine Angst war verflogen. Ich folgte dem Navigator aufs Wort: „Jetzt abbiegen – rechts – mehr – geradeaus – immer gerade aus – jetzt dem Verlauf der Birs folgen – Delémont …“ Aber dann verlor mein Navigator die Stimme und ich die Route und meine Ruhe. „Ich weiss, wo du bist“, beruhigte mich Kurt über den Funk, „aber du musst dich vom Hang weghalten!“
„Aber zuerst muss ich die Bergkuppe überqueren“, jammerte ich.
 
Um Himmels willen vermeide die Tannenwipfel“, schrie er aufgeregt. „Nicht Zick-Zack fliegen!“
Plötzlich breitete sich das Plateau der Franches-Montagnes (Freiberge) weit unter mir aus. Mir wurde schwindlig. Zum Glück hatte mich der Navigator wieder aufgefangen. „Den Knüppel senken – mehr – noch mehr – und jetzt so halten – schnurgerade weiter – der Höhenmesser schaltete sich ein – 50 – 40 – 30 – 20 Meter – jetzt …“ Ich landete keineswegs sanft auf einem Stoppelfeld. „Wie kriege ich das Ding zum Halten“, schrie ich verzweifelt.
 
„Verdammt, das habe ich vergessen dir zu sagen: Du hast eine Rücktrittsbremse wie beim Militärvelo.“
*
Nun hatte ich ausgeträumt und fragte mich nachträglich, ob ich wirklich abgeholt worden bin. Schliesslich war es mein Geburtstag, und ein gutes Essen hätte ich mehr als verdient nach dieser Strapaze.
 
Das nächste Mal werde ich im Auto in die Freiberge fahren – auf der Suche nach dem Hotel „Au Soleil“. Ich kenne die Juragegend sehr gut, denn ich hatte einst innerhalb eines Projekts für das „Bureau du Développement Economique“ gearbeitet und dabei die Gelegenheit gehabt, diesen herrlichen Kanton zu durchstreifen. Haben mich eventuell die anmutigen Jura-Blogs von Walter Hess zu dieser sonderbaren Eskapade verleitet? Ich träume jetzt davon auf Wanderwegen den Jura zu durchschweifen, zusammen mit Lily. Sie hat mir gesagt, dass ich in jener Nacht viel im Bett gestrampelt habe.
 
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